Christine Boy

Sichelland


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uns einen trinken gehen.“

      „Da hast du schlechte Karten, der Wirt des 'Rebstocks' liegt bereits im tiefsten Schlaf. Sehr beneidenswert.“

      „Und wo willst du hin mitten in der Nacht? Doch nicht nach Elmenfall? Du brauchst wenigstens zwei Tage für diese Strecke.“

      „Lass das meine Sorge sein. Wenn du eine Unterkunft für die Nacht benötigst, kann ich den Wirt für dich wecken, aber er wird dir sicher keinen Wein mehr ausschenken, auch wenn du noch so gut zahlst.“

      Algar zuckte die Achseln.

      „Ich brauche kein Nachtlager, ich bin nicht so anspruchsvoll wie andere und gebe mich auch mit Gras und Moos zufrieden.“

      „Das wiederum sieht dir gar nicht ähnlich. Dass du nicht anspruchsvoll bist, meine ich. Gut, dann will ich den Boten Logs nicht länger aufhalten und weiter meines Weges ziehen. Oder kann ich noch etwas für dich tun?“

      „Du bist nicht gerade höflich, Menrir. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du willst mich wieder loswerden. Warum nicht ein freundliches Wort zum Sohn deines einst besten Freundes?“

      „Weil eben dieser Sohn meinen – nicht nur einst – besten Freund tief enttäuscht und verletzt hat. Und weil du mir zu eingebildet bist, Algar, das sage ich dir ganz offen. Ich respektiere Logs Befehle und Wünsche. Aber ich unterstehe ihnen nicht, vergiss das nicht. Und nun lass mich bitte gehen, ich habe noch einen weiten Weg vor mir.“

      Widerstrebend lenkte Algar sein Pferd einige Meter zur Seite, so dass Menrir ungehindert auf die Straße hinaustreten konnte.

      „Wir sehen uns noch, alter Heiler, und dann werden wir uns doch noch einmal unterhalten!“ rief der Bote Menrir halblaut hinterher, als dieser in Richtung Marktplatz weiterging. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, ihm zu Fuß zu folgen, doch dann fiel ihm wieder der Goldschmied ein, der sicher noch wach war. Sollte er ihn im Namen Logs um ein Gespräch oder zumindest um einen Becher Wein bitten? Diese Leute im Mittelland waren eigentlich sehr gastfreundlich, doch Algar war sich nicht sicher, ob das auch für die Nachtstunde galt.

      Mit einem strahlenden Lächeln schüttelte er sich die braunen Locken aus der Stirn und bedauerte, dass kein junges Mädchen hier war, um ihm bewundernde Blicke zuzuwerfen. Er musste sich mit seinem Spiegelbild in einer braunen Pfütze am Wegesrand zufriedengeben und stellte sich vor, wie er spätestens am nächsten Abend wieder der Mittelpunkt aller Feste sein würde, die in Goriol so häufig stattfanden.

      Für diese Nacht jedoch ließ er es gut sein und drehte der Stadt wieder den Rücken zu, um sich auf den Wiesen, die sich vor ihm erstreckten, einen geeigneten Ruheplatz zu suchen.

      Immer noch ein wenig verärgert zog Menrir das Tempo an.

      „Zwei Tage bis Elmenfall...“ grummelte er vor sich hin. „Was bildet dieser junge Kerl sich eigentlich ein? Noch bevor die Sonne das nächste Mal untergeht, sitze ich zu Hause in meiner Küche bei stark gebrühtem Tee und einer Pfeife Belkraut. Zwei Tage... er hält mich wohl auch für einen Greis, der kaum noch kriechen kann...“ Noch bevor der Morgen graute, würde Goriol hinter dem Horizont verschwunden sein und am Nachmittag würde er Elmenfall vor sich sehen. Natürlich nicht, wenn er die gesamte Strecke zu Fuß bewältigte, aber spätestens bei Sonnenaufgang waren wieder Händlerwagen unterwegs und beinahe jeder Reisende war froh um die Begleitung eines altehrwürdigen Heilers. Es würde ein Leichtes sein, sich einen Platz auf einem der Karren zu sichern.

      Akosh hatte das Gespräch zwischen Menrir und Algar stillschweigend hinter der Tür verfolgt. Er hatte schon mit dem Auftauchen des Boten gerechnet, wenn auch nicht ganz so schnell. Dass er gerade in dem Moment vorbeigeritten war, da Menrir nach Elmenfall aufbrechen wollte, war schlicht und ergreifend Pech gewesen, doch der Goldschmied hoffte, dass man diesem späten Besuch keine Bedeutung beimessen würde.

      Was für ein Tag. Erst der entsetzliche Mord an Agub, dann Lennys' Ankündigungen für die nahe Zukunft, die langen Gespräche mit Menrir und jetzt auch noch dieser Spion aus Manatara. Ein leichter Kopfschmerz machte sich bemerkbar, was Akosh aber nicht weiter verwunderte. Er ertrug Stress, Anstrengung, Schlafentzug oder auch Hunger und Schmerzen ohne Weiteres. Doch ständige Gesellschaft, auch wenn es heute meist nur der alte Heiler gewesen war, zehrten an seinen Kräften. Er war gern allein. Wie gut verstand er Lennys, die auch am liebsten auf andere verzichtete und ihre Wege ohne Begleitung ging.

      Sobald der neue Tag anbrach, wollte er Kontakt zu den anderen aufnehmen. Es würde nicht leicht werden, doch er hatte Erfahrung darin, geheime Botschaften so zu übermitteln, dass niemand sonst davon Wind bekam. Vielleicht würde Lennys schon morgen zurückkommen, dann war es gut, wenn alles vorbereitet war. Das Kellergewölbe wartete schon längst auf ein neues Treffen und an keinem Sichelländer waren die jüngsten Nachrichten spurlos vorbeigegangen. Sie würden alle kommen und sie würde nicht auf sich warten lassen. Das allerdings würde Lennys auch nicht dulden.

      Er ging in den Wohnraum zurück und ließ sich seufzend auf einem Lehnstuhl nieder. Schwere Zeiten standen bevor und er versuchte, nicht daran zu denken, wie er damit umgehen würde. Trotz seiner Erfahrungen, trotz der Vorzeichen und Warnungen fühlte er sich nicht für das gewappnet, was auf ihn zukam. Etwas fehlte und nach allem, was er aus Lennys' knappen Worten entnehmen konnte, war es ihr genauso gegangen. Und dieses Etwas hatte sich geändert.

      Noch konnte er es nicht so recht glauben. Ja, sie war in Valahir gewesen, da hatte Menrir sich verplappert. Und sein Gesichtsausdruck bei diesem Ausrutscher hatte mehr verraten als tausend Worte. Doch wenn Lennys in die Berge gegangen war, wenn sie wirklich in dieser Höhle gewesen war, dann war sie sich dessen, was vor ihnen allen lag, bereits viel sicherer als er selbst.

      Und dann wiederum bestand überhaupt kein Zweifel daran, dass er das seinige dazu tun musste.

      Es waren nicht die Berge, die seinen Schatz bewachten, doch es kostete dennoch Überwindung, dorthin zu gehen. Jeder Schritt würde ihm schwerfallen, denn einmal dort gewesen, gäbe es kein Zurück mehr. Gab es das überhaupt noch? Lennys hatte sich entschieden. Sie hatte ihr Eigentum zurückgeholt. Hatte er denn jetzt noch ein Recht, das seine zu verleugnen?

      „Ich werde auch gehen. Ich werde ihn holen. Sobald du wieder hier warst, Lennys, sobald du zu unserer Gemeinschaft gesprochen hast, werde ich es dir gleich tun und dann werde auch ich bereit sein.“

      Erst als er die Worte laut aussprach, begann er auch, an sie zu glauben.

      Äste und Ranken peitschten ihr ins Gesicht und Dornen zerrissen die Haut an ihren Armen und Beinen. In dunkelgrünen Schlieren raste der Wald vorbei und sie rannte so schnell, dass sie schon beinahe glaubte, zu fliegen. Noch immer waren sie hinter ihr, sie konnte sie hören, sie spüren... fast schon riechen. Wie sie es hasste, fortzulaufen. Ein Akt der Feigheit und des Verrats, doch noch durfte sie dem Tod nicht entgegensehen, noch musste sie überleben, um das Leben der anderen Willen. Jeder Atemzug brannte und ihr eigenes Blut rann in warmen Spuren die Haut hinab, doch Schmerzen waren für sie noch nie eine Beeinträchtigung gewesen. Sie sog sie in sich auf, schöpfte aus ihnen neue Kraft. Kraft, die ihr in diesen Augenblicken immer mehr verloren ging.

      Gleich, gleich war der Wald zu Ende, gleich begann das offene Land, gleich war sie ohne Deckung, doch ebenso auch ihre Feinde. Dann würde sie sie auch sehen, aber auch gesehen werden, wie sie davonrannte wie ein fliehendes Reh. Wie Beute.

      Sie konnte die Rufe hinter sich kaum wahrnehmen, hörte nur ihr eigenes Blut rauschen, ihren eigenen schnellen Atem, ihre Schritte auf Laub und Zweigen... und dazwischen die Rufe der Häscher... was riefen sie? Galt es ihr? Oder...?

      Als sie den gewaltigen Schatten, der unmittelbar vor ihr auftauchte, bemerkte, war es schon zu spät. Wie zum Gruß hob er den Arm, doch es folgte keine Geste des Willkommens. Nur ein dröhnender, dumpfer Schmerz, der sie glauben ließ, ihr Kopf würde an der Schläfe entlang zerbersten, ...und dann... vollkommene Dunkelheit.

      Lennys fuhr hoch. Ihr Herz raste. Sie hasste diesen Traum. Hier, tief im Wald, wo alles nach Vergangenheit roch, schien er noch lebendiger als sonst.

      Eigentlich hatte sie nicht schlafen wollen, doch die Ruhe war zu verlockend gewesen.