Erhard Schümmelfeder

AUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND


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in den Bü­chern der Bibliothek zu lesen, da die meisten ohne­hin Analphabeten waren, doch erließ Matcho Nolo vorsorglich auf meinen Be­fehl hin einen zusätzlichen Paragraphen in der Palastordnung, der die öffentli­che Auspeitschung als Strafe bei Miss­achtung vor­sah. Nur einmal beob­achteten wir, wie Macuthee einen schweren Le­derband, der einige Zen­timeter im Regal über­stand, zurückschob in seine vor­geschrie­bene Position.

      »Soll ich ihn festnehmen lassen?«, fragte mich Matcho Nolo aufgeregt.

      »Abwarten!«, befahl ich in der Hoffnung, Macuthee werde die Palastordnung missachten und einen Band herausnehmen. - Entweder war er ge­schickter als wir annahmen, oder er in­teressierte sich nicht mehr für die verbotenen Bücher, die ihm, einem Gebildeten, wie eine unwiderstehliche Versu­chung er­scheinen mussten.

      Sehr bald fanden wir den Grund seines plötzlichen Desinteresses heraus. Umgeben von wohlduf­tenden Mädchen in wehenden Gewändern, die je­den Tag in einem Vorhof der Biblio­thek für fotogra­fierende Tou­risten tanzten, ließ Macuthee die Bü­cher Bücher sein und hatte nur noch Augen für De­lila, eine blutjunge Tänzerin, die durch ihre Anmut und Grazie das Ent­züc­ken aller Besucher hervorrief. Geblendet von der Schönheit Delilas, vernachlässigte Macuthee zeitwei­lig seinen Dienst, versank in Tagträume­reien, irrte verstört mit seiner Fliegen­klappe durch die langen Bü­cherregal­reihen, ver­zehrte sich vor heimlicher Liebe zu ihr, die, wie von einer magischen Kraft beherrscht, immer öfter seine Nähe suchte. Sobald sie ihn be­merkte, begannen ihre Augen unter dem Schlei­er zu fun­keln, ich beobachtete es ganz deutlich. Mit Blicken freundeten sich die beiden an, um­armten sich und sagten mit den Augen Unsag­bares, das hier am Hofe strikt unter­sagt war.

      Eines Tages, während einer Vorführpause, zog De­li­la einen farbigen Bildband über Venedig aus ei­ner lan­gen Bücherreihe und blätterte darin, schein­bar wiss­be­gierig, während sich Macuthee in seiner Fliegenfän­ge­runiform unauf­fällig näherte. Gebannt sahen Matcho Nolo und ich am Bildschirm diese unabwendbare Be­geg­nung zweier Liebender. Ich er­höhte die Laut­stärke am Regler des Monitors, um jedes Wort, das sie mit­einander wechseln würden, hören zu können.

      »Das ist die Seufzerbrücke«, hörte ich Macuthee sa­gen. Zwischen ihnen bestand bereits eine gewisse Vertrautheit.

      »Wie belesen du bist!«, sagte das Mädchen. »Warum heißt sie denn Seufzerbrücke

      »Das weiß doch jedes Kind«, antwortete Macuthee.

      »Nun«, sagte Delila, »ich weiß es nicht. - Außerdem«, fügte sie mit einem verliebten weiblichen Un­terton hinzu, »bin ich kein Kind mehr!«

      Das stimmte. Sie war ein schönes Mädchen und blickte ihn mit verführerischen Augen an, die mich daran erinnerten, dass ich selbst in den Angelegenheiten der Liebe noch ein recht unbe­schriebenes Blatt war.

      Macuthee flüsterte: »Wenn die Gefangenen über die Brücke ins gegenüberliegende Gefäng­nis geführt wur­den, warfen sie einen letzten Blick auf das Was­ser und die Stadt und seufzten über die verlorene Freiheit.«

      »Stimmt das?«, fragte ich Matcho Nolo, der die Ach­seln zuckte und einen Finger in den Mund steckte.

      »Verzeiht, Hoheit«, stammelte er verlegen, »ich bin ein Unwissender.«

      Es ärgerte mich, weil er, der immerhin das ho­he Staatsamt des Ministers für alles Mögliche bekleidete, nicht einmal diese simple Frage be­antworten konn­te.

      »Nachprüfen!«, befahl ich ihm.

      Es war, als hätte meine erregte Stimme die beiden Liebenden draußen in der kathedralenartigen Bi­blio­thek gewarnt, denn sie trennten sich mit eiligen Schritten voneinander und ver­schwanden in einem Seitengang, der von keiner Kamera überwacht wurde.

      »Stimmt alles haargenau, Hoheit!«, meldete Matcho Nolo mir nach einer Stunde triumphierend. »Sollen wir sie festnehmen lassen?«

      Dass die beiden miteinander gesprochen hat­ten, war nur ein geringfügiges Vergehen und hätte Macuthee allenfalls zwanzig Stockschläge auf die nackten Fuß­sohlen eingebracht - daher sagte ich nur: »Abwarten!«

      »Wie Eure Hoheit befehlen!«

      Die folgenden Tage brachten eine merkwür­dige Ver­änderung der Lage, denn Vater hatte auf dunkelhaften Wegen, möglicherweise durch den Brief eines empör­ten Dorflehrers aus der Provinz, von der Belesenheit des Fischersohnes aus Mescana gehört, ließ ihn wie­derholt zu sich kommen und führte lange Gespräche mit ihm, über die am Hofe nur schwätzerhafte Gerüch­te kursierten. Allmählich drangen Einzelheiten je­ner Unterredungen an die Öffentlichkeit, die Matcho Nolo und ich in ver­schwörerischem Beisammensein mitein­ander be­sprachen. Es erschien uns höchst sonderbar, ja, be­fremdlich, als wir erfuhren, Vater habe einem einfachen Fliegenfän­ger sein Leid darüber geklagt, umgeben zu sein von unfähigen, schläfrigen und korrupten Beamten. Macuthee solle dem Sultan von Sali­ma eine Reihe dubioser Verbesserungsvorschlä­ge für die Amts­füh­rung unterbreitet haben, die mit einer Revolution gleichzusetzen seien: Durch die Einführung von soge­nannten Not­standsgesetzen sei es möglich, binnen eines ein­zigen Jahres zu einem perfekt orga­nisierten, rasch und effektiv arbeitenden Beamten­wesen in Salima zu gelangen. Die Prügelstrafe für korrup­te Beamte sollte unter dem Gesetz Wer nicht hö­ren will, muss fühlen! eingeführt werden. Schläf­ri­gen Staatsdienern sollte der Beförderungsstop dro­hen: Wer rostet, der rastet! Der Beginn der Arbeits­zeit, im Behördenapparat bisher lax ein­gehalten, sollte festgelegt werden mit dem neuen Gesetz Mor­genstund hat Gold im Mund! Die Liste der einzufüh­renden Notstandsgesetze war sehr lang und umfasste auch andere gesellschaftliche Bereiche; sie endete mit eine Aufhe­bung des Gesetzes, das die ver­botenen Bücher nur den Besten erlaubte sowie mit der Ein­rich­tung öffentlicher Bibliotheken für jedermann - : unvorstellbar, denn Bücher galten als verwerf­lich, gerade dann, wenn sie die fragwürdigen Weis­heiten ausländischer Kulturkreise beinhal­teten - so lauteten die überlieferten Gebote unse­rer Vorfahren. Es interes­sierte mich, wie Vater auf diese Vor­schläge reagiert hatte oder noch reagieren würde.

      Einige Tage geschah nichts Nennenswertes bei Hofe. Matcho Nolo und ich glaubten, alle Gerüchte über den Inhalt jener Gespräche zwischen meinem Vater und Macuthee seinen mög­licherweise nichts als leeres Gerede, da der Fliegenfänger - wie bisher - sei­nen Dienst zu verrichten begann.

      »Sollen wir ihn weiter beobachten?«, fragte Matcho Nolo.

      »Dranbleiben!«, befahl ich.

      Tatsächlich ereignete sich noch am selben Abend etwas für Macuthee Belastendes, das der Mi­nister für alles Mögliche und ich gebannt am Bild­schirm verfolg­ten: Es war ein heimliches Gespräch zwischen Macuthee und Delila, das sie neben einer Marmor­säule führten, als sie sich unbeobachtet fühlten.

      »Liebst du mich wirklich?«, fragte das Mäd­chen.

      »Natürlich«, sagte Macuthee.»Warum fragst du?«

      »Ich habe dich beobachtet. Du blickst auch den an­de­ren Mädchen nach!«

      »So, tue ich das?«

      »Versuche nicht zu leugnen!«

      »Na schön, ich gestehe reumütig.«

      »Genüge ich dir denn nicht?«

      »Du kannst Fragen stellen! Selbstverständlich genügst du mir.«

      »Dann verstehe ich nicht, weshalb du den anderen Mädchen nachblickst.«

      »Darin liegt keine böse Absicht«, versuchte Macuthee zu erklären.

      »Was sonst?«

      »Ein Mann, der einer Frau nachblickt, stellt ledig­lich theoretisch fest, was sie verspricht und was sie even­tuell halten könnte. Das ist alles.«

      Diese Antwort schien Delila zu befriedigen. Mir aber ließ sie keine Ruhe.

      »Stimmt