Nina Heick

REISE OHNE ZIEL


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      25. Dezember Die wenigen Tage vor Weihnachten waren ziemlich aufreibend. Ich begleitete Pascal in seine Heimat, um seine Familie zu besuchen. Sein Vater verhielt sich unverändert. Alle paar Minuten vergaß er, was wir besprochen hatten. Und auch, dass sein Sohn seit bereits sechs Jahren in Hamburg lebt, entfiel seiner Erinnerung. Wir stellten ihm Fragen zu seiner Frau, seinem Beruf und zu Paschis Schwester. Erst beim Abschied zeigte er sich emotional gerührt und mochte sich kaum aus unserer Umarmung lösen. Mir war klar, dass seine Geste, mir einen Kuss auf den Mund zu geben, unbewusst geschah. Dennoch empfand ich sie als grenzüberschreitend. Wir standen uns noch nicht nah genug, als dass eine solche Intimität angemessen wäre. Ihn überhaupt in diesem Zustand zu erleben, wo ich ihm, bevor der Unfall passierte, erst viermal begegnet war, widerstrebte mir eigentlich. Ich tat es meinem Partner zuliebe. Paschi und ich schlenderten eine Weile über den Dresdner Weihnachtsmarkt. Im Anschluss trafen wir uns mit seiner Mutter im Café. Es irritierte mich, wie freudlos wir von ihr empfangen wurden und wie flapsig sie sich im Gespräch äußerte, während ihr die weißen, strohigen Haare flusig zu Berge standen. Paschi war zu Recht distanziert. Von seiner Schwester hatte er erfahren, dass ihrer beider Ma ihn nie wirklich geliebt hätte. Weil sie in Bezug auf ihn grundsätzlich desinteressiert und kühl zu sein scheint, kann ich mir gut vorstellen, dass viel Wahres dran ist. Aber auch mir gegenüber benahm sie sich gleichgültig und teilnahmslos. Schon in der Vergangenheit witterte ich, wie kleinkariert, gastunfreundlich und egozentrisch sie ist. Ihre Nettigkeit wirkte nicht selten aufgesetzt. Die Situation war angespannt, ich fühlte mich hilflos unter der erzwungenen Konversation und bemühte mich, ’nen lockeren Austausch herzustellen – im Vermeiden einer Ausuferung. Sobald sich Pascals Tonlage vor Wut verschärfte, trat ich ihm gegen das Schienbein und wechselte ruckartig das Thema. Es ist fruchtlos, sie auf ihr Verhalten anzusprechen, denn es liegt ihr fern, sich selbst zu reflektieren. Auf der Zugfahrt ließ er seinen Dampf ab. Dass ihm seine Mutter weder ein Geschenk überreicht noch uns ein frohes Fest gewünscht hatte, verschlug auch mir die Sprache. Ich riet, zukünftig auf die lange Reise zu verzichten. Ich jedenfalls würde sie ungern wieder auf mich nehmen, nur um diese Strapazen aushalten zu müssen, zumal es nicht meine Aufgabe sei, mich in deren Angelegenheiten einzumischen. Den darauffolgenden Tag verbrachte ich auf der Weihnachtsfeier der Wohnungslosenhilfe. Ganz überraschend hatte ich kurz vorher erfahren, dass ich mein Praktikum in einer anderen Einrichtung, bei der ich mich gerade erst beworben hatte, schon nach den Weihnachtsferien weitermachen darf. Bei einer Beratungsstelle für drogengebrauchende und sich prostituierende Frauen. Im Januar geht’s los. Mein Chef wusste bereits Bescheid, meine Kollegen mussten erst noch in Kenntnis gesetzt werden. Nach dem Essen hielt ich eine kurze Rede, bei der ich mich für die Zusammenarbeit bedankte und meine Entscheidung für den Wechsel begründete. Beinahe bereute ich den Entschluss, da ich mit so viel Bedauern nicht gerechnet hätte. Jeder Einzelne erhob sich und trat vor, um mich zu drücken und mir alles Gute zu wünschen; die Türen stünden immer offen. Besonders bewegten mich die Zeilen auf der Postkarte meines Chefs: Liebe Victoria, vielen Dank für deine Kreativität und offene, menschliche Art. Du hast etlichen Besuchern ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Der 24. bei Susi verlief harmonisch. Wir tranken den letzten Glühwein in diesem Jahr, machten eine kleine Bescherung und kochten französisches Huhn zu Rosmarinkartoffeln. Mom ist enttäuscht darüber, dass ich so selten bei ihr zu Hause bin, weil ich mich davor ängstige, an meine Kindheit zurückerinnert zu werden. Daran, wie unsere kleine Familie zerbrach. Konnte sie überhaupt zerbrechen, wo es sie eigentlich nie gegeben hat? Vielleicht fürchte ich mich auch vor den möglichen Déjà-vu-Erlebnissen dieser schwierigen Zeit nach der Trennung. In der ich die Not meiner dann alleinstehenden, unsicheren, auf mich zentrierten Mutter noch heftiger miterlebte, für sie da sein, sie trösten musste und im Pubertätsalter die Essstörung für mich entdeckte. Wie wir vor dem Fernseher saßen und sie mich ermahnte, während ich unkontrolliert den Kühlschrank leerte – nicht ahnend, nicht wissen wollend oder könnend, dass ich den ganzen Fraß wieder ausgöbeln würde. Ja ... für das ihrer Generation typische Wegsehen hasste ich sie damals manchmal. Für das Verklemmtsein, die Scham und Sprachlosigkeit. Dafür, dass die für mich entlastende Offenbarung meines Leids, das sie aus Überforderung in dem Umfang nicht nachvollziehen konnte, sondern zu meiner Enttäuschung, genau wie Klaas, kritisierte. Und dafür, dass durch ihre Sorge mein Leid schnell zu ihrem Leid wurde. Was mich wiederum reumütig, grantig und verschlossen machte. Gegen den eigenen, verbal und präverbal mitgeteilten, von meinen vermeidenden Eltern unbeachteten, in mir aufgestauten, abgespaltenen Schmerz rebellierend, begann ich hinter verschlossenen Türen mit sechzehn das Ritzen. Das tat ich drei Jahre später (kurz nach meinem Auszug, der das Verhältnis zwischen Mama und mir besserte, das längst nicht immer so rosig war, wie mein Vater spekulierte) ebenfalls. An einem Abend im Winter, an dem die Wände immer näherkamen, der Raum kleiner und kleiner wurde. Bis er mich beengte und zerquetschte. Ich rief Susi an und beichtete die Selbstverletzung. Innerhalb von zwanzig Minuten klingelte sie an meiner Wohnungstür, sammelte mich ein und brachte mich zu Bett. Mit den Worten: „Ich hab mir immer gewünscht, dass du dich hier wohl fühlst. Gehofft, dass du mich besuchst, bei mir schläfst, dich von mir bekochen lässt ... Aber du bist nicht gekommen.“ Danach starrte ich – wie ich es voller Schuldgefühl wegen Christinas Ablehnung schon als Eineinhalbjährige tat – in die gespenstische Dunkelheit. In das Jugendzimmer, das ehemals einem Kunstmuseum geglichen und meine komplette Geschichte erzählt hatte, und von dem ich zum Tschüss-Sagen gern noch ein Foto gemacht hätte. Alle Poster, alle Bilder, alle blutverschmierten Postkarten, alle getrockneten Rosen von Exgeliebten, alle Rasierklingen ... futsch. Ausgerottet. Ohne mich zu involvieren. Back in the present: Am Nachmittag stießen ihre beste Freundin und mein Partner dazu. Wir tranken, ulkten, quasselten und blieben bis nachts. Es war so schön, dass ich am liebsten geblieben wäre. Im Auto auf dem Heimweg mit Paschi fing ich aus heiterem Himmel zu flennen an. Plötzlich überfiel mich die entsetzliche Einsicht, dass ich den Verlust von Susi niemals verkraften könnte. Seitdem Papa und mein Bruderherz fort sind, werde ich öfter von der Furcht ergriffen, auch Mom irgendwann loslassen zu müssen. Nichts macht mir mehr Angst als ihr Tod. Denn sie stellt einen Großteil meines Lebenssinns und -inhalts dar. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn es sie nicht gegeben hätte. Und ich weiß auch nicht, ob und wie ich weiter existieren kann, wenn sie unter der Erde liegt. Susi hat mir die Liebe geschenkt, zu der weder meine Erzeugerin noch mein Adoptivvater fähig waren. Natürlich ist sie nicht unfehlbar – wer ist das schon? Nichtsdestotrotz beschützte sie mich in Gefahrensituationen und nahm jeden Kummer auf sich, um mir das Gefühl von Geborgenheit zu geben. Auch wenn sie selbst die große Liebe nicht in einem Mann hat finden können – no idea, ob sie mir bereits begegnete oder jemals begegnen wird –, so aber haben wir die große Liebe füreinander gefunden. Eine unerschütterliche Liebe zwischen einer Mutter und ihrem Kind, wie sie stärker gar nicht sein kann. Ich fühle mich verantwortlich dafür, ihr Leben erschwert zu haben. Wo sie es doch in ihren zwei Ehen schon hart genug hatte. Die vielen Jahre, die sie um meine Gesundheit bangte, die vielen Momente, in denen ich sie mit meinem Unglück bedrückte und glaubte, sie würde an ihm sterben. Ich hätte ihr eine Tochter gewünscht, die stabiler und einfacher ist als ich; die sie nicht ununterbrochen mit neuen Problemen belastet. Oder wenigstens einen starken Gatten, der ihr einen Teil dieser Hürden abnehmen könnte. Umso mehr bewundere ich Mama für ihre Bereitschaft, mit mir die Kommunikation zu lernen, und für das unermüdliche Durchhalten. Was wir alles überwanden ... Wie oft ich auch daran dachte, meinem Leben ein Ende zu setzen ... Ich könnt’s allein aus dem Grunde nicht tun, das ihre zu bewahren. Es wäre fahrlässig. Unter Tränen hatte sie mal gewimmert: „Hör auf, über deinen Selbstmord zu reden. Dann kann ich mir ja gleich die Kugel geben!“ Wieso kann ich es nicht lassen, mir selbst zu schaden? Wenigstens für Mutti ... Eines Tages wird sie eventuell meinetwegen nicht bereit sein, mit einem guten Gefühl zu gehen. Daher hoffe ich für uns beide, dass das Schicksal vorgesehen hat, mich bis dahin zu festigen und meinen Weg zu finden. Ständig frage ich mich, ob ich Mama häufig genug in die Arme nehme, ob sie mehr Streicheleinheiten und Nähe ersehnt, ob sie sich in den Schlaf weint, ob sie wohl einsam ist in ihrem kleinen Zuhause, ob sie ihre Eltern, die lange vor meiner Zeit gestorben sind, vermisst, und ob sie es mir sagen würde, wenn sie erführe, unheilbar krank zu sein. Was mich jetzt schon in minimalste Staubpartikel zerbröselt, ist die Vorstellung von dem Augenblick, in dem ich mir vorwerfe, nicht ausreichend meine Zuneigung bewiesen und mich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt zu haben.