und las in einem Buch. Ich ging hinunter auf die Schulwiese und näherte mich langsam dem Fischersohn aus Mescana, der mir, obwohl wir nur wenige Worte seit seiner Ankunft miteinander gewechselt hatten, so vertraut war wie ein Bruder. Eine Fliege setzte sich auf meine rechte Hand. Ich schnippte mit den Fingern, um sie zu vertreiben. Macuthee blickte auf, als er mich näherkommen hörte, lächelte mich freundlich an. Auf diesem Platz unter dem Mangobaum, so erklärte ich ihm, hätte ich vor einiger Zeit gesessen und eine Apfelsine gegessen; dieser Platz sei ein herrlicher Ort zum Studieren. Macuthee sagte, für heute habe er genug gelesen, er würde jetzt viel lieber Entenwerfen üben. Er fragte mich, ob ich auch Lust dazu hätte. Ja, sagte ich. Er ließ das Buch sinken, schlug es zu und richtete sich auf. Wir sammelten ein paar flache Steine und warfen sie schräg über die glatte Fläche des glitzernden Sees. Wir verfolgten den Flug der Steine, die über das Wasser hüpften, und zählten laut mit, wie oft sie die Oberfläche berührten. Macuthee schaffte meistens neun, einmal sogar elf Sprünge. Mir gelangen oft fünfzig, zweimal sogar dreiundfünfzig hüpfende Sprünge. Im Entenwerfen war ich - seit ich denken konnte - unschlagbar und hoffte darauf, es auch noch eine lange Weile zu bleiben ...
MISTER MILLER IN AMERIKA
oder
DIE SCHÖNHEIT DER AUGENBLICKE
Zweimal im Jahr, wenn Mr. Miller mit eiligen Schritten und buchstäblich in letzter Minute seine Maschine für den Flug Frankfurt - New York erreichte, steckte in seiner Mantelinnentasche ein zur Papierkeule zusammengerolltes Magazin, das er unbemerkt im Menschengewühl am Flughafenkiosk - ohne es zu bezahlen - in seinen Besitz gebracht hatte. Diese Bagatelldelikte, wie er sie zu nennen pflegte, waren in der Tat die einzigen Tugendabweichungen, die ihm seine Reisen ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten bescherten. Bedrohlicher waren die sinkenden Verkaufszahlen, welche ihm sein New Yorker Verleger, John D. Irving, bei der Ankunft stets zu unterbreiten pflegte. - Ein neues Buch mit Geschichten war fällig; an dieser lebenswichtigen Notwendigkeit führte kein Weg vorbei. Aber woher nahm man nur all die zündenden Ideen und überzeugenden Pointen, wenn man nicht dann und wann dem tristen Alltag einen zufälligen Einfall stahl oder der Wirklichkeit eine Pointe bescherte?
Mr. Miller bemerkte kaum den Start der Maschine, die mit heulenden Motoren zum feuerroten Himmel aufstieg. Zu seiner Linken, auf der gegenüberliegenden Gangseite, saß ein sommersprossiger rothaariger Junge, der Mr. Miller aufmerksam in Augenschein nahm. Mr. Miller den Bengel mürrisch an und kniff ein Auge zu, dessen Lid sich weigerte, in seine ursprüngliche Stellung zurückzuklappen. Zu seiner Rechten hatte sich eine gewichtige Dame unbestimmbaren Alters in einer selbstgefälligen Weise breit gemacht. Ihr Hut, geschmückt von einem Vogelnest, wirkte anachronistisch.
Er entfaltete sein soeben erworbenes Magazin auf den Knien, überflog flüchtig die Rubriken Klatsch, Mode, Stricken, Kochen, Backen und gelangte mit einem Seufzer zum Kreuzworträtsel, das - wie immer - eine nützliche Übung vor einem kurzen Schläfchen war.
Spanischer Maler mit vier Buchstaben - - - - Mr. Miller gähnte. Der Banalität in Klatschmagazinen müssten gewisse behördliche Grenzen gesetzt werden, dachte er. Artig setzte er dennoch den vergoldeten Kugelschreiber aufs Papier, doch hinderte die schwere Hand der Vogelnest-Dame mit dem schilfgrünen Kostüm ihn am Schreiben.
»Sie gestatten doch ... Das ist meiner«, sagte sie und nahm das Schreibgerät mit einer besitzergreifenden Geste an sich. »Ein Erbstück«, fügte sie mit leisem Vorwurf hinzu und verstaute jenes in dem roten Lederetui, das sie in ihre Handtasche schob.
»Ich bitte um Vergebung, gnädige Frau. Ich war in Gedanken.«
Argwöhnisch räusperte sich die Dame und warf Mr. Miller einen missbilligenden Blick zu, der nicht nur ihm, sondern dem ganzen männlichen Geschlecht gelten mochte. Die gewichtige Dame konnte eine wiederauferstandene Gestalt aus einer seiner Geschichten sein - der fleischgewordene Entwurf der Rosi Oldfield aus Die Ermordung meiner Frau, von ihrem Mörder zynisch charakterisiert mit den Worten: »Rosi, auch Rosinante genannt - oder, um es mathematisch schlicht und exakt zu formulieren: Menge mal Breite mal Höhe.«
Der Rotschopf erfasste Mr. Millers Verdruss und blies die Wangen zu einem Ballongesicht auf. Mr. Miller nickte. In diesem Punkte bestand also zwischen ihnen völlige Übereinstimmung.
Der Flug über den Atlantik, versüßt durch das Bordmenü Nr. 3 (Hawai-Toast mit Tomatensalat), wäre gewiss ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen, hätte Mr. Millers Hand nicht zufällig in der Nähe der Tasche seiner Nachbarin gelegen, als diese, nach dem Verzehr der Menüs Nr. 11 und 12 (Rumpsteak, Reis + Kürbisravioli in Walnussbutter), plötzlich aus ihrem Schlaf erwachte, die Situation erfasste und die Tasche an ihre Brust riss.
»Ich muss doch sehr bitten«, sagte sie scharf tadelnd.
»Oh, ich muss mich erneut entschuldigen«, sagte Mr. Miller höflich-verlegen.
»Erst will ich nachsehen, ob etwas fehlt!«
»Aber Sie werden doch nicht glauben, dass ich -«
»Genau das glaube ich! - Ich habe Sie beobachtet, mein Herr.«
Ein Murren durchlief die neugierig gewordenen Passagiere, die verständlicherweise die Hälse zu recken begannen.
»Ich bitte Sie, nicht so laut - «, versuchte Mr. Miller die Situation zu retten.
»Ich schreie das ganze Flugzeug zusammen, wenn auch nur ein Cent aus meiner Börse fehlt!«, versprach die Dame mit einem drohenden Unterton.
Sichtlich überrumpelt von dem erdrückenden Vorwurf, fand Mr. Miller seine Beherrschung zurück. Fieberhaft durchkramte die Dame unterdessen mit ihren beringten Fingern den Inhalt ihrer Tasche.
»Nun«, fragte Mr. Miller, »fehlt etwas?«
»Als ob Sie das nicht wüssten!«
»Darf ich Ihnen vielleicht behilflich sein, meine Herrschaften?« Das freundliche Gesicht der Stewardess war immerhin tröstlich in dieser misslichen Lage.
»Es fehlt der 100-Dollar-Schein!«, stieß die Dame mit echt erscheinender Empörung hervor.
»Offensichtlich ein Missverständnis«, verteidigte Mr. Miller sich.
»Kein Missverständnis. Das ist Diebstahl!«
»Bitte, meine Herrschaften, beruhigen Sie sich.«
»Ich verlange eine Untersuchung!«
»Ich bitte darum«, sagte Mr. Miller, räusperte sich und rückte seine Krawatte zurecht. Das Magazin hatte er erneut zu einer Keule zusammengerollt. Eine peinliche Situation wie diese hatte er bislang noch nie erlebt.
»Ich kann Ihre Verstimmung verstehen«, sagte die Stewardess vermittelnd. An Mr. Miller gewandt, fügte sie hinzu: »In diesem Fall müsste eine Leibesvisitation durch die New Yorker Flughafenbehörde durchgeführt werden.«
»Das will ich hoffen«, sagte Mr. Miller mit Nachdruck. »Diesen Vorwurf lasse ich nicht auf mir sitzen!«
»Hunder Dollar! Ich bin nur ganz kurz eingenickt.«
Die ungerechte Anklage verlangte nach einer Konsequenz.
»Fräulein, ich bitte darum, mir einen anderen Sitzplatz zuzuweisen.«
»Selbstverständlich, mein Herr.«
Gedacht, gesagt, getan. An der Seite des Rotschopfes streckte Mr. Miller kurz darauf die Beine aus und durchblätterte unter den argwöhnischen Blicken der erzürnten Dame sein Magazin, das ihm ihren Anblick für eine Weile ersparte.
»Unsympathische alte Dame, nicht wahr?« Der Junge schob seinen Kopf an der Zeitschrift vorbei und blickte Mr. Miller mit großen grünen Augen an.
»Größter Vulkan der Welt?«, forschte Mr.