Gabriele Plate

Im Galopp durchs Nadelöhr


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war ihr Paradies, und neuerdings erquickte sie die Arbeit im Camp, mit der sie einen Bruchteil dessen finanzierte, von dem was sie verbrauchte.

      Ihre Mutter musste in dieser Liste nicht extra erwähnt werden, diese gehörte so selbstverständlich zu ihr, wie der tägliche Sonnenuntergang. Luz wünschte sich nur noch ein Studium an der Universität, nicht um des Wissens Willen, sondern um in diesem Beruf anerkannt zu werden und bei archäologischen Ausgrabungen dabei sein zu dürfen.

      Den Grundstock intellektuellen Wissens in Luz, hatte Pfarrer Nestor gelegt, ohne sie dabei in die Kirche oder die Gesetze seines Glaubens gedrängt zu haben. Ganz gegen die Aufgabe, oder besser das übliche Vorgehen eines Pfarrers. Es war ihm ein lebenswichtiges Bedürfnis, dieses wissensdurstige Menschenkind zu beschützen, es zu fördern und nicht mit Glaubensgesetzen zu verkleistern. Vom ersten Augenblick an, seit sie als kleines Mädchen an der Hand ihrer Mutter vor seinem bescheidenen Pfarrhaus gestanden hatte. Er selbst hatte dieses Haus, das auch ihr Heim werden sollte, erst kurze Zeit zuvor bezogen. Sie hatte ihn mit diesem besonderen Blick angesehen, stumm, fragend und sehr wach. In diesem damaligen Moment war es ihm erschienen, als sei ihm diese Aufgabe von Gott vor die Tür geschoben worden, um seine Buße zu vervollkommnen. Ohne Erwartung zu helfen, zu geben ohne zu nehmen. Dieses Mädchen an seiner Seite aufwachsen und lernen zu sehen, erwies sich jedoch bald als die größte Freude in seinem selbstauferlegten Provinzdasein, in seinem Leben.

      Nach jahrelangen Bemühungen musste der Pfarrer es aufgeben Hass und Furcht der einfältigen Dörfler, Luz gegenüber, zu bekämpfen. Er agierte mit viel Geduld und List, es half nichts, sie hatten nun einmal beschlossen, dass in diesem zarten Wesen der Teufel hocke. Kläglich versagten hier des Pfarrers Bibelsprüche über die Nächstenliebe. Man kreuzte den Weg des Mädchens nicht, nicht einmal ihren Schatten, und man hielt sich außer Spuckweite. Wäre sie als Junge geboren worden, hätte man diesen später zum Magier, zum Zauberer oder Medizinmann ernannt. Als Mädchen, mit einem Merkmal, hatte man schlechte Karten. Ihr Merkmal waren die Augen, und dass sie Dinge, Probleme oder Begebenheiten schon als Kind klug und voraussehend beurteilen konnte. Sie hatte sich, seit sie selbstständig denken konnte, an diesen Blick ihrer Mitmenschen gewöhnen müssen. An den Blick, der sie nicht traf. Man sah sie an, zuckte zusammen und blickte hastig in eine andere Richtung.

      Das sogenannte Magische wurde hier normalerweise von der Hebamme entdeckt und bestimmt. Ein Ah, bei einem neugeborenen Jungen, ein Oh, bei einem Mädchen. Bei Luz del Mar hatte man mit Sicherheit zu dieser Diagnose keine Hebamme benötigt, sofort muss jeder bemerkt haben, dass sie mit dem Teufel im Bunde stand. Darüber waren sich die Bewohner im Pueblo einig. Zu allem Übel kam sie von der anderen Seite der Kordillere, aus dem äußersten Süden der Anden, wo sich in der dünnsten Luft der Welt die Gottlosen versteckt hielten.

      Man hörte diese Ahs oder Ohs nicht oft, manchmal konnten zwei oder sogar drei Generationen verstreichen, bis es aus einem Dorf wieder ertönte. Es war immer etwas besonders Gutes oder besonders Fürchtenswertes. Diese übernatürlichen Kräfte, die Luz del Mar von frühester Kindheit an aufgetürmt worden waren, hatten sie mit jedem Jahr empfänglicher für genau dieses Phänomen werden lassen. Für sie bestand die Wüste nicht nur aus Staub und Sand, und der Fluss war weit mehr als ein wasser tragender Einschnitt in die Landschaft. Der Sand lebte, und er verbarg kristallene Wärme und Schätze aus weit vergangenen Zeiten. Antike Utensilien der Toten, für die unvorstellbare Reise in das Land der Ahnen. Sie war berührt von diesen Gegenständen, als seien es lebendige Wesen. Und sie hatte deutliche Visionen von Orten, die sie nicht kannte.

      Seit ihrer Kindheit, oft im Traum aber auch im halben Wachzustand, vernahm sie ferne Stimmen in einer ihr unbekannten Sprache. Bisher hatte sie nur dem Pfarrer davon berichtet, da sie befürchtete, ihre Mutter damit in Unruhe zu versetzen. Als sie zum ersten Mal die Stimmen der Señoras im Camp gehört hatte, lüftete sich ein Teil dieses Mysteriums, von welchem der Pfarrer behauptete, es sei keins. Die fremden, geheimnisvoll vernommenen Stimmen, die sie aber niemals wirklich beunruhigt hatten, die sie sogar vermisste, wenn sie einige Tage nicht zu hören waren, offenbarten sich in der deutschen Sprache. Diese Erkenntnis war ausschlaggebend für ihren brennenden Wunsch, Deutsch zu lernen. Vielleicht würde sie dann endlich verstehen, was ihr in dieser Art von Wachträumen gesagt wurde.

      Wenn Luz del Mar im Haus des Ingeniero ein heißes Getränk zu sich nahm, pflegte sie es nur aus „der Tasse“ zu trinken, einer Tasse, die im Geschirrschrank etwas abseits stand. Sie hatte das dünnwandige Gefäß selbst mitgebracht. Karl hatte seinen Spaß daran, diese Tasse manchmal ein wenig zu verschieben. Ein, zwei Zentimeter nur, etwas näher an die anderen gewöhnlichen Tassen heran. Oder er drehte sie so, dass der kobaltblaue Henkel zur anderen Seite wies. Sie bemerkte das sofort, wusch die Tasse augenblicklich ab und wies ihn mit ernstem Gesicht darauf hin, die Finger von ihrer Tasse zu lassen.

      Bitte, Señor Ingeniero, benützen Sie meine Tasse nicht, niemals. Dann lächelte sie wieder. Sie hatte ihn bereits zuvor darum gebeten, ganz zu Beginn, als sie die Tasse mitgebracht hatte.

      Dieses Mädchen kommt aus dem letzten Drecksloch und empfindet meine Finger oder meinen Mund etwa als schmutzig? Karl war beleidigt. Sie hielt mitten in der Säuberung inne und unterbrach seine überheblichen Gedanken mit einem vernichtenden Blick. Dieser traf ihn wie ein Geschoss. Ein Blick, den er an ihr nicht kannte. Stark, eigenwillig und beinahe hart. Er war überrascht. Bei all ihrer scheinbaren Ergebenheit, die ihm ungeheuer gefiel, wollte er plötzlich auch diesen Blick von ihr und das, was dahinter zu stecken schien. Er roch ein Geheimnis, das ihm Lust und einen reizvollen Kampf versprach.

      Die Blicke seiner Eroberungen hatten Karl nie sonderlich interessiert, deren Varianten zu spezifizieren, noch weniger. Doch an Luz del Mar interessierte ihn alles. Das bedeutete in seinem kleinen Ego-Kosmos in etwa, als käme das Gesetz der Gravitation ins Stolpern. Normalerweise interessierte ihn eine Frau einzig und nur, nach dem Grad seines eventuellen Lustempfindens und der Möglichkeit, es an den Mann zu bringen. Dabei waren ihm bisher keine Blicke zur Hilfe oder in die Quere gekommen. Seine Orientierung bezog sich gewöhnlich auf andere Stellen des weiblichen Körpers. Er hatte dabei seinen eigenen Vorausblick im Griff und auf die Hoffnung gerichtet, dass es mit der Jeweiligen klappen könnte. Luz del Mars neuer Blick erstaunte, reizte und belustigte ihn. Das waren ganz neue Begleiter seines Interessen Vorspiels.

      Natürlich benutzte er ihre Tasse nicht, zumindest nicht um daraus zu trinken. Doch nach der energischen letzten Säuberung und dem ebenso energischen Hinweis, dieses Relikt nicht anzurühren, bekam er eine ungeheure Lust auf diese Tasse. An den Sonntagen, den öden Luz del Mar-Abwesend-Tagen, leuchtete der blaue Henkel wie ein Komet. Er konnte nicht widerstehen, er holte von Zeit zu Zeit die Tasse aus ihrer Spezialecke aus dem Schrank. Nicht nur, um sie zu drehen oder zu verrücken, nein, Karl ergriff sie fast ehrfurchtsvoll und nippte an dem Rand des leeren Trinkgefäßes. Er leckte ein wenig daran. Die Lust stieg. Er hatte beobachten können, dass sie beim Ergreifen der Tasse ihre linke Hand benutzte. Sie schob ihren Zeigefinger langsam in den Henkel. Die Erinnerung an diese Geste allein, erregte ihn sehr. Dann pflegte sie sanft den Daumen über das blaue Tassenohr und den Mittelfinger darunter zu pressen. Sie tat das in einer Weise, als spräche sie mit ihren Fingern, es so zu tun und nicht anders. Nicht automatisch. Sie trank bedächtig mit geschlossenen Augen und schlürfte nie. Auch das fiel ihm auf. Warum schlürfte sie nicht? Alle Mädchen, alle Menschen aus den Pueblos schlürften ihre heißen und ebenso kalten Getränke. Auch die Suppen mit ihren spärlichen Einlagen wurden geräuschvoll über die Lippen in den Schlund gesogen. Karl erkannte bei diesem geräuschlosen Trinkritual, dass sie Linkshänderin war.

      An den Sonntagen also, nippte und lutschte er genussvoll an dem Rand ihrer Tasse herum. Ebenfalls mit geschlossenen Augen. Die Vorstellung, dass ihr Mund täglich, einige Male, genau diese Stelle des Keramikrandes berührt hatte und wieder berühren würde, nachdem seine Lippen sich wie tintenlose Stempel dort betätigt hatten, dort wo er seine Zunge walten ließ, um ihr näher zu sein, erregte ihn derart, dass er ins Badezimmer eilen musste. Er bräuchte unbedingt ein Foto von ihr. Für die Sonntage. Karl dachte an ihren Mund auf dieser Tasse, bei der Arbeit, in der Nacht und am Morgen bevor sie im Camp erschien.

      Neue Arbeitsschichten waren eingerichtet worden, Wochenendschichten, auch Karl musste sich dieser Änderung unterordnen. Seine so geschätzten Samstage mit Luz, wenn sie zum entfernten Wochenmarkt zu fahren pflegten,