Erhard Schümmelfeder

AUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND


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und las in ei­nem Buch. Ich ging hinunter auf die Schulwiese und näherte mich langsam dem Fischersohn aus Mescana, der mir, obwohl wir nur wenige Worte seit seiner An­kunft miteinander gewechselt hatten, so vertraut war wie ein Bruder. Eine Fliege setzte sich auf meine rechte Hand. Ich schnippte mit den Fin­gern, um sie zu vertreiben. Macuthee blickte auf, als er mich näherkommen hörte, lächelte mich freundlich an. Auf diesem Platz unter dem Man­gobaum, so erklärte ich ihm, hätte ich vor eini­ger Zeit gesessen und eine Apfelsine gegessen; dieser Platz sei ein herrlicher Ort zum Studieren. Macuthee sagte, für heute habe er genug gele­sen, er würde jetzt viel lieber Entenwerfen üben. Er fragte mich, ob ich auch Lust dazu hätte. Ja, sagte ich. Er ließ das Buch sinken, schlug es zu und richtete sich auf. Wir sam­melten ein paar flache Steine und warfen sie schräg über die glatte Fläche des glitzernden Sees. Wir ver­folgten den Flug der Steine, die über das Wasser hüpften, und zählten laut mit, wie oft sie die Oberfläche berührten. Macuthee schaffte mei­stens neun, einmal sogar elf Sprünge. Mir gelan­gen oft fünfzig, zweimal sogar dreiundfünfzig hüpfen­de Sprünge. Im En­tenwerfen war ich - seit ich denken konnte - un­schlagbar und hoffte darauf, es auch noch eine lange Weile zu bleiben ...

      MISTER MILLER IN AMERIKA

      oder

      DIE SCHÖNHEIT DER AUGENBLICKE

       Zweimal im Jahr, wenn Mr. Miller mit eiligen Schrit­ten und buchstäblich in letzter Minute seine Maschine für den Flug Frankfurt - New York erreichte, steckte in seiner Mantelinnenta­sche ein zur Papierkeule zusam­mengerolltes Magazin, das er un­bemerkt im Men­schenge­wühl am Flughafenkiosk - ohne es zu bezahlen - in seinen Besitz gebracht hatte. Diese Bagatell­delik­te, wie er sie zu nennen pflegte, waren in der Tat die einzigen Tugendabweichungen, die ihm seine Reisen ins Land der unbegrenzten Mög­lichkei­ten bescherten. Bedrohlicher waren die sinkenden Verkaufszahlen, welche ihm sein New Yorker Verleger, John D. Irving, bei der Ankunft stets zu unterbreiten pflegte. - Ein neues Buch mit Geschichten war fällig; an dieser lebens­wichtigen Notwendigkeit führte kein Weg vor­bei. Aber woher nahm man nur all die zün­denden Ideen und überzeugenden Pointen, wenn man nicht dann und wann dem tristen Alltag einen zufälli­gen Einfall stahl oder der Wirklichkeit eine Pointe be­scherte?

      Mr. Miller bemerkte kaum den Start der Maschine, die mit heulenden Motoren zum feuerroten Himmel auf­stieg. Zu seiner Linken, auf der gegenüber­liegenden Gangseite, saß ein sommersprossiger rothaariger Junge, der Mr. Miller aufmerksam in Augenschein nahm. Mr. Miller den Bengel mürrisch an und kniff ein Auge zu, des­sen Lid sich weigerte, in seine ursprüng­liche Stellung zu­rückzuklappen. Zu seiner Rechten hatte sich eine ge­wichtige Dame unbestimmba­ren Alters in einer selbst­gefälligen Weise breit gemacht. Ihr Hut, geschmückt von einem Vogelnest, wirkte anachronistisch.

      Er entfaltete sein so­eben erworbenes Magazin auf den Knien, überflog flüchtig die Rubriken Klatsch, Mode, Stricken, Ko­chen, Bac­ken und gelangte mit einem Seufzer zum Kreuzworträtsel, das - wie immer - eine nützli­che Übung vor einem kurzen Schläfchen war.

      Spanischer Maler mit vier Buchstaben - - - - Mr. Miller gähnte. Der Banalität in Klatschmagazi­nen müssten gewisse be­hördliche Grenzen ge­setzt werden, dachte er. Artig setzte er dennoch den vergoldeten Kugelschreiber aufs Papier, doch hinderte die schwere Hand der Vogelnest-Dame mit dem schilfgrünen Kostüm ihn am Schreiben.

      »Sie gestatten doch ... Das ist meiner«, sagte sie und nahm das Schreibgerät mit einer besitzergreifenden Geste an sich. »Ein Erbstück«, fügte sie mit leisem Vorwurf hinzu und verstaute je­nes in dem roten Le­deretui, das sie in ihre Handtasche schob.

      »Ich bitte um Vergebung, gnädige Frau. Ich war in Gedanken.«

      Argwöhnisch räusperte sich die Dame und warf Mr. Miller einen missbilligenden Blick zu, der nicht nur ihm, sondern dem ganzen männli­chen Geschlecht gelten mochte. Die gewichtige Dame konn­te eine wiederauf­erstandene Gestalt aus einer seiner Geschichten sein - der fleisch­gewordene Entwurf der Rosi Oldfield aus Die Ermordung meiner Frau, von ihrem Mörder zynisch charak­teri­siert mit den Worten: »Rosi, auch Rosinante ge­nannt - oder, um es mathematisch schlicht und ex­akt zu formulieren: Menge mal Breite mal Höhe.«

      Der Rotschopf erfasste Mr. Millers Verdruss und blies die Wangen zu einem Ballongesicht auf. Mr. Miller nickte. In diesem Punkte bestand also zwischen ihnen völlige Übereinstimmung.

      Der Flug über den Atlantik, versüßt durch das Bordmenü Nr. 3 (Hawai-Toast mit Tomatensa­lat), wäre gewiss ohne nennenswerte Zwischen­fälle verlau­fen, hätte Mr. Millers Hand nicht zu­fällig in der Nähe der Tasche seiner Nachbarin gelegen, als diese, nach dem Verzehr der Menüs Nr. 11 und 12 (Rumpsteak, Reis + Kürbisravioli in Walnussbutter), plötzlich aus ih­rem Schlaf erwachte, die Situa­tion erfasste und die Tasche an ihre Brust riss.

      »Ich muss doch sehr bitten«, sagte sie scharf tadelnd.

      »Oh, ich muss mich erneut entschuldigen«, sagte Mr. Miller höflich-verlegen.

      »Erst will ich nachsehen, ob etwas fehlt!«

      »Aber Sie werden doch nicht glauben, dass ich -«

      »Genau das glaube ich! - Ich habe Sie beobach­tet, mein Herr.«

      Ein Murren durchlief die neugierig geworde­nen Pas­sagiere, die verständlicherweise die Hälse zu recken begannen.

      »Ich bitte Sie, nicht so laut - «, versuchte Mr. Miller die Situation zu retten.

      »Ich schreie das ganze Flugzeug zusammen, wenn auch nur ein Cent aus meiner Börse fehlt!«, versprach die Dame mit einem drohenden Unterton.

      Sichtlich überrumpelt von dem erdrückenden Vor­wurf, fand Mr. Miller seine Beherrschung zurück. Fie­berhaft durchkramte die Dame unterdessen mit ihren beringten Fingern den Inhalt ihrer Ta­sche.

      »Nun«, fragte Mr. Miller, »fehlt etwas?«

      »Als ob Sie das nicht wüssten!«

      »Darf ich Ihnen vielleicht behilflich sein, meine Herr­schaften?« Das freundliche Gesicht der Stewar­dess war immerhin tröstlich in dieser misslichen La­ge.

      »Es fehlt der 100-Dollar-Schein!«, stieß die Da­me mit echt erscheinender Empörung hervor.

      »Offensichtlich ein Missverständnis«, vertei­digte Mr. Miller sich.

      »Kein Missverständnis. Das ist Diebstahl!«

      »Bitte, meine Herrschaften, beruhigen Sie sich.«

      »Ich verlange eine Untersuchung!«

      »Ich bitte darum«, sagte Mr. Miller, räusperte sich und rückte seine Krawatte zurecht. Das Ma­gazin hatte er erneut zu einer Keule zusammen­gerollt. Ei­ne peinli­che Situation wie diese hatte er bislang noch nie erlebt.

      »Ich kann Ihre Verstimmung verstehen«, sagte die Stewardess vermittelnd. An Mr. Miller gewandt, fügte sie hinzu: »In diesem Fall müsste eine Leibesvisi­tation durch die New Yorker Flughafenbehörde durchgeführt werden.«

      »Das will ich hoffen«, sagte Mr. Miller mit Nachdruck. »Diesen Vorwurf lasse ich nicht auf mir sit­zen!«

      »Hunder Dollar! Ich bin nur ganz kurz eingenickt.«

      Die ungerechte Anklage verlangte nach einer Konse­quenz.

      »Fräulein, ich bitte darum, mir einen anderen Sitzplatz zuzuweisen.«

      »Selbstverständlich, mein Herr.«

      Gedacht, gesagt, getan. An der Seite des Rotschopfes streckte Mr. Mil­ler kurz darauf die Beine aus und durchblätterte unter den argwöhnischen Blicken der erzürnten Dame sein Maga­zin, das ihm ihren Anblick für eine Weile ersparte.

      »Unsympathische alte Dame, nicht wahr?« Der Junge schob seinen Kopf an der Zeitschrift vor­bei und blickte Mr. Miller mit großen grünen Augen an.

      »Größter Vulkan der Welt?«, forschte Mr.