Nina Heick

REISE OHNE ZIEL


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betrachtete ich meine Fingernägel, knabberte am Nietnagel und wisperte: „Du hast dich einfach verändert, ohne dass ich dir dabei folgen konnte. Das kommt jetzt alles irgendwie überraschend.“ Daraufhin warf er mir vor, ich hätte ebenfalls kaum Zeit für ihn gehabt. „Ich musste ja auch alles alleine machen, weil du mich im Stich gelassen hast!“ Er wurde sauer, seine Stimme lauter: „Willst du mir etwa unterstellen, dass ich dir nicht geholfen hab?“ „Jedenfalls deutlich weniger als versprochen“, antwortete ich maulig. „Du sagtest, du würdest die Lampen, Handtuchhalterung, Haken und Bilderrahmen anbringen, das Acryl in die Fugen füllen, die Türleisten festschrauben usw. Stattdessen hast du dich vor allem um deinen unwichtigen Kram gekümmert und auf mir rumgehackt, sobald ich irgendwas angeblich schlecht montierte, weil du es ja angeblich besser gekonnt hättest als ich ... Ich hab dich gebeten, das Laminat zu verlegen, was du dir nicht zugetraut hast – in Befürchtung was falsch zu machen. 250 Euro haste mich für den Verleger bezahlen lassen, aber für einen deiner Kumpels konntest du sofort Laminat verlegen.“ Gleichgültig pulte er sich ’nen Popel aus der Nase. „Ich musste arbeiten. So kurzfristig hätt’ ich nich’ frei gekriegt.“ Furor stieg in mir auf. Imaginär scharrte ich wie eine Stute mit den Hufen auf der Weide – bereit, nach hinten auszutreten. „Nein, du hattest einfach nur keinen Bock! Schließlich scheust du dich auch sonst nicht, blauzumachen ...“ „Was kann ich dafür, dass du alles auf einmal erledigen wolltest!“ „Rein zufällig hatte ich gar keine andere Wahl. Es lag ja noch genug anderes an, das weißt du ganz genau! Eigentlich hab ich gehofft, du würdest dich ein wenig darüber freuen, dass wir endlich wieder Zeit miteinander verbringen können. Ist’s dir denn überhaupt kein Bedürfnis, die fehlende Zweisamkeit aufzuholen?“ „Hab mich damit arrangiert. Sex ham wa ja ohnehin keinen mehr“, rülpste er krötenartig. Wütend wedelte ich nach Frischluft und fuhr ihn an: „Hab du mal ein zweites Arschloch, das so wehtut, dass du nicht drauf liegen kannst! Und bei deiner Rülpserei und dem stinkenden Mundgeruch wegen der vielen Eiweißshakes, die du säufst, brauchst du dich auch nicht zu wundern, wenn du mich abturnst! Wie du dich mir gegenüber gehen lässt, ist kaum zu überbieten, ehrlich! Für wen trainierst du denn so fleißig? Für mich kann’s ja wohl nicht sein! Ich hasse dieses Aufgepumpte an dir!“ Wir keiften noch ’ne Weile weiter. Irgendwann rückte Pascal mit der Sprache raus. Unter Tränen beichtete er, Schiss zu haben, seinen besten Freund zu verlieren, weil diesem Lungenkrebs diagnostiziert wurde. Und das, wo Paschi doch auch noch an der Trauer um seinen immer vergesslicher werdenden Vater zu knapsen hat. Er tat mir schrecklich leid, ich heulte mit ihm und unser Ärger war erst mal verflogen. Bei der Arbeit ging es während einer Fallbesprechung im Team um zwei Klientinnen, die an den Folgen der jahrelangen Heroinabhängigkeit verstorben sind. Die Kolleginnen bekamen Gelegenheit, ihre Gefühle zu benennen und zu debattieren, wie man lernen könne, mit dem Tod von Frauen aus unserer Einrichtung, dem exzessiven Konsum und der Gefahr eines Überdosis-Suizids umzugehen. Den ganzen nächsten Tag sann ich über den Inhalt dieser Unterhaltung nach, die ich lediglich stumm auf mich hatte wirken lassen. Wo ich die betroffenen Besucherinnen nur flüchtig kenne, konnte ich mich von den tragischen Ereignissen als solchen ganz gut distanzieren. Indem ich aber an die Worte einer meiner in der Runde sitzenden Kolleginnen dachte, die wimmernd bedauerte, wie unvorbereitet sie auf den Tod ihrer jahrelang begleiteten Klientin gewesen war, kroch die Erinnerung an Lukasʼ Selbstmord wieder in mir hoch, der mich genauso überraschend getroffen hatte. Gegen den Schmerz über seinen Verlust kämpfte ich weiterhin an; verdrängte die Lücke, die er in mir hinterlassen hatte, und das Schuldgefühl, nichts von seiner Absicht, die ich vielleicht hätte verhindern können, vorausgesehen zu haben. Abends erschien ich sichtlich bekümmert zur Nachtschicht. Als man mich fragte, was mit mir los sei, fing ich sofort zu japsen an und durfte wieder nach Hause gehen – nicht witternd, dass das erst der Beginn meines Kummers sein würde. Inzwischen plackte ich mich mit dem Anbieter meines Telefon- und DSL-Anschlusses ab, weil ich trotz mehrfacher Aufforderung noch immer über keine Internetverbindung verfügte, zumal der Installationstechniker am vereinbarten Termin nicht aufgetaucht war. Fristlose Kündigung – Problem gelöst. Als Nächstes erhielt ich eine saftige Stromnachzahlung – als wenn ich nicht schon genug Schulden an der Backe gehabt hätte ... Paschi erklärte sich großzügig bereit, die Hälfte des Betrages zu übernehmen, da er so häufig bei mir koche und dusche (Durchlauferhitzer). Auf die Kohle konnte ich jedoch ewig warten – hinterherrennen musste ich. Ende März wurde ich das erste Mal nach knapp zweieinhalb Monaten wieder rückfällig. Nur wenige Tage zuvor hatte ich Paschi freudvoll angeträllert: „Mein Leben fängt jetzt erst richtig an – mein Leben ohne Essstörung!“ Bis dahin glaubte ich, meine Gewichtsabnahme, die mir endlich Wohlgefallen an meinem Körper bescherte, hätte mit dem Absetzen der Pille nach vierzehn Jahren Einnahme zu tun gehabt. Obwohl ich keinen Sport machte und etliches Süßes aß, ohne dass die Kilos auf der Waage bergauf kletterten, ging ich davon aus, nun alles in mich hineinstopfen zu können, was ich wollte. Das war leider ein Trugschluss – meine altbekannte Freundin Bulima gesellte sich zu mir, denn beim Spiel der Maßlosigkeit gewann sie immer. Dieses und auch weitere Male. Je mehr mich meine Niederlagen frustrierten, umso besessener wurde ich. Dass Pascal meine Schlankheit lobte und betonte, wie sehr viel besser ihm diese gefalle, setzte mich zusätzlich unter Druck, bloß kein Gramm zuzunehmen. Neuerdings litt ich unter massiven Bauchschmerzen, die mich täglich bei der Arbeit quälten. Eine Untersuchung ergab aber, dass meine Magenschleimhautentzündung ausgeheilt war. Der Arzt vermutete daher einen Reizdarm – als Reaktion auf akuten Stress. Meine Anleiterin im Praktikum hatte bemerkt, dass mich irgendetwas stark bedrückte. Oftmals soll ich in Gedanken versunken und nicht ansprechbar gewesen sein. Ihre interessierte Nachfrage ließ mich offen (zu offen!) werden, sodass sie zeitweise besorgt zu sein schien, ich könne durch Themen wie Suizid, Essstörung, Wohnungslosigkeit und Drogensucht, die Parallelen zu meinen eigenen Erfahrungen aufweisen, „getriggert“ werden. Ich beschloss, intensiv über ihre Spekulation nachzudenken und mich selbst kritischer zu beobachten. Daneben schlauchten mich unverändert die Anspannung wegen herumstehender Leckereien in der Einrichtung sowie das belastende Brüten um Paschi. Seitdem er von nichts anderem mehr als vom großen Erbe sprach, rasselten wir ununterbrochen aneinander. Mich mit unverrückbaren Fakten zu beliefern, war anscheinend Teil seines neuen Selbst. Zum Beispiel erzählte er, vorzuhaben, sich sterilisieren zu lassen und in diesem Sommer eine durch Steffen gesponserte, private BWL-Ausbildung in Wiesbaden zu beginnen – die zwei hätten sich endgültig darauf geeinigt, Immobilien zu bewirtschaften. Wieder schwärmte er von dem Luxus, den er sich in Zukunft leisten könne. Wie stark es mich betrübte, dass er ein vorgefertigtes Leben plante, das ich so nicht führen will, interessierte ihn dabei überhaupt nicht. Am meisten aber störte mich die Tatsache, dass ich mich, wenn ich anstreben sollte, mit ihm zusammenzubleiben, bedingungslos an seine egoistischen Träume und Wünsche anpassen und auf die meinen verzichten müsste. Obwohl ich mich gegen ’ne Fernbeziehung aussprach, machte er keine Anstalten, seine Ziele noch mal zu überschlafen. Das ließ mich stark daran zweifeln, wirklich die Frau zu sein, für die er angeblich alles tun würde. Denn für Kompromisse oder das Eingehen auf meine Belange war er keineswegs bereit. Er hörte mir nicht einmal mehr zu, wenn ich meine Sorgen und Ängste preisgab. Ich weinte sehr oft in dieser Zeit. Denn mir war klar, dass es uns als Paar bald definitiv nicht mehr geben wird. Nach einer unserer heftigsten Auseinandersetzungen, in der ich ihm seine narzisstischen Wesenszüge und schlechten Manieren an den Kopf warf, musste ich stark an mich halten, als er mich mit der plumpen Äußerung „Ich bin, wie ich bin und werde mich niemals ändern!“ aus der Fassung brachte. Fäuste ballend stürmte ich auf ihn los und schaffte es gerade noch im letzten Augenblick vorm Zuschlagen, mich zu zügeln, die Situation zu verlassen und eine Beziehungspause einzufordern, die Pascal weder respektieren noch der er Folge leisten wollte. Die Verbissenheit, mit der er mich unablässig und penetrant kontaktierte, als ich für drei Tage mit Mama am Timmendorfer Strand zu entspannen versuchte, nervte und bekümmerte zugleich. Über seine Versprechungen, nun alles besser zu machen als zuvor, knickte ich ein – zu arg bangte ich erneut, das Alleinsein nicht ertragen zu können, da ich mich längst verloren hatte. Ich war ein Häufchen Elend – gefangen in Depression, von der Außenwelt abgeschottet. Sein Verhalten blieb gleichbleibend ... Ich musste dringend etwas an meinem Essverhalten ändern und unter Leute gehen, um seelisch wieder auf die Beine zu kommen und zu mir zurückzufinden. In einer unserer Sitzungen legte mir meine Therapeutin ans Herz: „Frau Rickert, treffen Sie eine Entscheidung.