Nina Heick

REISE OHNE ZIEL


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zu behandeln.Natürlich lassen sich die Gründe für unangemessenes und straffälliges Verhalten beleuchten – das machen wir bei Europäern auch, or? Mangelndes Benehmen und Brutalität findet jeder doof – unabhängig von Herkunft und Kultur. Wenn unsereiner uns die Vorfahrt klaut, uns anrempelt oder bespuckt, und wenn wir eine Mutter dabei erwischen, wie sie ihr Kind schüttelt, wird sie maßlos kritisiert. Darf man’s auch wagen, Gleiches bei Ausländern zu tun und zu fordern, dass sie den Tatbeständen gerecht sanktioniert werden? Ich finde, ja.

      Back to myself

      19. DezemberMeinen Minijob (zuletzt bei Balzac Coffee) musste ich wegen eines Nervenzusammenbruchs aufgeben und meine Rentenversicherung auflösen. Mit dem Geld kam ich neben der Unterhaltszahlung meines Vaters eine Weile gut längs. Erst als die Reserve fast aufgebraucht war und mein 28. Geburtstag nahte, an dem ich nicht mehr darauf hätte bauen können, dass Klaas mir finanziell weiterhin unter die Arme greifen würde, kontaktierte ich ihn. Bis aber endgültig feststand, worauf wir uns einigten, und bis der Erbverzichtsvertrag beim Notar unterschrieben wurde, vergingen Monate des Kampfes, der Ungewissheit und Existenzangst. Je mehr ich die Kontrolle über meine Emotionswelt verlor, umso drastischer stieg die Kontrolle über mein Gewicht an. Ich begann, weniger zu essen und mir die Kalorien in den Mund zu zählen. Jeder Bruch meiner Disziplin endete über der Kloschüssel. Die Bulimie beherrschte mein ganzes Sein, ließ mich zutiefst verbittert und in Bezug auf meinen Bekanntenkreis kleinkariert und zickig werden. Wer keine Zeit für mich hatte, wurde gnadenlos aus meinem Leben gestrichen. Und wer mich mit seinen Problemen belagerte, den hielt ich auf Abstand. Alles, was mir einst Freude bereitet hatte, war zur Last geworden und zum Scheitern verurteilt.Irgendwann verlor ich gänzlich die Lust daran, an der Gesellschaft teilzuhaben, und auch von Pascals Zuneigung fühlte ich mich mehr und mehr erdrückt. Phasenweise stand unsere Beziehung auf dem Spiel, da ich willkürlich Gründe suchte, mich mit ihm zu streiten, ihn zu kritisieren und ihm aus dem Weg zu gehen. Durch meine Distanz verlor er sein Vertrauen und das Gefühl, von mir begehrt zu werden. Ich unterband jeden seiner Versuche, mit mir intim zu werden, und reagierte gereizt, sobald er mich darauf ansprach oder vermutete, ich würde mich für andere Männer interessieren.Überdies ging mir auf die Nerven, dass sich seine Mutter in ihrer Einsamkeit ständig an mich wandte. Sie war mir unsympathisch geworden, seit ich mitbekam, wie sie trotz des Verfalls ihres Mannes einfach weitermachte. Sie sträubte sich vehement dagegen, ihn bei sich daheim zu pflegen, um ihm ein schöneres restliches Leben zu ermöglichen. Stattdessen kümmerte sie sich ausschließlich darum, ihren eigenen Bedürfnissen nachzugehen, ihre frisch gewonnene Freiheit zu genießen und seine ganze Kohle fürs Shoppen zu verprassen. Wenn ihr dann doch bewusst wurde, wie alleine sie eigentlich ist, heulte sie. Für ein solches Tamtam fehlte es mir an Verständnis und Kraft. Meine Kraft reichte nicht einmal für mich selbst.Um nach dieser aufreibenden Phase etwas Licht ins Dunkel zu bringen, schenkte meine Mutter mir für die Semesterferien im Sommer eine gemeinsame Reise nach Mallorca. Dieser Urlaub half mir dabei, ganze drei Wochen „clean“ zu bleiben, bevor das Praktikum in der Wohnungslosenhilfe begann und meine Essstörung erneut Achterbahn fahren ließ. Inzwischen ist’s im Schnitt nur noch ein Rückfall pro Woche.Auch wenn es mir so vorkommt, als würde mein Leben und das, was ich daraus mache, wenig Sinn haben, laufe ich wieder. Und bin froh darüber, dass mein Partner mit mir läuft, obwohl er es häufig schwer mit mir hat.Von Klaas erhalte ich eine Abfindung, die mir monatlich in steuerfreien Raten zugeteilt wird und es ermöglicht, mir keinen neuen Nebenjob suchen zu müssen. Nach seinem Tod steht mir außerdem ein kleiner Teil seiner Immobilien zu.In der Hochschule fühle ich mich nach wie vor wie ein rotes Tuch. Aber ich zieh das jetzt durch.In der letzten Sitzung wurde ich von meiner Therapeutin gefragt, was mir die Bulimie Positives gebe. Darüber musste ich sehr lange nachdenken. Sie bietet Möglichkeit, Frustration auszudrücken, Gefühle wie Leere und Ohnmacht zu verdrängen, über die Stränge zu schlagen – alles zu essen, worauf man Bock hat und etwas Geschehenes ungeschehen zu machen. Sie ist mein Ventil, wenn ich traurig, verzweifelt oder wütend bin.Sobald dieser Drang, einkaufen zu gehen, in mir aufkommt, bin ich wie fremdgesteuert. Dann sind da zwei Geister in meinem Kopf, die miteinander darüber streiten, ob ich’s wage oder sein lasse. Das Engelchen redet mütterlich und umsorgend auf mich ein, ich solle doch meinen Körper lieb haben und meine Gesundheit nicht gefährden. Es macht mich darauf aufmerksam, welche Konsequenzen ich auf mich nehmen müsse und dass es nicht weitergehen dürfe wie bisher.Das Teufelchen schreit: „Du hast ein Stück Schokolade zu viel gegessen! Willste riskieren, morgen ’n halbes Kilo mehr zu wiegen? Du warst auf’m best way abzunehmen. Mach dir das jetzt nicht kaputt!“ Oder es flüstert: „Der Tag war echt beschissen. Was stellen wir die restlichen Stunden an? Ich weiß auch nicht ... Komm, lass verkriechen, gemütlich vorm Fernseher an nichts denken, nichts fühlen, einfach nur fressen und kotzen. Danach sind wir müde genug, um einzuschlafen.“Meistens scheitere ich daran, dem Teufelchen zu widerstehen. Erst wenn die Tortur vorüber ist, sag ich zum Engelchen: „Hätte ich doch bloß auf dich gehört und das Geld gespart. Ich halte diese Magenschmerzen nicht aus. Wann endlich werde ich bereit sein, mir selbst zu begegnen? Warum fällt es so schwer, das Alleinsein und die mit ihm aufkommenden Emotionen zuzulassen?“

      Adieu, mein Freund und Bruder

      20. Dezember Ein Jahr und fünf Monate brauchte ich, um Lukas nach seinem Tod zu besuchen. Heute schien für mich der richtige Zeitpunkt des Abschieds gekommen zu sein. Pascal begleitete mich. Wir fuhren eine Stunde lang, bis wir den Ort fanden, an dem er begraben liegt. Als ich verwirrt inmitten des großen Waldes stehen blieb, ärgerte ich mich über Christina, die sich für diesen Friedwald entschieden hatte. Verzweifelt suchte ich jeden nummerierten Baumstamm nach Lukas’ Namen ab. Je näher ich ans Ziel kam, desto aufgeregter wurde ich. Plötzlich stand ich vor ihm. Es war ganz ruhig in mir und um mich herum. Das schmerzliche Begreifen erreichte nun nicht mehr nur meinen Verstand, sondern traf mich tief in der Brust. Sentimental betrachtete ich die zarte, kleine Metallplatte, an deren Ecke ein Herz aus Stein heftete. Keine Blumen, keine Kerzen, keine Bilder ... Trostlos und verlassen wirkte dieser Platz. Paschi trat hinter mich, das Laub raschelte unter seinen Schuhsohlen. Er nahm mich in die Arme und wir schwiegen für einen Moment. Dann nahm ich unsere Fotos und einen Brief aus meiner Tasche. Leise las ich Lukas vor, was ich ihm widmete: Geliebtes Bruderherz, seitdem du mich und das Leben verlassen hast, ist nichts mehr, wie es war. Dein Tod hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen, mein Herz in zwei tranchiert. Bitte verzeihe mir, dass ich dich nicht schon eher an deinem Grab besucht habe. Ich wollte und konnte einfach nicht glauben, dass du fortgegangen bist. Ich hatte nicht vor, mich von dir zu verabschieden, denn ich mochte nicht realisieren, dass es kein Wiedersehen mehr gibt. Meine Gedanken waren bereits dabei, dir in den Tod zu folgen. Nun aber muss ich meine übrige Stärke aus dem mickrigen Eimer des Überlebensmuts schöpfen und meine Vernunft zu fassen kriegen. Du hast mir gewunken. Mich aufgefordert, dir nachzukommen. Und du gabst mir genug Gründe, das zu tun. Für mich ist die Zeit jedoch noch nicht reif. Trotz aller Schwierigkeiten muss ich weiter. Ohne dich. Deine Probleme werden wohl kaum aufhören, mich zu beschäftigen. Nach wie vor wirst du mir fehlen und meine Gedanken besetzen. Ich stehe dennoch hier ... Und trete einen Schritt zurück in das Leben. In mein Leben, das ich so gerne mit dir geteilt hätte. Ich bemühe mich, keine weiteren Fragen zu stellen. Und bitte unterlasse es, diese in mir aufzuwerfen. Du hast eine Entscheidung getroffen, die deine war, aber nicht meine ist. Ich liebe dich von ganzem Herzen. Glaube mir, eines Tages werde ich bei dir sein. Wenn es so weit ist, gib mir ein Zeichen. Ich werde dich suchen und finden. Bis dahin schenk mir die Zeit, die ich brauche. Und bestärke mich in meinem Willen, nicht aufzugeben. Für immer deine kleine Schwester und beste Freundin. Winselnd vergrub ich mein tränenverschmiertes Gesicht an Pascals Brust. Obwohl er Lukas nicht hat kennenlernen können, musste er mitweinen. Vor Aufbruch klemmte ich die Fotos mühsam hinter das Herz und sah ein letztes Mal in das lachende Gesicht meines Bruders. Es bekümmerte mich, dass er oftmals sarkastisch, abweisend und nähescheu war. Ich hätte ihn gerne mal so richtig innig umarmt. Er hingegen hatte es stets bevorzugt, mir kumpelhaft auf die Schultern zu klopfen. Eigentlich weiß ich recht wenig über ihn und seine Gefühlswelt. Nun ist es zu spät dafür, mehr in Erfahrung