Christine Boy

Sichelland


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      Das Land hier bietet zu wenig Deckung und Schutz und so warten wir jetzt, bis es vollkommen Nacht geworden ist, bevor wir wieder aufbrechen. Der junge Jul wird uns nicht zurückbegleiten, sondern versuchen, sich bis Valahir durchzuschlagen. Er hat seine Pflicht erfüllt.

      Unser Weg hingegen ist weniger vorgezeigt. Gahl ist ein gefährliches Pflaster, doch am Fluss entlang fehlen uns Verstecke und Deckungen. So werden wir ab heute in vier Trupps mit jeweils zehn bis fünfzehn Mann auf getrennten Wegen vorstoßen. Mit meinen einundsechzig Sommern zähle ich zu den Ältesten hier und Phio übertrug mir die Verantwortung über zwölf Kämpfer, die ich über die südlichste unserer ausgewählten Routen bis zum Wald von Goriol führen soll. Es ist mir eine Ehre, eine solch wichtige Rolle in diesem Kampf zu spielen, doch wünschte ich, Phio hätte diese Auszeichnung einem jüngeren und kräftigeren Mann übertragen.

      Die Sonne sinkt und in wenigen Stunden werde ich mit tiefgreifenden Entscheidungen auf mich allein gestellt sein.

      30. Tag des Neb

      Ich beneide Phio und die anderen, die nach Gahl oder in Richtung der Sümpfe aufgebrochen sind, nicht im Geringsten. Zwar kämpfen wir hier nicht gegen Feinde, sondern nur gegen Stechmücken, doch wenn das Schicksal es gut mit uns meint, werden wir den Waldrand zuerst erreichen. Am Westufer des Ben-Apu gehen wir entlang und wie ich schon befürchtet habe, ist das Gelände nicht für uns gemacht. Doch kommen wir Wenige jetzt schneller voran als die große Schar zuvor. Früher als erwartet haben wir heute morgen bereits die Stelle erreicht, an der sich die zwei Quellarme des Flusses zu dem einen großen Band vereinen, das den Kontinent über eine weite Entfernung in zwei Hälften teilt. Zwei oder drei Nächte müssen wir noch gehen, dann hat uns der Schutz der Bäume zurück.

      Meine Gruppe ist gut, stark und voller Tatendrang und Zuversicht. Ich will sie ihnen noch nicht nehmen. Es wäre vermessen, zu glauben, dass wir alle wohlbehalten nach Cycalas zurückkehren werden, doch für jeden, den wir hier verlieren, werden wir ein Vielfaches an Feinden in die Hölle schicken.

      Nun will ich noch ein wenig Kraft schöpfen, um dem gewachsen zu sein, was vor mir liegt.

      1. Tag des Wentril

      Ich glaube nicht, dass sie auf uns gewartet haben, das Aufeinandertreffen kam für beide Seiten zu überraschend. Cycalas bringt seit jeher die größten Kämpfer des Kontinents hervor, doch ein Hinterhalt und eine Übermacht an Gegnern können selbst einem Volk wie dem unseren Wunden beibringen.

      Eine Rotte stinkender Banditen kreiste uns von den Ebenen her ein, gerade als wir glaubten, in der Ferne die rettenden Baumwipfel des Waldes erkennen zu können. Wenngleich wir ihnen doch klar überlegen waren, so konnten wir doch nicht verhindern, dass zwei unserer Männer fielen. Ich schreibe dies, während der Rauch des Totenfeuers in meinen Augen brennt.

      Wir werden die Flammen schnell ersticken müssen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, doch solange ich ihnen diese letzte Ehre erweisen kann, werde ich es auch tun.

      Ungeheuerlich mag es klingen, doch fühlen wir uns jetzt nicht entmutigt oder kraftlos. Vielleicht liegt es am kostbaren Blut derer, die unsere Freunde erschlugen, um dann selbst unsere Klingen zu spüren. Blut ist mächtig, Blut stärkt und belebt. Doch es nimmt uns auch die Fähigkeit zu trauern, so dass wir unsere toten Kameraden ohne Tränen zurücklassen können. Nach dem heutigen Verlust ist der Kampfeswille stärker denn je. So denn Männer, reicht mir meinen Kelch, auf das auch kein Tropfen unseres Siegestrunks verlorengeht!

      2. Tag des Wentril

      Gestern war es mir nicht möglich, viel zu schreiben, zu aufgewühlt war ich nach dem Kampf und dem Genuss der Belohnung.

      Mit mir sind wir nur noch Elf, doch inzwischen ist allen klar geworden, dass auch wir nicht geschlossen nach Hause gehen werden. Noch vor Tagesanbruch überquerten wir den Ben-Apu dort, wo er den großen Wald berührt und befinden uns nun am ersten großen Ziel der Reise. Hier irgendwo sind sie, die anderen, die Cycala, die seit Wochen oder gar Monaten um ihre Ehre und ihr Leben kämpfen. Und die Cas, die neun Erwählten, die zu finden unser größter Wunsch ist. Wir werden ihnen beistehen und sie zurück geleiten, wenn der Sieg einmal unser ist.

      Niemand weiß, wo der Hohe ist. Shaj Saton will die Gräfin des Abschaums, Orjope, selbst richten und sicher hält er sich irgendwo südlich der Berge auf. Doch ist sein Versteck ein großes Geheimnis, denn nichts würde uns mehr schmerzen als der Verlust des Obersten Gebieters der Nacht. Manche glauben, er sei in der Mitte der Cas, die ihn mit ihrem Leben schützen. Andere denken, er hält sich verborgen, sei selbst für die Unseren kaum auszumachen und würde dann zuschlagen, wenn der Feind am unvorsichtigsten ist.

      Ich kenne Saton seit seiner Geburt, er versteckt sich nicht. Die Cas stehen ihm näher als irgendjemand sonst in unserem Lande und so glaube auch ich, dass er an ihrer Seite kämpft. Es ist ein gutes Gefühl, ihm so nahe zu sein.

      Heute werden wir nicht lange ruhen, sondern auch bei Tageslicht weiterwandern. So sehr wir uns auch den Schatten des Forstes ersehnt haben, so gefährlich ist es hier doch auch. Lange an einem Ort zu bleiben, würde wohl unseren Tod bedeuten, und so harren wir nur kurze Zeit aus, ohne Schlaf, der in diesen Zeiten ohnehin keine Wirkung zeigen würde.

      3. Tag des Wentril

      Der heutige Marsch hat uns dem Mondsee ein gutes Stück näher gebracht, doch die Kämpfe haben wieder das Leben eines unserer Gefährten gekostet. Insgesamt achtzehn Feinde fielen unter unseren Klingen und obgleich meist nur dumme, plump bewaffnete Bauern, verstehen einige von ihnen doch auch, ein Schwert zu halten. Wir haben sie nicht unterschätzt, aber ein Narr, der eine Waffe ohne Sinn und Verstand um sich schwingt, kann unter Umständen ebenso gefährlich sein, wie ein Meister des Säbels.

      Unsere Kelche waren mehr als einmal randvoll und unser Durst wächst mit seiner Befriedigung. Ich hoffe, am See auf die Gruppe zu treffen, die von Drom angeführt wird und deren Weg unserem am nächsten liegt.

      Hin und hergerissen zwischen Kämpfen, kostbaren Tropfen auf meinen Lippen, Gesprächen mit meinen Männern und der Wanderung durch diesen Forst, finde ich kaum Zeit für meine mir so wichtigen Zeilen. Mit dem Mondsee im Rücken wird es uns leichter fallen, uns zu verteidigen, so dass wir heute nacht dort im Wechsel ein wenig ausruhen können. Es spielt keine Rolle mehr, ob wir bei Tage oder in der Dunkelheit weiter marschieren, denn von nun an müssen wir nicht nur auf unsere Gegner achten, sondern auch wieder nach Freunden Ausschau halten.

      4. Tag des Wentril

      Wir sind nur noch Sieben. Drei weitere Tote zählen wir nach der Wanderung zum Mondsee in unseren Reihen, doch dies ist noch nicht das Schlimmste. So friedlich liegt der See vor uns und verschweigt den Unwissenden, was nur wenige Stunden vor unserer Ankunft geschehen sein muss. Ein einziger Bruder aus Droms Folgschaft hat den Angriff barbarischer Krieger überlebt und konnte uns schwer verletzt von der dunklen Stunde berichten. Was er sagt, wage ich kaum niederzuschreiben, doch will ich nicht den Eindruck erwecken, Angst zu spüren.

      Drom hat zusammen mit neun Kameraden den Mondsee erreicht, was wirklich anerkannt werden muss, hat er doch auf dem Weg hierher nur einen einzigen Gefährten verloren. Er erlaubte den Seinen, hier zu rasten, wie auch wir es vorhatten, und sehnte bereits das Treffen mit mir herbei. In einem vielleicht etwas unbedachten Moment, da die Wachen möglicherweise auch etwas unaufmerksam waren, griffen Unbekannte das Lager an. Es fällt mir schwer, dem Jungen alles zu glauben, was er im Fieberwahn angesichts seiner schweren Verletzungen berichtet. Er spricht von einer Übermacht, weit mehr als zwanzig Mann, und es waren keine einfachen Recken aus den Dörfern dieser Gegend. Sie trugen dicke Lederpanzer, waren groß und schwer und trugen gewaltige Kriegsäxte bei sich, mit denen sie das Blut unserer Freunde vergossen. Ihre Augen seien stechend grün, die Hände und Gesichter vernarbt und teilweise missgestaltet, so sagt er, und trotz seines Fieberwahns brachte der Verletzte einen abgrundtiefen Abscheu vor diesen Kreaturen zum Ausdruck. Wäre er nicht halbtot unter dem Leichnam eines Freundes verborgen gewesen, so der Junge, so könnte er jetzt nicht mehr von dem berichten, dessen Zeuge er geworden war.

      Ich weiß nicht, was ich von seinen Worten halten soll, doch gewiss ist, dass wir auf der Hut sein müssen. Die Feinde sind wohl weiter gezogen in Richtung