Christine Boy

Sichelland


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tue ich hier eigentlich?' dachte sie dann. 'Ich trauere einer kurzen Zeit der Abwechslung hinterher, breche in die Bibliothek ein um meine Neugier zu befriedigen und werde meine Oberin anlügen, um eine Herrin zu schützen, die mich in dem Moment vergessen hat, da sie mir den Rücken zukehrt.'

      Menrir hätte ihr mehr sagen können, doch der war weit weg, in Goriol oder auch zu Hause in Elmenfall. Und sie wollte ihn auch nicht fragen. Sie wollte im Grunde mit überhaupt niemandem darüber sprechen, aber gleichzeitig sehnte sie sich nach der Antwort auf all ihre stummen Fragen. Der Bibliothekar wusste vielleicht auch mehr, doch er würde schon toben, wenn er erfuhr, dass sich jemand Zugang zu den geheimen Kammern verschafft hatte. Zudem existierte das Thema „Großer Krieg“ innerhalb der Tempelmauern praktisch nicht. In einem einzigen Buch, nämlich der „Geschichte des ewigen Kontinents Sacua“ war diese Zeit erwähnt und dieses Werk war auch gleichzeitig die einzige Quelle von Saras bisherigen Kenntnissen über Cycalas gewesen. Was aber stand schon darin? Dass es wegen eines nicht zustandegekommenen Handels zwischen dem Sichelland und einem mittlerweile zerfallenen kleinen Reich im Norden zu einem großen Streit gekommen war, der auf beiden Seiten zu vielen Opfern geführt hatte. Die Cycala galten jetzt als gern gesehene, aber seltene Gäste südlich der Bergkette und sie waren vorsichtig und misstrauisch, was aufgrund der durchlittenen Kämpfe nur allzu verständlich war. Diese ungenaue Beschreibung war zwar mit einigen Namen und Details über die vorangegangene Handelsbeziehung ausgeschmückt worden, doch eben diese letzten Tage und Wochen vor und nach Satons Tod wurden vollständig verschwiegen.

      'Es hat keinen Sinn, weiter darüber nachzudenken'. Sara tastete nach der kleinen Ölflasche auf einem Ecktisch und füllte im Dunkeln die Lampe nach. Sie spürte das warme Öl über ihre Hand laufen als sie ein wenig davon verschüttete und unwillkürlich dachte sie an eine blutende Wunde, die sich ähnlich anfühlen musste, wenn man im Kampf keinen Schmerz spürt.

      Wie viel wusste Lennys? Zur Zeit des Krieges war sie noch recht jung gewesen, vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Zu jung um in den Schlachten des Drei-Morgen-Waldes zu kämpfen, doch alt genug um dort oben im Sichelland mitzubekommen, was vor sich ging. Und Akosh? Was war mit ihm? Er konnte durchaus hiergewesen sein, während Gromuit sein Tagebuch schrieb. Vielleicht hatte er sogar an seiner Seite gekämpft, bevor er sich als Goldschmied in Goriol niedergelassen hatte.

      „Es geht mich nichts an!“ wies die Novizin sich selbst halblaut zurecht, da ihre Gedanken schon wieder abschweiften. Es gab dringlichere Überlegungen, so etwa, wie sie möglichst lange vor Beema verbergen konnte, dass Lennys schon längst nicht mehr im Tempel war. Je weniger Menschen davon wussten, dass die Gesandte Cycalas' allein durch die Gegend streifte, desto besser.

      Und wenn sie angegriffen wurde? Wenn man sie in einen Hinterhalt lockte? Wenn sie verletzt wurde? Dann würde niemand nach ihr suchen, denn jeder vermutete sie noch in der sicheren Obhut des Nebeltempels. Menrir und Akosh schienen daran gewöhnt zu sein, dass sich Lennys nur von Zeit zu Zeit bei ihnen blicken ließ. Wie lange würde es dauern, bis sie sich ernsthafte Sorgen und Gedanken um sie machten? Und falls wirklich etwas geschah... würde sie, Sara, jemals davon erfahren?

      Vom Hof her drangen Geräusche durch das Fenster. Sara musste nicht nachsehen, sie wusste, dass es die beiden eingeteilten Vorsteherinnen waren, die um diese Zeit schon alles für die Morgenzeremonie vorbereiteten, um anschließend neben den Opfergaben zu wachen. Es erschien Sara lächerlich, ja geradezu grotesk, dass sie jetzt wieder ähnliche Aufgaben erfüllen musste. Diese drei kurzen Tage hatten ihr ein anderes Leben gezeigt, fernab von den Protokollen des Glaubens und den strengen Regeln der Oberin Beema. Eine kleine Welt, nicht mehr als ein Staubkorn voller Lügen und Ignoranz, das war der Tempel plötzlich geworden. Unbedeutend, schmutzig und naiv. Und doch war er ihr einziges Zuhause und die Zukunft darin, so einsam und arm sie auch sein mochte, war die einzige, die sie hatte.

      Draußen gab es Nichts und Niemanden für sie. Keine Familie, keine Freunde. Keine Heimat, kein Geld. Sie konnte ein paar Heiltränke und Pasten anrühren und kleinere Wunden und Krankheiten behandeln, doch niemand würde sich ihr anvertrauen, war sie doch nicht viel mehr als eine dahergelaufene Magd. Eine denkbar bequeme Lösung für Beema, zu wissen, dass die von ihr so verachtete Sara ein Leben lang diesen Mauern und ihren Bewohnern dienen würde. Weil sie es musste. Weil sie in der Schuld dieser Gemeinschaft stand, die sie aufgefangen und versorgt hatte, als sie als kleines Kind hilflos ausgesetzt worden war.

      Eine lebenslange Schuld und eine lebenslange Pflicht, der sie sich fügte und unterstellte, weil sie keine Wahl hatte.

      'Weil ich bisher keine Wahl hatte...' verbesserte sie sich dann in Gedanken und drehte die Lampe wieder aus. Wie von selbst schob sie Gromuits Aufzeichnungen wieder unter den Umhang und verließ den Raum zum letzten Mal.

      Goriol bot kaum mehr als schwarze Schatten und graue Schemen, denn jetzt, weit nach Mitternacht, waren alle Lampen gelöscht. Selbst die Fenster des „Rebstocks“ waren finster und blind, als hätten sie vergessen, wie sehr dahinter manchmal das Leben tobte. Niemand begrüßte den fremden Reiter, der von Süden her in der Stadt Einzug hielt, doch ausnahmsweise war er dankbar über die Ruhe. Er wollte sich nur ein wenig umsehen, Augen und Ohren offen halten und dann wieder ein Lager in den grünen Hügeln aufschlagen, um morgen erneut und standesgemäß seinem Willkommen entgegenzusehen. Die ersten Abzweigungen ließ er östlich von sich liegen, die Straßen waren zu groß, zu licht, er dort zu auffällig. Es war nicht sein erster Besuch in der Stadt der Wanderer, ganz im Gegenteil. Inzwischen fand er sich dort auch im Dunkeln ebenso gut zurecht wie in seinem Heimatort und er wusste, dass der Weg nur wenige Meter weiter in eine schmale Gasse mündete, in der jetzt gewiss kein Neugieriger aus dem Fenster spähen würde.

      Ein schmuckes und auffallend gepflegtes Häuschen markierte die Kreuzung. Es war ihm schon häufiger aufgefallen, passte es doch so gar nicht in diese eher ärmliche Gegend. Wohnhaus und zugleich Werkstatt eines Goldschmieds, so hieß es. Der Reiter hatte den Eigentümer nie getroffen, er hatte aber auch nicht viel für Schmuck oder ähnlichen Zierrat übrig.

      Gerade als er die ersten Zaunpfosten des hübschen Vorgartens erreichte, hörte er ein Geräusch von der Tür des Anwesens. Jemand kam heraus.

      Es war ein älterer Mann, mager und nicht besonders groß. Er hüstelte kurz und gab sich sichtlich Mühe, die Pforte besonders leise zu schließen, doch als er die schwarze Silhouette des Reiters erblickte, rief er viel lauter als nötig durch den verbliebenen Türspalt:

      „Und gute Besserung, dein Magen wird sich schnell wieder erholen!“

      Nun wandte sich der Alte wieder dem Fremden auf der Straße zu, der die Szene amüsiert beobachtet hatte.

      „Zu so später Stunde noch Krankenbesuche, Menrir? Oder sollte ich eher sagen 'zu so früher Stunde'?“ fragte der Reiter lachend.

      „Oh... Algar... ich hörte schon, dass du in der Gegend bist. Ja, mein Freund hier hat wohl etwas Falsches gegessen, aber es ist nur halb so schlimm.“

      Algar schüttelte den Kopf. „Und deswegen weckst du gleich die ganze Nachbarschaft auf? Merkwürdige Methoden, aber ich kann hier wohl nicht die gleichen Manieren erwarten wie im Südreich.“ Es klang ein wenig überheblich.

      Menrir schlurfte zum Gartentor.

      „Und warum bist du dann hier, wenn wir dir doch zu ungehobelt sind?“

      „Nun sei doch nicht gleich beleidigt, ich wollte dich nur ein wenig necken!“ lenkte Algar ein. „Und um auf deine Frage zu antworten: König Log schickt mich, um nach dem Rechten zu sehen. Anscheinend kam es im Mittelland in letzter Zeit zu einigen unschönen Zwischenfällen...“

      „Davon weiß ich nichts. Und selbst, wenn es so wäre, so wüsste ich nicht, was Log das angeht. Er herrscht über den Süden“

      „Du bist sehr abweisend, alter Freund. Und es wundert mich doch sehr, wie du über den König sprichst. Man könnte fast meinen, du hättest dich von ihm abgewandt.“

      „Wir ... du und ich ... wir waren nie Freunde, Algar, nur flüchtige Bekannte. Und ehrlich gesagt, hätte ich nicht geglaubt, dir überhaupt noch einmal gegenüber zu stehen, seit du damals aus Mongetal fortgegangen bist.“

      „Du