Nina Heick

REISE OHNE ZIEL


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dass du mir das niemals wirst bieten können!“ Es langt! Ich bin fest entschlossen, die Beziehung schnellstmöglich zu beenden. Aber zuerst muss ich mir ein Netzwerk aufbauen – mit meinen Freundinnen Debora und Charly stehe ich immerhin wieder in engem Kontakt. Es freut mich, dass Debora mir trotz des seltenen Sehens (höchstens an unseren Geburtstagen) erhalten bleibt. Wir schreiben oft – sie schickt Bilder ihres Enkelkindes, geht in der Rolle als Oma auf und ist nach wie vor happy mit ihrem halb so alten Freund.

      Meine Klientin Rawina

      19. Mai Im Augenblick beschäftigt mich eine meiner Klientinnen. Ich erlaube mir, meine Klientin zu sagen – sei es drum, dass ich nur Praktikantin bin. Da ich Rawina erst seit wenigen Monaten „kenne“ und mich bewusst dafür entschieden habe, ihre Akte im Vorfeld nicht einzusehen, um ihr unvoreingenommen begegnen zu können, arbeite ich in erster Linie mit meinem Erleben, meiner Beobachtung und Einschätzung. Einige Hintergründe sind mir zwar aus den Teambesprechungen und Erzählungen meiner Kolleginnen bekannt, andere wiederum erfahre ich durch Rawina selbst. Weil sie grundsätzlich eine sehr aufgeschlossene Art hat, auf Menschen zugeht und ohne Umschweife aus ihrem Leben berichtet, fiel es von Anfang an leicht, mit ihr in Dialog zu treten. Intensiviert hat sich unser „Verhältnis“ allerdings dadurch, dass ich auf ihren Wunsch hin ein Bild für sie zeichnete. Rawina sah meinen Dienst als Geschenk an, für das sie mir seither Dankbarkeit entgegenbringt. Für mich aber war dieser Dienst eine Selbstverständlichkeit, da ich mich mitverantwortlich fühle, Hilfebedarfe abzudecken – so gut ich’s eben kann, und auch, weil mir diese Aufgabe Spaß bereitete. Rawina unterscheidet sich gewissermaßen von den anderen Frauen, die die Einrichtung aufsuchen – schon allein der Tatsache wegen, dass sie keinen prekären Drogenkonsum hat. Sie ist Alkoholikerin mit gelegentlichem Beikonsum von Substitol und Kokain. Ihre Intelligenz lässt sie gerne zum Vorschein kommen, indem sie über Poesie und Philosophie spricht oder von ihren Aufenthalten in Belgien. Mit ihrem freundlichen, lauten und humorigen Naturell unterhält und erquickt sie das ganze Café. Unabhängig von ihrer Suchtproblematik wirkt sie oberflächlich betrachtet recht „klar“, beinahe „normal“. Sie ist maskulin, zugleich zart und faltenlos in ihren Gesichtszügen. Das blonde Haar trägt sie streng zum Dutt gebunden, die blauen Augen plinkern durch eine dicke Hornbrille, den schmalen Leib verbirgt sie unter Schlabber-Pullovern. Rawina pflegt eine innige Beziehung zu ihrer Oma und führt seit einigen Jahren ’ne lesbische Partnerschaft. Ihre Freundin, die sie „Murmeline “ nennt, ist methadon- und cannabisabhängig, manchmal trinkt sie auch Alkohol. Rawina erzählt sehr liebevoll von ihr, sorgt sich jedoch häufig, da sich ihre Liebste nur schwer damit arrangieren kann, dass Rawina der Sexarbeit nachgeht. Murmeline sorgt sich nicht weniger und zu Recht um sie, weil sie unter einer chronischen Bauchspeicheldrüsenentzündung leidet (Folge des jahrelangen Alkoholmissbrauchs). Rawina ist sich zwar im Klaren darüber, dass sie mehr essen und den Konsum einschränken sollte, wo ansonsten jeder Tag der letzte sein könnte, säuft indessen aber weiterhin rund um die Uhr auf nüchternen Magen, obwohl sie in der Vergangenheit bereits drei heftige Schmerzanfälle hatte. Die Tatsache, ihr Leben zu riskieren, macht ihr Angst. Diese Angst versucht sie, bestmöglich zu verdrängen. Ab und an ist ihre Angst aber so groß, dass sie sich einer Entgiftung unterzieht. Von stationären Entwöhnungskuren und Entzügen auf eigene Faust hat sie etliche hinter sich. Das Zweite ist besonders gefährlich, weil es tödlich enden kann. Ernsthafte Botschaften wie diese fallen meistens komplett aus dem Zusammenhang eines lockeren Gesprächs, das wir führen, und werden ins Ironische gezogen. Nebensächlich wirft Rawina ein, Opfer von sexueller Gewalt zu sein; Geld zu sparen, um sich in Belgien einzuquartieren, da Belgien „ein guter Ort zum Sterben“ sei, oder sich gezielt Freier auszusuchen, die sie schlecht behandeln, um sich selbst zu bestrafen. Meine Kolleginnen behaupten, es gehe hierbei um eine Taktik, die Rawina für sich nutze, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Ich dagegen kann das so nicht im Raum stehen lassen. Vielmehr erkenne ich in diesem Verhalten einen hinter ihrer Fassade versteckten Hilferuf und die Bitte, gehört zu werden. Sicher steckt auch ein Muster, mit schockierenden Geschichten Mitleid zu erregen, dahinter. Dennoch möchte ich den Background erfassen und Erklärungen finden. Eine meiner Kolleginnen signalisierte deutlich, sie habe Schwierigkeiten damit, dass sich Rawina mir so weit öffne, zumal sie und nicht ich ihre Betreuerin sei. Und meine Anleiterin unterstellte mir Unerfahrenheit, aufgrund derer sie mir nicht zutraue, mich sachkundig mit Rawina auseinanderzusetzen. Weil ich wissen wollte, wie sehr ich die Gespräche denn vertiefen dürfe, ohne der Zuständigen die Klientin „wegzunehmen“, brachte ich diese Thematik gestern in der Teambesprechung ein. Überdies verärgerte mich das fehlende Zutrauen in meine Fähigkeiten. Man begründete sein Handeln mit der (Für-)Sorge- und Verantwortungspflicht mir gegenüber. Das Argument kommt mir allerdings zu simpel und lediglich halb wahr vor. Ich schließe nicht aus, dass es generell ungern von den Kolleginnen gesehen wird, wenn eine ungelernte Praktikantin ebenfalls ’nen guten Draht zu einer Klientin aufbaut. Meine Vermutung teilte ich natürlich nicht mit. Jetzt frage ich mich, wie ich mit Rawina und den Missständen im Team umgehen soll. Ob ich mich über die Bedenken hinwegsetzen kann? Ich möchte mit Rawina im Dialog bleiben und probieren, ihr eine Unterstützung zu sein. Denn ihre Suizidgedanken stehen im Widerspruch zu den zahlreichen Entgiftungsversuchen und der Furcht vorm Sterben. Ich glaube, dass sie sich von Herzen eine Veränderung wünscht und leben will, es sich aber zur Bewältigungsstrategie gemacht hat, sich mit ihrem bedrohten Gesundheitszustand abzufinden. Wahrscheinlich ist die Angst vor einem qualvollen und schmerzhaften Tod stärker als die Angst davor, den „Notausgang“ zu wählen. Vielleicht beruhigt es sie sogar, zwar unfreiwillig, aber immerhin selbstbestimmt ausglühen zu können, wenn sie eine Verschlechterung ihres Zustands nicht mehr aushält. Die Phasen der Entgiftung waren wahrscheinlich derart von Pein besetzt, dass der Alkoholkonsum weniger der Selbstgefährdung als vielmehr dem Selbstschutz dient. Würde sie mir dagegen klar signalisieren, ihr Leben zweifellos beenden zu wollen, müsste ich auch das akzeptieren. Dann würde ich sie darin bestärken, die Zeit, die ihr bis dahin noch bleibt, so gut wie nur possible schön zu gestalten.

      Bleiben oder gehen?

      15. JuniMit Paschi läuft’s steil – rauf und runter. Ich schwanke zwischen Zu- und Abneigung. Die harmonischen Momente sind selten, aber es gibt sie. Deshalb fällt’s mir schwer, die Trennung durchzukurbeln. Wir waren gemeinsam auf Geburtstagen, Straßenfesten und Flohmärkten, in Restaurants, Cafés und Bars. Darüber hinaus hatten wir mal für seine Verhältnisse ausgefallenen Sex in meiner Dusche bei fließendem Wasser und in seiner Küche auf’m Ceranfeld unter der Dunstabzugshaube – hinter mir klapperten die Rührbesen, Suppenkellen, Saucenlöffel und Grillzangen. Das abendliche Kuscheln an den Wochenenden ist auch wieder mehr geworden.Sobald ich meine Zeit allerdings ohne ihn verbringe, schwelen die Sorgen und Belastungen erneut in mir. Ich bin unglücklich, weil die Basis nicht stimmt und ich ihn als Freund nicht ausreichend liebe.Steffens neue Ausrede für die bisher nicht erfolgte Auszahlung ist, er sei in kriminelle Machenschaften (Geldwäsche) verwickelt. Ich glaube überhaupt nix mehr und möchte mich abgesehen davon keineswegs weiter mit dem Klimbim beschäftigen. Soll doch Pascal den Hampelmann machen!Nach ewig langer Funkstille haben meine Exfreundin Melanie und ich uns wiedergetroffen. Das hat mir gutgetan und Klarheit geschaffen. Während ich mit der Gabel ’nen Chicken McNugget von seiner panierten Ummantelung befreite und ihn in den süßsauren Dip eintunkte, fragte ich, wie ich eigentlich damals in unserer Beziehung gewesen war, ob ich mich da auch so aufgegeben hätte.„Überhaupt nicht, im Gegenteil ...“, erwiderte sie und strich sich ihre welligen Haarbüschel hinter die kleinen, abstehenden Öhrchen. „... Du hast ausschließlich dein eigenes Ding gemacht, warst ziemlich unerreichbar und wenn überhaupt nur für wenige Stunden auf Partys wirklich nah. Aber selbst da schwirrtest du mal hier, mal dort umher. Du gehörtest niemandem. Jeder drehte sich nach dir um, das hast du stets gespürt und genossen oder abgewiesen. Der Kerl hier neben uns glotzt dich auch die ganze Zeit an.“ Feixend gab sie mir einen Wink in seine Richtung und biss hungrig von ihrem Cheeseburger ab.Ich wand mich perplex zur Seite „Ach, Melly, mach keine Witze! Ich komm mir ganz unscheinbar vor im Gegensatz zu früher als Goth-Königin – in extravaganten Kleidern und mit Schichten Kleister im Gesicht ... Guck mich jetzt an: Ich bin regelrecht piefig geworden.“„Nein,