Gabriele Plate

Im Galopp durchs Nadelöhr


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allein. Sie unternahm oft nächtliche Wanderungen durch die menschenleere Landschaft, besonders in der Woche des zunehmenden Mondes. Sie stellte sich vor, dass es schon immer so gewesen sein könnte, seit Beginn aller Zeiten. Sie es, mit dem Schon-Immer-So zu empfinden. Sie hatte keine Angst vor oder in der Einsamkeit, sie vergaß sich einfach und liebte es, in dieser Abwesenheit von sich selbst zu verharren. Sie blieb stehen, horchte und fühlte. Luz konnte stundenlang in der Höhle der Wurzel eines umgestürzten Baumes sitzen und mit ihm in Kontakt treten. Oder sie schlief in dieser Kuhle ein, mit dem Finger auf dem Nabel, bis „el rocío“, der Morgentau, sie weckte. Sie nippte dieses Nass von den harten Blättern, bewegte sich in gleichmäßigen, lautlosen Lauf zurück ins Pfarrhaus, zog sich um und marschierte in die entgegengesetzte Richtung ins Camp, an ihren Arbeitsplatz.

      Diese nächtlichen Ausflüge blieben lange Zeit vor der Dorfbevölkerung verborgen, doch eines Nachts wurde sie von Wilderern, die versteckt auf der Lauer gelegen hatten, beinahe erschossen. Ein willkommener Gesprächsstoff, der bis ins Bodenlose ausgeschmückt wurde. Man hatte sie sogar mit den Schwefel-Elfen tanzen sehen, bevor man sie beinahe für ein Wildschwein hielt.

      Von nun an, war sie den Einheimischen noch unheimlicher. Es gab Stimmen, die der Meinung waren, es wäre nicht schlecht gewesen, sie wie einen tollen Wolf „aus Versehen“ abgeknallt zu haben. Dann hätte der Spuk endlich ein Ende gehabt. Diese Meinung drang jedoch nicht bis an die Ohren des Pfarrers. Was machte ein junges Mädchen nachts, weit vom nächsten Dorf entfernt, allein in den Bergen? Da wurde doch ohne Zweifel etwas Teuflisches ausgeheckt. Selbst die Männer strolchten nicht nach dem Dunkelwerden dort allein herum. Sie jagten immer gemeinsam, mindestens zu dritt, dann konnten zwei, den eventuell Verletzten tragen.

      Luz del Mar bekümmerten diese Vorwürfe, die ihre Mutter ihr zugetragen hatte, schon lange nicht mehr. Jeden Morgen erschien sie gut gelaunt und pünktlich im Bau-Camp, die Hausarbeit erledigte sie schnell und ordentlich und wusste zu schätzen, dass sie niemand dabei beaufsichtigte. Dieses Glück hatten ihre Kolleginnen nicht, diese putzten unter ständigem Gezeter der zuständigen Hausfrau.

      Sie hatte einen winzigen Duschraum mit eigenem WC zur Verfügung, draußen, direkt neben dem Geräteschuppen. Wenn sie ihre Aufgaben im Haus erledigt hatte, meistens war sie schon am frühen Vormittag damit fertig, zog sie sich zurück in den fast leeren Geräteschuppen, den sie sich neuerdings wohnlich gemacht hatte. Eine bequeme Sitzmöglichkeit, eine Lampe, ein Wandbehang und ein kleiner Teppich. Hier konnte sie lesen und lernen. Der untere Teil eines leeren Regals wurde nun von einem tausend Jahre alten Gefäß geziert. Sie legte täglich eine frische Blume daneben und schmückte diesen dürftigen Ort mit guten Gedanken. Manchmal entzündete sie eine Kerze vor der Blume. Sie betete ohne Worte und dankte für ihr Leben, einfach so, in die Blume hinein, ohne sich an Jemanden oder etwas Bestimmtes zu wenden. Sie war dem Club gesammelter Götter, zu dem ihre Mutter betete, nicht beigetreten, doch sie verachtete diese Art von Glauben auch nicht.

      Nichts kann dir die Gewissheit des Glaubens nehmen, deine innerste Idee von ihm, das bist du. Das hatte ihr der Pfarrer mehr als einmal anvertraut. Es sei eine Jahrtausend alte, fernöstliche Weisheit, die sie nie vergessen dürfe, egal was das Leben für sie bereit hielte.

      Luz del Mar war tolerant und klug, voller Demut und Neugierde auf das Leben. Besonders aber, richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf die weit zurückliegende Vergangenheit einer Zeit, lange bevor die Menschheit Stempel und Unterschriften benötigte, um ihr Sein zu dokumentieren. Sie besaß das feine Gespür und Interesse des Anthropologen und versank dabei mit Leidenschaft in den Falten der Archäologie und grub am liebsten in der Zeit vor der Zeitrechnung. Sie fühlte ihre Berufung mit verstärktem Herzschlag und schrankenloser Fantasie, bei jeder kleinen Tonscherbe, die ihr aus dem Sand in die Finger glitt. Es war, als fühle sie, wo der Rest dieses Gefäßes verschüttet lag, zu was es gedient hatte, wo sich der Raum befand und der Vorsprung, auf dem es vielleicht gestanden hatte. Sie sah die Männer vor sich, die vor mehr als zweitausend Jahren aus diesem Krug getrunken hatten. Sie hörte ihr dröhnendes Lachen, und sie roch die verschwitzte Kleidung, die lange zu Staub zerfallen war. Luz spürte unter ihren Füssen, wo die Dinge lagen, die sie gar nicht gesucht hatte. Im Gegensatz zu den ambitionierten Suchern und Grabschändern, denn diese suchten wirklich, wenn auch nicht immer gezielt. Sie buddelten verbissen nach den begehrten Schätzen aus der Vergangenheit, um sie an Unterhändler der Händler zu verkaufen. Das war natürlich verboten, jeder noch so kleine archäologische Fund musste offiziell gemeldet werden, durfte das Land nicht verlassen. Die Kontrollen an den Flughäfen wurden immer strenger, eine hohe Strafe drohte, und das vom Ausländer teuer erworbene Stück wurde konfisziert. Selten gelangte es in ein Museum, was allerdings offiziell propagiert wurde. Dabei hatte sich ein kleiner Berufszweig entwickelt und ein eifriger Kreislauf. Oft passierten dieselben Stücke jahrelang den Zoll und dieselben Beamten konfiszierten. Die illegale Ware wurde eingezogen und landete dann wieder auf dem inoffiziellen Markt. Meist fand der Verkauf in einem Hotel statt, wo sich leicht der nächste Kunde fand. Dabei war der Vermittler in der Lage, den korrupten Zollbeamten Angaben zur Person zu machen und manchmal sogar das Abreisedatum. Der Tourist zahlte hastig das Strafgeld, um einer Anzeige zu entgehen und seinen Flug nicht zu verpassen.

      Luz del Mar fand nicht, um zu verkaufen, sie kannte auch keine Schwierigkeiten zu finden. Sie balancierte oft über den heißen Sand ohne sich die Füße zu verbrennen, bückte sich plötzlich und grub mit bloßen Händen archäologische Köstlichkeit aus. Man hatte sie dabei beobachtet, doch niemand wagte es, ihr die Funde zu entwenden. Man dachte auch nicht im Traum daran, sie bei den dafür zuständigen Behörden zu denunzieren. Erstens wagte man nicht, sich ihrem eventuellen Fluch auszusetzen und außerdem, man hätte ja seinen eigenen Namen angeben müssen, das hieße sich selbst in die behördliche Kontrolle zu begeben.

      Seit Luz etwas älter geworden war und die Bespitzlung bemerkt hatte, war sie vorsichtiger beim Heben der begehrten Keramik, Schmuck oder Ähnlichem geworden. Sie hatte einen kleinen Schatz zusammengetragen und freute sich, diese Dinge einfach nur anzusehen und sich dabei in die Zeit ihrer Entstehung zu versetzen, zu träumen. Einer ihrer ersten Funde, der ihr als Kind in die Finger geraten war, verkörperte einen kleinen Wolf aus Keramik. Sie hatte ihn an seiner Öse mit einer feinen Baumwollkordel versehen und sich damals um den Hals gehängt, dort hing er immer noch. Einst, vielleicht der Beschützer eines Verstorbenen, versprach er ihr nun Halt und Kraft. Sie liebte diesen keine drei Zentimeter kleinen, graubraunen, primitiv geformten Tierkörper wie ein Haustier. Er lebte auf ihrer Brust, da schlief er und wachte neben dem feinen, goldenen Kreuz, das ihr der Pfarrer kurz nach diesem Fund, zur Kommunion umgehängt hatte. Er ließ ihr den Wolf und erzählte von den vielen Jahren, die dieser schon alt wäre.

      Luz hatte auch eine beachtliche Sammlung von „vacos“ in ihrem Versteck, Gefäße für Öl oder Lebensmittel der Verstorbenen, aus längst vergessenen, vorzeitlichen Gräbern. Sie blies eigenartige Melodien in kleine Luftinstrumente aus Ton, die sie aus dem Sand gehoben hatte. Einst in Erdöfen gebrannte Gaben für erdachte Musiktöne, gegen eventuelle Langeweile im Reich der Toten.

      Luz del Mar erfand ihre eigenen Melodien, sie waren ihre ständigen Begleiter, ebenso wie ihre endlosen Fantasien über die weite, menschliche Vergangenheit. Seit sie die Fachzeitschriften der Archäologie las, die der Pfarrer, als sie etwas älter geworden war, für sie abonniert hatte, fühlte sie sich darin bestätigt. Sie hatte diese Bestätigung nicht gesucht, aber zu erfahren, dass es über die ganze Welt verstreut Menschen gab, die ihr Interesse teilten, war für sie ein zusätzliches Geschenk. Sie wusste nun, dass es Wissenschaftler gab, die mit Leidenschaft und Forschersinn ganze Regionen von Erdschichten abtrugen, um vermutete Heilige Tempel, Gräber, Städte oder andere Schätze verlorener Kulturen wieder freizulegen. Sie war bald sehr bewandert in diesem Fach, wusste von der Wiege der Menschheit, hatte unzählige Aufsätze studiert und archäologische Hypothesen der Forscher durchdacht. Über die verstaubten Spuren des alten Mesopotamien, Ägypten oder Peru, wandelte sie genauso neugierig, wie sie mit Bewunderung die tausend und mehr Tempel-Reliefs des alten Angkor auf sich wirken lies oder mit den Wikingern über Norwegens Küsten hinaus schipperte. Runen, Hieroglyphen oder Inka-Kalender waren Luz vertrauter als ein Märchenbuch. Über die Maya, Azteken und besonders über die Vergangenheit der Inka, hatte sie inzwischen beachtenswerte Kenntnisse, weit über ein Hobbyinteresse hinaus. Sie kannte zwar die meisten nennenswerten Funde der Welt, aber zu ihrem Bedauern, nur aus Büchern,