Nina Heick

REISE OHNE ZIEL


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demnach schon zur Verfügung stünden und er eigentlich nur noch für die Führung zu sorgen hätte. Da war er ja naiver als gedacht ... Der Chef ist leider keiner aus’m Bilderbuch von wegen Hi, du! Ich hab da mal ’nen leeren Schuppen mit Ware, willste einziehen?, hat aber natürlich nichts gegen Pascals Idee. Dass das wiederum eine sehr hohe Verantwortung bedeutet, ist ihm doch ein bisschen zu heikel, er verzichtet lieber. Das möchte ich an dieser Stelle unkommentiert lassen ... Ich fühl mich grad irgendwie isoliert. Es macht mir zu schaffen, dass ich überhaupt keinen Bedarf verspüre, eine meiner Freundinnen einzuweihen und sie zu bitten, mich ein wenig zu pflegen, mich zu beschäftigen. Wie meistens mache ich Probleme mit mir selbst aus, nehme keine Hilfe an. Zu meiner Betroffenheit fällt mir auf, dass ich mich stärker verändert habe, als ich es mir bisher eingestand. Mich zu verabreden oder jemanden außer Paschi gar zu mir nach Hause einzuladen, tue ich äußerst selten und immer seltener. Oft weiche ich Geburtstagen aus, weil ich dann unentwegt mit den Kalorien von Essen und Alkohol beschäftigt sein, schweigend in der Ecke sitzen oder eine Rolle spielen würde. Meistens mutmaße ich, die anderen würden meine seelische Verfassung durchschauen und finden, ich sei nicht gesellig genug, als dass es sich lohnen würde, sich mit mir zu unterhalten. Bei einigen Bekannten, die mich fröhlicher in Erinnerung haben, meide ich den Kontakt besonders. Viele von ihnen ahnen gar nicht, was Depressionen sind; behaupten, dass auch sie mal einen schlechten Tag hätten, der vorbeigehe. Aber das ist nicht vergleichbar. Depressionen sind unbeständig, sie ebben ab, und im nächsten Moment ergießen sie sich wie eine Flut über einen. Ich persönlich empfinde mich eingesperrt, ohne zu wissen, wo ... Da ist nichts und niemand außer mir selbst mit meinen kreisenden Gedanken, die mich erstarren lassen. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich emotional abgestorben. Andere Male überschütten und begraben mich die Emotionen wie eine Schneelawine, der ich nicht entkommen kann. Berge von Selbstzweifeln, Existenz- und Zukunftsängsten, Minderwertigkeitskomplexen, Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit liegen dann auf mir. Oft dauert es Wochen, bis es mir gelingt, mich auszugraben. Häufig bricht daraufhin schon die nächste Lawine ein. Ich habe versucht, mich mit so einem Ratgeber auseinanderzusetzen. Da stehen Tipps drin, wie man zurück in den Alltag finden soll. Im Alltag finde ich mich aber eigentlich ganz gut zurecht. Die Freizeit ist das Problem. Was helfen mir meditieren, wenn ich mich nicht entspannen kann; spazieren, wenn draußen Minusgrade sind; singen, wenn die Stimme versagt; tanzen, wenn die Partyatmosphäre und der Pegel fehlen, oder fernsehen, wenn nur anspruchsloser Müll in der Glotze läuft ...? Stattdessen gebe ich in Google die Folgen von Bulimie und Rauchen ein, recherchiere Fastenkuren und Nulldiäten, stell mich mehrfach auf die Waage, gebe jeden Bissen Nahrung in meine App ein, vegetiere vor mich hin oder lege Tarot-Karten, um herauszufinden, wie lang ich’s noch mache. Danach ist meine Stimmung gänzlich im Keller; wieder konnte ich mich darin bestätigen, dass alles und jeder doof ist. Nach meinem letzten Rückfall litt ich unter krassen Nierenbeschwerden. Seither bin ich immerhin eineinhalb Wochen kotzfrei. Meine Haut wird großporig und unrein, und die Lunge pfeift vom Kettenbarzen. Das ist Selbstmord, wenn ich nicht aufhöre. Wann endlich lerne ich, mein Leben wertzuschätzen? Ich habe ein paar meiner Mädels mit meinem Stimmungstief konfrontiert und ihnen die Wahl gelassen, ob sie mich weiterhin als Freundin behalten wollen oder nicht. Eine zieht sich bereits zurück. Not sure, ob ich froh oder traurig darüber bin. Ich arrangiere mich mit der Einsamkeit – sie ist Teil meines Selbst geworden. Oberflächliche Bekanntschaften bedeuten mir nichts. Obwohl ich mir ein leichteres Umfeld wünsche, erkenne ich, dass ich mich einem solchen gar nicht gewachsen fühle und es Gründe hat, warum ich mich an meine Psychotanten klammere. Weil sie mich besser verstehen ... Ich muss lediglich darauf achtgeben, mich nicht in den Krisen anderer zu verlieren. Paschi und Mama fangen schon einiges von dem auf, was ich ansonsten meinen Freundinnen abverlangen würde. Gäbe es sie beide nicht, wäre ich vielleicht offener für neue Menschen. Bekümmern tut mich weniger der Rückzug als vielmehr die Erinnerung an ein Früher, in dem ich schwelge, in das ich mich gerne beamen möchte. Non sum qualis eram. 2. Februar Ich hab’s geschafft, mich eigenständig aus der Passivität zu befreien. Liegen und sitzen ist zwar immer noch scheiße, aber hey, ich hab diverse Wohnungen besichtigt und jetzt kommt’s – da ist doch heut’ nach Flehen und Betteln ernsthaft ’ne Zusage von der SAGA für meine Traumbutze zum 1.3. ins Haus geflattert. Ich kann mein Glück kaum fassen, haha! Denn die liegt nicht nur im Stadtteil Altona, sondern grenzt auch noch direkt an die Straße an, in der ich meine ersten fünf Jahre bei Papi aufgewachsen und zum Kindergarten gegangen bin. Total rührend. Indessen klopfen allerdings bereits die nächsten Sorgen an die Tür ... Für den guten Eindruck versprach ich dummerweise, meine Fehltage im Praktikum trotz Semesterferien noch in diesem Monat nachzuholen. Die Uni geht zwar erst wieder im April los, die Arbeit in Vollzeit beginnt dagegen schon in vier Wochen. Wie soll ich diese bloß mit Umzug, Wohnungseinrichtung, Klausuren und Beziehung unter einen Hut kriegen? Und wie komme ich so schnell wie möglich aus meinem aktuellen Mietvertrag raus, ohne doppelt Miete zahlen zu müssen? Kacke, das hätte ich mir mal eher überlegen sollen. Augen zu und durch – ein Rückzieher kommt nicht in Frage. Ich fang gleich mal damit an, die Bilder abzuhängen und Kartons zu packen.

      Ein stetes Auf und Ab

      4. Mai In den vergangenen Wochen war wirklich von allem was dabei – von Freude, Euphorie und Tatendrang bis hin zu Wut und Verzweiflung. Ich schlug mir Tage und Nächte um die Ohren, um das straffe Pensum innerhalb kürzester Zeit zu bewältigen. Die viele Bewegung wirkte sich positiv auf mein Gewicht, das Essverhalten und die Stabilität meiner seelischen Verfassung aus. Ich erlaubte mir keinen einzigen bulimischen Ausrutscher. Und wenn ich drohte, aufgrund von kleinen Niederlagen der Lethargie zu verfallen, hielten diese Momente nicht länger als wenige Stunden an. Dass meine neue Altbauwohnung zwar saniert, aber ausschließlich mit Estrichboden, gespachtelten und grundierten Wänden ohne Tapeten und ohne Küchengeräte übergeben wurde, versetzte mich erst mal in Hysterie, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich all die Kosten, die auf mich zukommen würden, tragen sollte. Ich bat Mama, mir Geld zu leihen, fand zügig ’ne Nachmieterin, kaufte über eBay preisgünstig gebrauchte Elektrogeräte (Waschmaschine, Herd und Kühlschrank) und bestellte bei Poco Domäne Farbe, Deckenleuchten, Auslegware etc. Bei meinem Umzug halfen Paschi und zwei seiner Freunde schleppen. Fürs Falschparken kassierten sie Strafzettel; beim Streichen bröckelte der Putz ab; das Verlegen des Laminats dauerte drei Tage, weil die Raumecken schief und die Böden uneben sind; Schrauben und Nägel lösten und Schränke verbogen sich – die reinste Katastrophe! On top fingen Pascal und ich uns nach meinem Einzug zu streiten an, da seine Unterstützung entgegen seinen Versprechungen relativ mau ausfiel. Insofern entwickelte ich mich notgedrungen zur Handwerkerin und lernte unentdeckte Begabungen an mir kennen. Während die Bohrmaschine zu meinem engsten Verbündeten wurde, ärgerte ich mich schwarz darüber, dass mein Partner lieber Sport trieb oder sich mit Kumpels traf, als seiner Lady unter die Arme zu greifen. Infolgedessen warf ich mich nur noch heftiger in meine Verpflichtungen, schloss meine Klausuren erfolgreich ab, suchte regelmäßig den Chirurgen auf, um den Heilungsprozess meiner Wunde loben zu lassen, startete gewissenhaft ins Vollzeitpraktikum und vergaß in meiner Ablenkung ganz und gar, Paschi zu vermissen. Die weniger werdenden Wiedersehen, an denen ich seine Unlust und den im Vordergrund stehenden Egoismus kritisierte, verwandelten meine Zuneigung für ihn in Ablehnung und Reserviertsein. Erst als sich der ganze Stress Mitte März legte, und ich von der Aktivität in die Rastlosigkeit fiel, begann ich ernsthaft, über Pascal und mich nachzudenken. Sein Verhalten – unentwegt unterwegs zu sein (auf Piste oder in der Muckibude), wofür er sogar mindestens einen Tag des normalerweise uns gehörenden Wochenendes opferte – machte mich misstrauisch. Immer häufiger starrte ich nach Feierabend apathisch aus meinem Küchenfenster und trank Gläser Rotwein, um der Grübelei ein Ende setzen und einschlafen zu können. „Sag mal, hast du eine andere?“, fragte ich ihn mal im Gespräch. „Wie kommst du denn darauf?!“, empörte er sich mit aufgeblasenem Brustkorb. „Du bist komisch in letzter Zeit. Während ich davon ausgehe, dass wir uns an den Wochenenden treffen, wo nun ’n bissl Ruhe eingekehrt ist, stellst du mich vor vollendete Tatsachen, dann und wann mit diesem oder jenem verabredet zu sein, sodass ich spontan schauen kann, wie ich mich verplane, oder einsam zu Hause rumhocken muss, weil meine Freundinnen bereits ausgebucht sind. Du warst doch sonst nicht so. Warum sprechen wir unsere Vorhaben nicht mehr gemeinsam und rechtzeitig ab?“ „Na, du wolltest doch, dass ich selbstständiger