Nina Heick

REISE OHNE ZIEL


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vor. So zu sein, wie ich bin. So zu handeln, wie ich’s tue. Ich verurteile mich für die mir fehlende Gelassenheit und Souveränität, für meine Rebellion, für meinen Pessimismus, für meine Dickköpfigkeit, für meine unnötigen Emotionsschwankungen, für meinen Wunsch aufzugeben, was mir nicht passt, und dafür, dass ich schöne Dinge und nette Menschen schwarzmale, sobald ich meine eigene Unzulänglichkeit nicht mehr ertrage. Dann sind alle für die äußeren Zustände, die mir missfallen, verantwortlich. Doch eigentlich bin ich diejenige, die dafür geradestehen sollte, aber Groll auf sich selber hat. Da ich nicht in der Lage bin, mich anzupassen, und jeder Abweichung von meinen Ritualen den Krieg erkläre. Ich führe Regie in einem Theaterstück, bringe die Dramatik in eine Komödie, die schließlich in einer Tragödie endet. Obwohl mir das Praktikum, das ich seit zwei Wochen mache, liegt und gefällt, übersäen die Probleme meinen Weg mit tausend Glasscherben, an denen ich mir die Füße blutig laufe. Es ist, als würden mich die Schnitte an all die Narben meiner Vergangenheit erinnern, die stets von Neuem aufreißen, sich entzünden, eitern, nicht verheilen. Dann bin ich so verwundet, dass ich mich geschlagen gebe, zu Boden falle, meine Trostlosigkeit annehme und letztlich an ihr scheitere. Wie viele Tode bin ich schon gestorben? Egal, was ich beginne, wo ich mich befinde, meine Schwierigkeiten begleiten mich überallhin und entziehen mir jegliche Vorfreude und Hoffnung auf eine leichtere Zukunft. Variierende Strukturen, Gewohnheiten, Regeln ... meine größten Feinde. Hürden, die ich erst zu überwinden lernen muss, bis ich meinen Rhythmus gefunden habe. Im Rahmen meines Studiums arbeite ich Vollzeit in einer Tagesaufenthaltsstätte für Wohnungslose. Eigentlich hätte ich mein Praktikum gern in der niedrigschwelligen Drogenhilfe gemacht. Ich hatte mich nämlich bereits auf eine freie Stelle beworben und durfte dort auch hospitieren, wurde dann aber wegen meiner Offenheit und Kontaktfreudigkeit abgelehnt. Da hätte ich lieber angefangen, weil ich befürchtete, die Nähe zu den überwiegend alkoholabhängigen Obdachlosen würde mich zu arg an meinen leiblichen Vater erinnern. Obwohl er ebenfalls ein Konsument von Heroin gewesen war, das er sich finanziell allerdings nicht auf Dauer leisten konnte, scheute ich den Umgang mit einer akuten Drogensuchtklientel, die mir nicht ganz so dicht an ihm dran zu sein schien, weniger. Zumal mir Berührungsängste grundsätzlich fremd sind. Die Parallelen haben sich inzwischen glücklicherweise als unproblematisch herauskristallisiert. Es fällt mir leichter als gedacht, die harten Schicksalsschläge hier von denen meines Papas zu trennen. Manchmal erinnern mich einige der Besucher zwar durch ihre Erzählungen und ihren Geruch nach Bier, Pisse und Dreck an ihn; trotzdem gelingt es mir irgendwie, ein passables Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz, zwischen Mitgefühl und objektiver Betrachtung der Tatsachen zu finden. Vor Kurzem saß ich mit einem Gast im Beratungszimmer, um seinen Lebenslauf für den Antrag auf Arbeitslosengeld II anzufertigen. Er berichtete, bereits seit sechsundzwanzig Jahren unter der Brücke zu schlafen und wegen des Trinkens kaum in einer Obdachlosenunterkunft zugelassen zu werden. Er brauche dringend einen festen Wohnsitz mit Toilette – er sei schwer darmkrebskrank, scheiße sich ständig ein. Das tat mir leid, aber wirklich nah ging’s mir nicht. Es kratzte an der Oberfläche, prallte ab. Auf die Frage nach seinem Alter antwortete er: neunundvierzig. Und ich dachte ungerührt, dass Lenn im Vergleich zu dem – den Umständen entsprechend – vitalen Herrn vor mir, der sich klar und sachlich artikulierte, nicht mal die Achtundvierzig erreicht und sich – bevor er an den Folgen der Leberzirrhose krepierte – in seiner Demenz undeutlich und schwammig ausgedrückt hatte, schwach vor sich hingetrottet war. Zwischen den beiden Männern lagen Welten. Wenn ich heute an Papas Tod denke, regt sich kaum noch etwas in mir. Die Erinnerungen verblassen. Das Gesicht, das meinem ähnelt. Der Stolz über die von ihm geerbten hübschen Hände. Ich fange an, den Klang seiner Stimme zu vergessen. Das Lachen. Ich sehe ihn nicht mehr in meinem Spiegelbild. Da findet sich nur eine verwischte Skizzierung, eine vage Vorstellung. Obwohl ich ihn im Herzen trage – in Liebe, Zuneigung und Andenken ... Er ist fort, weit weg. Und mit ihm die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach einem Daddy ... Sieben Jahre – eine halbe Ewigkeit ... Genug, um nicht länger zu vermissen? Meinem Gedächtnis wird er nie entfallen, ich halte ihn stets in Ehren. Registriere, sobald er sich meldet und zu verhindern versucht, ins Abseits zu geraten. Nicht selten begegne ich ihm in kleinsten Alltagssituationen. Zum Beispiel beim Kauf seines Lieblingseises und Hören von Soul- oder Jazzmusik. Wenn ich meine beste Freundin Charly in Harburg besuche, denke ich ganz besonders an ihn und unser letztes Wiedersehen, bevor ich ihn verlor. Gedanken, die im Bruchteil einer Sekunde verfliegen – so schnell, wie sie gekommen sind. Die Besucher der Einrichtung haben zu circa siebzig Prozent einen Migrationshintergrund. Größtenteils kommen sie aus Russland, Rumänien, Afrika und Polen und sind wunderbare, interessante, zumeist höfliche und friedliche Persönlichkeiten. Etliche der Afrikaner retteten sich über Lampedusa in den überfüllten Flüchtlingsbooten nach Deutschland. Nicht vielen merkt man ihre Traumatisierung an. Die Mehrzahl ist zugänglich, unterhaltsam, gelegentlich ’n bissl gierig, wenn’s um Markenklamotten aus unserer Kleiderkammer geht. Mir gefallen ihr Temperament, ihr weißes Lachen, ihre Neugierde. Und die Big Mamas mit den runden Gesichtern, den bunten Gewändern, Afrozöpfen oder hochgewickelten Turbanen. Sie wirken trotz ihrer schrecklichen Erlebnisse lebensbejahender und fröhlicher als die anderen Gäste. Sie alle, im Besonderen die Obdachlosen, die nicht einmal einen Containerplatz haben, zu empfangen, kennenzulernen, zu betreuen und sich einzuprägen, erscheint mir trotz der Gewissheit, dass jede Begegnung ein Abschied bedeuten könnte, weil sie den kommenden Winter in der Kälte vielleicht nicht überleben werden, wie eine Berufung. Als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Als wäre die Soziale Arbeit das, was man Bestimmung nennt. Meine Bestimmung. Lenn und sein Sich-nicht-kümmern-Können, das mein zügiges Erwachsen-werden-Müssen zur Folge hatte, haben mich in diese Richtung gelenkt. Unsere tragische Geschichte macht mich für diesen Bereich feinsinniger und robuster. Auch wenn’s zweifelsfrei schöner gewesen wäre, wenn ich dafür nicht einen Teil meiner Kindheit hätte einbüßen müssen, bin ich ihm unglaublich dankbar. Nun erhalte ich die Chance, einen Funken Licht in das triste, düstere Dasein derer zu bringen, die es brauchen. Meine Chance, das aufzuholen, was ich vor seinem Abgang gern für Papa getan hätte. Die Freude, die mir entgegengebracht wird, sobald ich einen traurigen Besucher mit einem Lächeln begrüße und ihm das Essen an seinem Tisch serviere, sind Momente des Friedens für mich. Ich will niemanden durch mein Mitleid in seinem Elend bestätigen, ihn besonders vorsichtig, rücksichtsvoll behandeln, sondern ihm als Mensch gegenüberstehen. Als Mensch auf Augenhöhe, der nicht tendenziell stärker oder ihm gar intellektuell überlegen ist. Weil das nicht stimmt. Faktisch würde man – gemessen an Schicht und Besitz – wohl sagen, mir gehe es besser. Klar hab ich ein Dach über dem Kopf, komme finanziell gut aus, kann essen und trinken, wann es mir beliebt. Dennoch behaupte ich: Fast jeder, der auf dem Asphalt hungert, friert und säuft, um den Frostschmerz in den steifen Gliedern und die Einsamkeit aushaltbarer zu machen, hat diese luxuriösen Möglichkeiten, die wir oft als selbstverständlich ansehen, ursprünglich ebenfalls genossen. Und doch zog die leidende Seele dem einen oder anderen ’nen Strich durch die Rechnung. Brachte ihn ins Draußen – an den Rand der Gesellschaft. Meiner Meinung nach ist keiner davor gefeit, sich in einer Kapitulation zu verschließen. Auch jene nicht, bei denen scheinbar alles glatt läuft. Karriere, Ehe, Kinder etc. Die meisten schaffen es, ihr Prestige zu wahren, indem sie den geforderten Erwartungen gerecht werden, ohne (restlos) abzustürzen. Sie tarnen sich hinter einer Maske der Brillanz, wie ich es tue, flüchten sich in Pflichten, Ziele und Träume von Heirat, Familiengründung, Hausbau ... (wovon träume ich eigentlich?). Oder sind einfach zu wurschtig, sich darüber Gedanken zu machen. Das beneide ich ja. Währenddessen zerbröckeln langsam die Zuversicht und das Innere manch anderer. Diejenigen, die das Ultimum der Selbstaufgabe schon erreicht haben, bringen sich um. Gegebenenfalls. Auf unterschiedliche Weise. Radikal von jetzt auf gleich oder in einem schleichenden Prozess – durch Vergiftung ihrer Körper mit übermäßig falscher Ernährung, mit Zigaretten, Alkohol und Drogen. Etlichen ist es unbegreiflich, wie man’s so weit kommen lassen kann, obdachlos zu werden ... Dabei braucht’s nicht viel, um ganz unten zu landen. Man verliert Job, Geld, Wohnung und letztlich Freunde. Wer nicht über die nötige Kraft verfügt, sich wieder hochzuziehen, beginnt, seine Wahrheit zu verdrängen, sie eventuell sogar zu ertränken. Vermutlich steckt in jedem, der dazu geboren wurde, enorm dünnhäutig, melancholisch und depressiv zu sein, ein Selbstmörder. Entweder der, der tatsächlich den Freitod wählt, oder der, der ihn sich in schlimmsten Krisensituationen als „Notausgang“ offenhält. Ich bezweifle, dass ich