Gabriele Plate

Im Galopp durchs Nadelöhr


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außergewöhnlich stark gefordert und arbeitete viele Stunden mehr als es vertraglich festgelegt war. Er war keine Ausnahme, die anderen Angestellten hatten ebenfalls mehr zu leisten. Außerdem wies das Leistungsverzeichnis des Bauvorhabens erhebliche Mängel auf. Es gab Posten in seinem Sektor zu erstellen, die im Verzeichnis nicht erwähnt waren. Wenn er nicht rechtzeitig darauf hinwies und sich bei der selbstgefälligen Oberbauleitung ausreichend Gehör verschaffte, gäbe es eine Menge Ärger. Das hieß zunächst, er musste zusätzlich, spät abends noch an seinem Schreibtisch hocken.

      Eines Sonntags, in einem unvorhergesehenen Augenblick, schnellte sein Penis über den schimmernd kobaltblauen Tassenhenkel hinweg. Karl hatte geträumt, nicht schnell genug reagiert, er schaffte es nicht mehr bis ins Bad und hatte in ihr Trinkgefäß ejakuliert. Ein Rest tröpfelte auf das elegante Firmenlogo seines Herrenslips, auf das vorne sichtbar angebrachte Etikett, das in seinen Kniekehlen hing. Unterhalb des Logos war London-Paris-New York noch verschwommen zu erkennen. Tokio war komplett im Sperma erstickt.

      Am Sonntag darauf fehlte die Tasse. Sie stand nicht an ihrer gewohnten Stelle. Ein schlimmer Sonntag. Karl suchte überall, auch in ihrem Geräteschuppen. Dann streifte er mutlos durch die Hütte, auf der Suche nach einem Ersatz-Fetisch und beendete diesen trüben Tag mit ihrem Hausschuh an sich gepresst, auf dem neuen Sofa. Auf den Gebrauch dieser leichten Schuhe mit weicher Ledersohle, es waren eher Mokassins als Hausschuhe, hatte er bestanden, und er hatte sie extra etwas zu groß gekauft. Er wollte dieses Wesen nicht mehr barfuß durch die Räume schleichen wissen, denn ihr Straßenschuhwerk ließ sie immer vor der Haustür stehen, bevor sie das Haus betrat. Karl wollte, wenn er zu Hause war, unbedingt Luz´ Schritte hören.

      Da diese Schuhe beabsichtigt sehr locker saßen, schlurfte sie ein bisschen. Karl liebte dieses Schlurfen. Sein kleiner, kläglicher Ersatz für die verschwundene Tasse. Er konnte dieses Geräusch nur etwa eine Stunde täglich genießen, mittags während des Essens und am Abend nach seiner Arbeit, dann verstummte es. Sie verließ ihn. Und er fühlte dieses allabendliche Verlassen bis in sein Knochenmark hinein, als knabberte ein ekliger Virus darin. Er fand nicht den Moment, um sie zur Nacht in seine Arme zu bitten. Die Furcht vor der Ablehnung würgte ihn, er bekam kein Wort heraus. Und husch, war sie wieder hinaus und in der Nacht verschwunden.

      Eines Tages fragte er nach der Tasse. Luz sah ihn mit einem feurigen Blick an. „Ich habe die Tasse beerdigt“, sagte sie. Dann presste sie die nächste Zitrone aus.

      Zitronensaft, aus zwei Kilo Zitronen, die sie gemeinsam auf dem Markt gekauft hatten. Zitronensaft für das „ceviche“, ein Gericht, das sie nun öfter für ihn zubereitete. Ein Kilo roher Katzenhai, ein Kilo rohe Zwiebeln, feingeschnitten und in Salz gewaschen und viele kleine scharfe Chilischoten, alles verschwand bis zum Kragen bedeckt im Zitronensaft. Dazu kochte sie ihm die Yucca, eine Art längliche Süßkartoffel. Karl hatte sich schon längst an ihren peruanischen Speiseplan, den sie ihm vorgeschlagen hatte, gewöhnt. Er fragte sie sogar nach dem ceviche und naschte dann während der Zubereitung. Ein Stückchen roher Fisch, kurz in den sauren Saft gedippt, mit etwas Salz darüber und schwupps, steckte er sich schon mal diesen Bissen in den Mund, bevor alles fertig vor ihm stand. Karl fühlte sich verwegen dabei. Er kaute genüsslich, stand neben ihr und sah sie gierig an. Sie sah nicht hin.

      Heute war er etwas früher von der Baustelle zurückgekommen und konnte dem abendlichen Küchengeschehen fast vollständig beiwohnen. Beerdigt?, wiederholte Karl dämlich fragend dieses Wort, mit vollem Mund.

      Noch niemals zuvor in seinem Leben hätte er eine Frau so brennend gerne „genommen“, wie dieses Geschöpf, das vor ihm in aller Ruhe die Zitronen so sorgsam ausdrückte, als seien es Edelsteine, die sie polierte. Er hätte sie zur Not auch vorerst nur inniglich umarmt, falls das weiterhalf. Und noch nie in seinem Leben ließ er so viel Scheu und Vorsicht walten, sich zu nähern. Er hatte Verlustangst, bevor er besaß. Diese Art von Sehnsucht und Furcht war ihm bisher unbekannt gewesen. Frauen existierten schließlich zum Flachlegen. Und um sich und diesen Wesen, in deren Welt es einzudringen hieß, zu beweisen, dass er, der große Karl, das im Griff hatte. Welches hieß, dass er konnte, wenn alles stimmte, und er es auch wollte.

      Luz del Mar hatte ihn aus der Bahn geschleudert, er schien sich im Neuland einer psychischen Landschaft zu bewegen, wie in einem Niemandsland. Welche Richtung schlug er ein, blieb er an der Kreuzung ohne Wegweiser ewig stehen, gab es überhaupt verschiedene Richtungen? Er war unfähig zu handeln und kasperte vor, hinter und neben Luz del Mar herum, wie ein pubertierender Jüngling. War die Tasse denn kaputt?, fragte Karl plötzlich, wie beiläufig, immer noch kauend.

      No Señor, sie war entweiht.

      „Entweiht? Sein Gesichtsausdruck war noch dämlicher geworden, wusste sie etwa?

      Sie war mein Trinkgefäß, seit dem Tage, als ich eine Frau wurde. Als meine Monatsblutung begann, fügte sie hinzu, als sie seinen fragenden Blick sah. Sie quetschte die nächste Zitrone. Also, seit meinem zwölften Lebensjahr ein täglicher Begleiter.

      Bei der bildlichen Vorstellung ihrer periodischen Blutungen verschluckte sich Karl, er stolperte und setzte sich mit offenem Mund hastig an den Küchentisch. Der Katzenhai hatte sich verhakt, gesteuert vom Schreck dieses intimen Gedankens war er steckengeblieben und blockierte die Atemwege. Karl lief blau an und keuchte rauh, zum Husten fehlte ihm die Luft.

      Luz del Mar schob die Zitronenpresse zur Seite, bewegte sich langsam in seine Richtung und war mit einem Satz auf dem Küchentisch hinter ihm. Er rang vergeblich nach Luft. Sie riss seine Arme hoch und trat ihm kraftvoll in den oberen Bereich des Rückens. Die Milz hielt stand, das Stück Katzenhai glitschte aus ihm heraus und hüpfte über den sauberen Küchenboden.

      Karl schnappte mit Tränen in den Augen gierig nach Luft. Er hatte in seiner Atemnot nicht bemerkt, dass sie vom Tisch aus agiert hatte, doch die Berührung ihrer Hände an seiner Haut hatte er wahrgenommen. Waren es auch nur seine Handgelenke, er fühlte es immer noch. Dafür würde er sich am liebsten noch einmal verschlucken. Sie glitt von dem Tisch hinunter, wie ein Reptil ins Wasser.

      Also, Señor Ingeniero, ich werde es Ihnen erklären. Sie widmete sich wieder der manuell betreibbaren Zitronenpresse und begann dabei zu reden, diesmal in Englisch, vielleicht um sicher zu gehen, dass er alles verstand.

      Ein weiser Mann, ein Bekannter meiner Mutter, hatte an einem speziellen Ort den Ton ausgewählt und diese Tasse für mich geformt, gebrannt, glasiert und noch einmal gebrannt, um sie dann zu weihen. Sie sollte mich beschützen, meinen Bauch wärmen und mich empfänglich halten bis ins hohe Alter. Ein Brauch, dem ich mich nicht fanatisch unterworfen habe, von welchem ich mich aber gerne beschützen ließ.

      Da du mir nun das Leben gerettet hast, solltest du mich endlich Carlos nennen, murmelte Karl. Er hasste dieses Señor, es schuf einen Abstand, den er von Anfang an nicht empfunden hatte. Ich schlage vor, wir fahren am Sonntag gemeinsam zu diesem mysteriösen Alten und bitten ihn, dir eine neue Tasse zu kneten. Ich komme selbstverständlich für die Kosten auf, als Dank sozusagen, für deinen lebensrettenden Einsatz. Mein Schutzengel scheint Gestalt angenommen zu haben. Allerdings verstehe ich nicht, wenn dir die Tasse so wichtig war, warum du sie dann vergraben hast, sie war doch nicht kaputt, du hättest sie aufbewahren können, als Dekoration. Der Alte wird sicherlich ärgerlich sein. Luz del Mar sah ihn mitleidig an.

      Dieser weise Mann ist schon vor Jahren zu den Ahnen gerufen worden.

      Zu den Ahnen gerufen? Eine nette Idee, besser als die Vorstellung, eines Tages in der Erde verrotten zu müssen.

      Seine Seele, Señor Ingeniero, seine Seele ist bei den Ahnen, nicht sein Körper. Außerdem verbietet der Brauch die Wiederholung des Rituals. Die Weihung und Übergabe an das Mädchen ist nur zu dieser besagten Zeit erlaubt. Es hat etwas mit der zu erbetenen Fruchtbarkeit zu tun, doch man kann, wenn die Tasse verloren geht oder jemand anderes sie benutzt und damit entweiht hat, auf verschiedene andere Weise die Götter um Schwangerschaft bitten. Aber das ist mir wirklich noch nicht so wichtig. Diese Tasse gab mir eher ein Gefühl der Geborgenheit, einen Moment des Angekommen-Seins, wenn ich die Augen schloss und aus ihr trank. Eine liebgewonnene Gewohnheit also. Sie schwieg einen Moment und fügte noch etwas hinzu.

      Eigentlich mag ich es gar nicht, blind den Gewohnheiten zu folgen, das bringt Schläfrigkeit mit sich,