Christine Boy

Sichelland


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dass es gelogen war. Der Wunsch nach einem Tag der Abgeschiedenheit in diesem Hause war ebenso verflogen wie der gerade erlebte Zorn und jetzt wollte sie nur noch nach draußen, um das Leben wieder zu spüren. Irgendetwas stimmte nicht. Innerhalb von Sekunden änderten sich ihre Stimmung und ihre Wünsche, mal war sie gleichgültig, dann wieder leicht reizbar. Und dieses Auf und Ab irritierte und ermüdete sie zusehends.

      Der Goldschmied hingegen war plötzlich nachdenklich geworden.

      „Lennys, ich habe mich entschieden, in die Sümpfe zu gehen. Ich werde das Gleiche tun wie du.“

      Sie nickte nur.

      „Aber....“ Akosh zögerte.

      „Aber?“

      „Ich hoffe nur, dass es bei mir nicht genauso schnell geht wie bei dir.“

      „Wovon sprichst du?“

      „Beobachte dich selbst. Du kannst nicht mehr lange warten. Du hast etwas in dir geweckt, dass jetzt keine Ruhe mehr gibt. Vielleicht war es noch zu früh dafür.“

      „Ich habe mich unter Kontrolle.“ sagte Lennys kalt.

      „Wie lange noch?“

      „Solange es sein muss.“

      „Er ist stärker als meiner. Und ich weiß, wie viel Macht der Meinige über mich hat. Wie viel Kraft hast du?“

      Lennys funkelte ihn an.

      „Du wagst es, mich nach Kraft oder Schwäche zu fragen? Wer bist du? Ich beherrsche ihn, nicht er mich! Es ist nur ein Gegenstand! Nichts weiter! Ich lasse mich nicht so zum Aberglauben verleiten wie du, Akosh!“

      „Warum hast du ihn dann dorthin gebracht, weit weg von dir? Hast du nicht befürchtet, er könne dich rufen und dein Verlangen wecken?“

      „Es war nur ein Symbol! Die Entfernung war nur ein Bild für die Distanz zur Vergangenheit! Nichts weiter! Wir werden nicht mehr davon reden!“

      „Ganz wie du meinst.“ erwiderte Akosh ergeben und sah Lennys unschlüssig an. „Die ersten Händler werden bald zum Marktplatz kommen, ich könnte Utu und Enwyla gut abpassen, wenn ich gleich hinübergehe...“

      „Meinetwegen. Ich werde noch einmal in den Wald gehen, vielleicht in die nordwestliche Richtung. Sie können sich nicht ewig verstecken, es muss noch mehr Spuren geben.“

      „Soll dich jemand begleiten?“

      „Nein. Ich bin bald zurück.“

      Lennys hatte den Weg nach Nordwesten nicht ganz grundlos gewählt. Der Wald war hier dichter, wüster, undurchdringlicher als im Osten, denn hier wurde nur selten das Sonnenlicht durch Nebel verschluckt, so dass auch auf dem Boden zahllose Farne, Sträucher und Ranken vor sich hin wucherten. Das unwegsame Gelände hielt viele Wanderer ab und die Händler nutzten lieber die breite Straße, die am Südrand des Drei-Morgen-Waldes entlangführte. Auch die Banditen wussten, dass hier wenig zu holen war und so war diese Region beinahe ideal für solche, die sich gerne verborgen hielten und mit den Wenigen, die sich doch hierher verirrten, leicht fertig wurden.

      Die Waldbrücke lag weiter östlich, doch Lennys scheute das Wasser nicht und watete durch eine seichte Stelle des Bachs, um anschließend die steile Böschung hinaufzuklettern, die zu einer Anhöhe mitten im Forst führte. Hier stand sie gut sichtbar für jeden, der darauf aus war, ihr Volk zu jagen und zu vernichten, aber nichts geschah. Kein plötzlicher Angriff, keine unvorsichtige Bewegung im Hintergrund, keine Falle.

      Sie setzte sich auf einen Felsbrocken am Rand der Anhöhe und wartete. Wer auch immer sich in diesem Wald herumtrieb, würde sie hier irgendwann sehen. Und wer sie töten wollte, würde es hier und jetzt ganz sicher versuchen. Und dann würde sie sehen, ob sie richtig lag, ob es wirklich die waren, die sie erahnte, und ob sie tatsächlich recht daran getan hatte, nach Valahir zu gehen.

      Gegen Mittag begann es zu regnen und noch immer saß die Sichelländerin beinahe unbeweglich auf dem Fels. Geduld war eine Tugend, mit der die Cycala nicht gerade besonders reich ausgestattet war, doch es gab Ausnahmen. Sie hasste Begriffsstutzigkeit und Menschen, die sich dumm anstellten, sie erklärte nicht gerne und erwartete vollste Aufmerksamkeit und Konzentration von allen, mit denen sie sich umgab. Und sie bevorzugte immer den direkten Weg, um etwas zu erreichen, duldete keine Verspätungen und nahm Verzögerungen nur dann in Kauf, wenn sie absolut unvermeidbar waren. Doch hier, auf die vermeintlichen Jäger wartend, die zu Opfern werden würden, hier konnte sie stunden- wenn nicht sogar tagelang ausharren.

      Und zumindest die Stunden vergingen allmählich.

      'Kommt und holt mich...' dachte sie immer wieder. 'Zwingt mich nicht, euch zu suchen, denn dann werde ich keine Gnade mehr kennen... kommt zu mir...'. Ihre Hand strich über die glatt polierte Sichelklinge an ihrem Gürtel, um dann wie zufällig über dem Gegenstand unter ihrem Umhang zu ruhen. Plötzlich – als wäre sie erneut aus einem Traum erwacht – wurde ihr klar, was sie eigentlich tat. Sie war hier, ein dankbares Opfer, die perfekte Beute und sie präsentierte sich genau so. Weil es der einfachste, der schnellste Weg war, ihr eigenes Verlangen zu stillen. Die ganze Zeit hatte es gar keine Rolle gespielt, ob sie starb oder nicht, sie hatte nur einen Kampf herbeigesehnt, ohne dessen Ende Bedeutung beizumessen. Hatte Menrir doch Recht gehabt? War sie zu schwach für die Macht, die sie erneut heraufbeschworen hatte? Sie hatte leichtsinnig mit ihrem Leben gespielt und diesmal konnte sie keinem Rum und keiner Wut die Schuld dafür geben.

      Mehr überrascht als erschrocken über sich selbst, ging sie den Hügel wieder hinab und versuchte, sich auf ihre Umwelt zu konzentrieren. Sie konnte und wollte sich jetzt keine weiteren Aussetzer mehr erlauben und ahnte, dass es nur einen Weg gab, sich selbst wieder in den Griff zu bekommen. Indem sie der Begierde endlich nachgab. Aber nicht wie gerade eben, dass sie blind für Gefahr wurde und jegliche Vernunft ausgeschaltet war, sondern geplant, berechnend, sicher.

      Akoshs Keller war beinahe ebenso groß wie der Grundriss des darüber liegenden Hauses. Seine steinernen Wände, die niedrige Decke und das Licht der Ölfackeln verliehen ihm den Eindruck eines Kerkers, gleichzeitig wirkte er aber auch mit seinen kostbaren Teppichen, den dunklen geschnitzten Stühlen und dem gewaltigen polierten Tisch geradezu feierlich und elegant. An die zwanzig schwarz gekleidete Menschen jeden Alters und Geschlechts hatten sich versammelt und hörten die Worte des Goldschmieds. Er sprach knapp und nüchtern und seine Anweisungen waren klar und duldeten keine Fragen oder gar Widersprüche. Dann betrat Lennys den Raum.

      Sie war, neben Akosh, die einzige, die aus dem oberen Stockwerk hinuntergestiegen kam, alle anderen hatten den geheimen Ort durch einen engen Tunnel erreicht, der in einer verborgenen Nische des Kellers endete. Seinen Einstieg zu finden, war ohne genaues Wissen nahezu unmöglich.

      Schweigen erfüllte das Gewölbe und während Lennys an den Umstehenden vorbei ging, neigten diese leicht den Kopf. Akosh lächelte zufrieden.

      Am Ende der Tafel nahm Lennys Platz. Sie wartete, bis alle es ihr gleichgetan hatten und nickte dann Akosh zu, der die bereitstehenden Kelche mit dem rubinroten Sijak füllte. Dann sprach sie:

      „Ich danke euch, dass ihr so schnell gekommen seid und ich weiß um das Risiko, das dieses Treffen mit sich bringt. Ihr wiederum wisst, weshalb ich euch gerufen habe und sicher erwartet keiner beruhigende Lügen, sondern nichts anderes als die Wahrheit von mir.“

      Neugierige Blicke wurden ausgetauscht, manche auch ein wenig ängstlich, andere wieder leuchtend und zuversichtlich.

      „Es gab viele Tote in den letzten Tagen und Wochen....“ fuhr Lennys an keinen Bestimmten gewandt fort. „Ich muss euch keine Namen und Orte mehr aufzählen, ihr kennt sie alle bereits. Agub war der Letzte, von dem wir wissen, dass er in die Hände der Verbrecher gefallen ist. Doch sein Tod brachte uns auch die letzte Betätigung dessen, was wir schon lange vermuteten. Die Barbaren aus Zrundir sind zurück und sie sind gekommen, um gegen uns einen aussichtslosen Krieg zu führen.“

      Niemand sagte ein Wort. Sie starrten nur Lennys an und diese sah in die Runde als wolle sie die Anwesenden zu einem Aufschrei herausforden. Doch die Mienen waren gefasst, die Blicke mutig und die Lippen bebten