Gabriele Plate

Im Galopp durchs Nadelöhr


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Namen gegeben hattest. Du fragtest, ob mir der Name gefiele, ob er passend sei für dieses Wesen. Wesen, sagtest du zu einem Baum, und du warst noch keine acht Jahre alt. Du fragtest mich immerzu, alles erweckte deine Aufmerksamkeit und Freude. Als du kleiner warst, hatte der Mond es dir besonders angetan. Kann er wirklich alles sehen, fragtest du, wo ist das zweite Auge und warum zwinkert er niemals? Kann er singen, hat er Verwandte, sind die Sterne seine Kinder? Du hattest stundenlang still da gesessen und nach dem zweiten Auge Ausschau gehalten. Einige Jahre warst du mondsüchtig, sprachst im Schlaf unverständliche Worte und irrtest in der Nacht schlafend in Haus und Garten herum. Ich lernte von dir so viel Wissenswertes, mehr als jemals auf dem Priesterseminar. Ich fühlte mich nicht nur verantwortlich, ich genoss besonders die Nähe deiner kindlichen Weisheit. Ich ließ durch sie eine Art Heilung des Gemüts zu. Auch wenn andere Aufgaben, wie man irrtümlicherweise meint, Wichtigeres, an weit entfernt gelegenen Orten auf mich gewartet haben und immer noch warten, ich hätte dich niemals verlassen können. Mit diesem Gedanken wehte ein Lächeln über Nestors traurigen Gesichtszüge.

      Ihrer Meinung nach war er der hilfsbereiteste, selbstloseste Mensch, dem man begegnen konnte. Warum verlangte es ihn nach einer Buße? Von dieser Einrichtung hielt sie nichts, ganz besonders nicht, wenn man sie sich selbst auferlegte.

      Buße konnte kein ungerechtes Geschehen in ein gerechtes verwandeln. Sich dadurch Schmerz oder Verzicht zuzuführen war ein Betrug am eigenen Herzen. Luz hielt diese Art von Buße für ein Trostpflaster, unter dem es nur faulen und schwelen konnte. Man musste seinem Fehlverhalten tapfer ins Auge sehen, dazu stehen, sich nicht mit Büßen und selbst auferlegter Strafe herauswinden. Nur dann konnte es einen Fortschritt des eigenen Verständnisses geben, eine Entwicklung, eine Erkenntnis. Denn Erkenntnis beginnt mit Empfindung, das hatte sie durch eigenes Erleben so zu sehen gelernt, und pure Empfindung konnte man somit nur haben, wenn man sie nicht durch Buße fehlleitete, in eine andere Richtung zerrte. Nur, um sich eine unwahre Erleichterung zu erkaufen, eine Erleichterung, die keine wirkliche war, die letzten Endes nur durch Erziehung und die Kirche propagiert wurde. Buße bedeutete für Luz del Mar, Sich-Hingeben ohne sich dem verdienten Kampf zu stellen. Sie nannte die Buße eine weitere Schwäche und sprach von Feigheit.

      Pfarrer Nestor war erschüttert von dem, was dieses Kind von sich gab. Woher hatte Luz dieses Wissen, das sie so bestimmt und ohne den Anflug von Überheblichkeit auszusprechen verstand. Er spürte, dass sie Recht hatte, spürte, dass er sich mit dieser Buße selbst belog. Sie ergriff schnell seine Hand, drückte den Handrücken an ihre Wange und sah ihn liebevoll an.

      Wie du weißt, neige ich nicht zur Neugier. Ich wünsche mir nur sehnlichst, dass du dich mir eines Tages anvertraust und bitte dich, damit nicht bis zum Sterbebett zu warten. Auch ich möchte dir zur Seite stehen und zwar während du lebst. Vielleicht kann ich dir sogar helfen. Sie bekräftigte ihre Worte mit einem aufmunternden Lächeln und huschte davon.

      Das waren unglaubliche, geradezu unerhörte Worte eines jungen Mädchens an einen Priester. Er erlaubte ihr diese Worte, niemand stand ihm so nahe. Er liebte zwar seine Schwester, mit der er ein- oder zweimal im Jahr, zu Weihnachten und in der „Semana Santa“, für wenige Tage zusammentraf, aber diese tiefe Vertrautheit und Verantwortung, die er seiner Pflegetochter gegenüber empfand, war aus einem anderen Stoff gewebt. Eine Seelenverwandtschaft, in der er sich weit unterlegen fühlte. Erholsam weit unterlegen! Er empfand die innere Nähe zu diesem Menschenkind, wie eine lebensspendende Pause. Es war, als ruhe er in ihrer Seele. Eine Insel, auf der sein schmerzhaftes Dasein verblasste. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass er sich auf unerlaubten Pfaden bewegte. In seinem Leben, in seiner Stellung, vor allem aber mit seinem Vorhaben, dem Wunsch Gott zu empfinden, durfte er keinen Menschen bevorzugt lieben. Es sei denn, er hätte sich von seiner Berufung entfernt und der Selbstsucht nachgegeben. Personifizierte Liebe hatte unweigerlich mit Selbstsucht zu tun. Darin hatte er sich vor vielen Jahren schon einmal meisterlich verrannt.

      Einige Wochen nach diesem Gespräch erkrankte Nestor, er hatte hohes Fieber und starke Atembeschwerden. Sein Facharzt, der extra angereist war, erklärte zuversichtlich, mit Medikamenten und der nötigen Bettruhe könne man das noch einmal in den Griff bekommen. Es war nicht die erste schwere Lungenentzündung, die er bei diesem Patienten diagnostizierte. Er war der Ansicht, dass der Kranke sich diese Lebensumstände und das Klima hier, nicht mehr länger zumuten dürfe. Er riet ihm, sobald er wieder reisefähig sei, sich einige Wochen nach Cajamarca zu begeben, die alten Inkabäder aufzusuchen und sich täglich einige Minuten den Dämpfen der heißen Quellen zu nähern. Weiter unterhalb der Quellen, dort, wo das kochend heiße Wasser in den dafür eingerichteten Innenanlagen der zahlreichen kleinen Hotels aufgefangen wurde und abkühlte, solle er baden, solange es ihm beliebe, das brächte Erleichterung in die Atemwege.

      Nach etwa zwei Wochen, als es Nestor erheblich besser ging, fragte er Luz eines Morgens, ob sie immer noch wissen wolle, was sein Herz so belaste. Sie schloss die Tür und setzte sich neben sein Bett. Dann erfuhr sie seine bedenkliche Geschichte:

      Nestor hatte vor langer Zeit jemanden kennengelernt, dem er sich verwerflich nahe fühlte. Dieser Jemand war ein Mann, ein Angestellter der einflussreichen Familie seines Schwagers. Es war nicht die Libido, die ihn drängte, er erlag dem verheißungsvollen Ruf der weltlichen Liebe. Schon während des ersten Gesprächs machte sich eine verwirrende Anziehungskraft zwischen den beiden Männern bemerkbar, erst viel später ergab sich eine Liebesbeziehung. Niemand erfuhr von diesem Verhältnis. Darauf hatte Nestor, Kandidat der Bischofswürden, peinlich genau geachtet, mit dem geschärften Sinn und auszuschaltenden Eventualitäten eines Kriminellen, der seine Tat plant.

      Sein Geliebter war in bedrohend finanzielle Schwierigkeiten geraten, die Existenz stand auf dem Spiel, und Nestor konnte aushelfen. Der Mann war bedeutend jünger, verheiratet und Vater von zwei Kindern. Nestor war Mitte vierzig, hatte sich zum ersten Mal in seinem Leben verliebt und dem Drang, menschliche Liebe zu erfahren, nicht widerstanden. Er fand das schändlich, in jeder Hinsicht, besonders auch wegen der Kinder seines Freundes. Er belud sich mit Schuldgefühlen und folgte trotzdem seinem Verlangen.

      Diese heimliche Verbindung dauerte beinahe drei Jahre und wurde niemals entdeckt. Sie liebten sich unter unwürdigen Verhältnissen, an Orten wo niemand sie kannte. In Hotels fremder Städte, in Autos und sogar Parks. Sie machten Schiffsreisen unter falschen Namen, mit getrennten Kabinen, von denen sie nur eine belegten. Nestor hatte Mittel und Wege, die Liste der Mitreisenden vorher zu studieren. Es wäre eine Ironie des Schicksals gewesen, wenn er Bekannte, ebenfalls unter falschen Namen, dort getroffen hätte. Doch niemals trafen sie gemeinsam auf bekannte Gesichter, aber sie waren stets vom Gesetz und der geltenden Moral bedroht.

      Die größte Furcht hatte Nestor aber, vor dem Verlust seiner in Gefahr befindlichen, blendenden Karriere. Er war, beinahe seit er denken konnte, ein Diener der Kirche und sollte für die höchsten Ränge vorgeschlagen werden. Er war verzweifelt. Es hatte sich außer der Liebe, ein außergewöhnliches Verständnis zwischen den beiden Männern entwickelt. Eine Trennung war ebenso undenkbar, wie ein Aufrechterhalten der Situation. Die emotionale Verwirrung torpedierte seinen gepriesenen Gleichmut. Er lebte zwischen zwei Stühlen, wie auf zwei Stühlen stehend, mit je einem Bein. Herz oder Verstand. Dazwischen drohte ein unüberschaubarer Abgrund, er fürchtete sich und glaubte sich fern jeder Entscheidungsfreiheit. Außerdem war er nicht allein, es ging nicht nur um ihn, um seine Gefühle oder seine gefährdeten Karriereaussichten. Es gab noch die Familien, die des Geliebten und die seine. Ein Skandal hätte einige Menschen beschädigt und zwar nicht nur in gesellschaftlicher Hinsicht. Aber wäre er allein gewesen, hätte er sich dann anders verhalten als die Katastrophe über ihn polterte? Anders, als er es bedauerlicher Weise getan hatte? Er hatte sich im Reflex taub gestellt, taub wie ein Käfer, der reglos vor Furcht um seinen eigenen Verlust, auf den Rücken gerollt, wie tot liegenbleibt.

      Nestors Verlust wäre nicht einmal sein Leben gewesen, wie bei einem Käfer. Kein gieriger spitzer Schnabel hätte ihm die Augen ausgehackt und ihn verschlungen. Nein, ein von Selbstsucht gemästeter Gedanke blitzte hervor und entschied im Reflex die Situation. Eine spontane Entscheidung, aus der er nicht mehr herausfand. Oder herausfinden wollte, weil sie Charakterstärke forderte?

      Die unheilbare Wunde wurde damals dadurch eingeläutet, dass Nestor schwer erkrankte. Er hatte sich auf einer gemeinsamen, dreitägigen Schiffsreise eine Bronchitis zugezogen,