Gabriele Plate

Im Galopp durchs Nadelöhr


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Kapitel in ihrem Leben gewesen. So glaubte sie nun, Marlon und Helen zu lieben, ohne sagen zu können, wen von beiden sie bevorzugte. Sie bevorzugte gar nichts, wollte nichts haben, nichts wegnehmen oder zerstören, sie wollte nur lieben.

      Vielleicht war es das, was Karl als Besessenheit diagnostizierte und was neu an ihr war. Sie hatte auch erkannt, dass eine kleine Portion Autismus nicht schaden kann, sogar nötig sei, wenn man bemüht ist, in seinem Leben den Inspirationen den Weg freizuhalten. Daraus konnte eine ungeheure Stärke erwachsen, das wusste Luz zu schätzen, damit war sie aufgewachsen. Doch ein von außen erzwungenes Einsiedlertum, empfand sie jetzt erst, im Nachhinein, als schmerzhaft. Eigentlich schädlich für einen jungen Menschen. Für jeden Menschen.

      Ihre überhebliche Einbildung, ohne die Anderen auskommen zu können, empfand sie plötzlich als Unfreiheit. War diese Überheblichkeit einer Trotzreaktion erwachsen, ein Schutz gegen die frühere Ablehnung der Menschen ihr gegenüber? Oder aus dem Bedürfnis heraus, frei sein zu wollen? Freiheit bedeutete ihr alles. Wobei sie der Freiheit die primitive Definition untergeschoben hatte, nur daraus zu bestehen, tun und lassen zu können, was einem gerade in den Sinn kam und wann man es wollte. Doch nun spürte Luz ganz deutlich, dass es eher umgekehrt sein musste, dass die Freiheit vielleicht in der Erkenntnis bestand, ohne die oder den Anderen nicht vollständig zu sein, es nicht sein zu können, ohne ein Gegenüber. Ein Sein, das man Glücklich-Sein nannte.

      Die kleine Regina war kein Krabbelkind mehr, sie hatte schon zu laufen begonnen und stolperte ihr begeistert entgegen, wenn sie nachmittags für einige Stunden im Lehrerhaus auftauchte. Auch abends, nachdem sie ihre Pflichten bei Karl erledigt hatte, zog es Luz oft dorthin, sie blieb dann dort, bis der Lehrer sie nach Hause fuhr. Etwas, was Karl ebenfalls missbilligte. Er hatte ewig dazu benötigt, nicht gewagt sie nach Hause zu fahren, und dieser Kerl tat es vom ersten Tag an, als hätte er das Recht dazu. Das war sein, Karls Recht und sein Verlangen, das ihm da aus der Hand zu rutschen drohte. Er hatte zu viel auf der Baustelle zu tun, und dieser Marlon verfügte über lange freie Nachmittage ohne Schüler, hatte Zeit für Luz. Leider weit mehr als Karl für sie aufbringen konnte.

      Luz begann auch das Kind lieb zu gewinnen, obwohl sie sich weit entfernt von einem eigenen Kinderwunsch wähnte. Manchmal nach dem Abendessen bot Karl an, sie ins Lehrerhaus zu begleiten. Er heuchelte echtes Interesse an einer gemütlichen Zusammenkunft, dabei drehte er geduldige Runden in der Warteschleife. Seine Überlegungen machten ihn nicht nervös, er hatte nur die von ihm empfundenen Tatsachen abgesteckt und wollte sie im Blick behalten, sich zur Ruhe mahnen. Sein Gesicht bewahren?

      War ihm sein Gesicht in dieser Sache nicht schon längst verloren gegangen? Er pfiff darauf. Seine Ansprüche an ihre Liebe lebten unausgesprochen in ihm, erfüllten ihn, stolperten aber in eine neue Realität hinein, die er nicht akzeptieren wollte, aber auch keinen Gegenzug wagte. Er war nicht kampfbereit, er liebte zu sehr, um an Luz zerren zu wollen, damit riskierte er, einem weiteren Abstand entgegenzusteuern. Karl wusste, was er wollte, und er hatte das sichere Gefühl, dass Luz das von sich selbst nicht wusste. Er würde sie unbemerkt, liebevoll leiten müssen und für sich gewinnen. Eifersucht auf den Lehrer? Lächerlich! Er versuchte dieses lästige Empfinden zu verbannen. Ein Schutzbedürfnis hatte sich in ihm breitgemacht, etwas ganz Neues für Karl.

      Er und Marlon spielten sogar Tennis zusammen, auf einem notdürftig errichteten Tennisplatz mit einer Betonoberfläche. Dort zog sich Karl später, in seinem Eifer dabei zu sein, einen kleinen Meniskusschaden zu. Er hatte nie zuvor auf Beton gespielt und niemals zuvor, so erschien es ihm, mit solchem Einsatz, als ginge es um sein Leben. Er war vorerst tadellos in Form, denn die beiden ausschlaggebenden Frauen waren oft zugegen, und Karl gefiel es, dass sie seine Überlegenheit bemerkten und ihm Applaus spendeten. Es war wie ein kleiner Zuckerguss in dem Wermutsnapf, den er vor sich zu haben glaubte.

      Karl verlor sich allerdings nicht mehr in der Gefallsucht, so wie früher, als diese Sucht ihn wie sein Lebensinhalt erfüllt und beherrscht hatte. Wie ein Insekt im Spinnennetz hatte er sich verhalten, festgezurrt, fern der Freiheit und jeglichem Ausweg. Er hatte sich aus dieser Falle befreit, hatte das Netz der Gefallsucht verletzt und war ihm entschlüpft. Und er hatte ihren hartnäckigen Begleiter, die Ignoranz, weitgehend abgeschüttelt. Karl hatte sich auch fest vorgenommen, sein gewohnheitsmäßiges Konkurrenzgehabe loszuwerden, den Ehrgeiz, mit der zwanghaften Neigung, kompetenter sein zu wollen als sein Gegenüber, zu drosseln. Er hatte bemerkt, dass er sich durch diese hartnäckige Unart, den Zugang zu den Genüssen der Gegenwart versperrte. Soweit seine beachtenswerte Erkenntnis.

      Meine Frau, dachte Karl irrigerweise, wenn er Luz dort an der kleinen Bar mit Helen sitzen sah und sie das Tennismatch verfolgte. Ganz in seiner Nähe, neben dem dürftig eingerichteten Swimmingpool für die Camp-Bewohner.

      Und wenn ein ganzes Lehrerseminar sich über Luz stülpen würde, Wellenreiter, Taucher oder Tangotänzer, er würde an ihrer Seite ausharren.

      Tangotänzer waren die Allerletzten, vor denen er sich fürchtete. Diese Gockel und ihr albernes Schreiten, steif, abgehackt und geöltes Haar. Er fürchtete sich ja gar nicht, er würde sie allesamt vorbeiziehen lassen, die Ruhe bewahren, die Stürme überstehen und mit seiner Wärme im Herzen, wie ein unbeschädigtes, rettendes Floß an ihrer Seite nebenher schlingern. Sie würde ihn irgendwann bemerken. Bemerken, dass ihn eine unsterbliche Liebe ergriffen hat und dass dieser Schatz ihr gehörte.

      Es hatten sich schon Situationen ergeben, bei denen Luz die Annahme eines Außenstehenden, er sei ihr Ehemann, hätte dementieren können. Das hatte sie nicht getan, war das ein unausgesprochenes Einverständnis?

      Gefällt Ihrer Frau die Jacke, die sie für sie gekauft haben? Das wurde er einmal in ihrem Beisein gefragt. Sie rief nicht, halt stopp, ich bin nicht seine Frau. Sie lächelte nur. Beim Juwelier ließ sie ihre Armbanduhr reparieren und hörte, wie die Verkäuferin mit Karl sprach, als sei er ein guter Kunde.

      Gefällt Ihrer Frau die Kette, mit dem wunderschönen Opal Arrangement, das Sie letzte Woche gekauft haben?

      Luz del Mar sagte nichts, als hätte sie es nicht gehört, trotzdem war sie ein wenig erstaunt. Welche Kette, welche Jacke, welche Frau? Hat Karl etwa eine heimliche Geliebte, und ich weiß nichts davon, dachte sie schmunzelnd.

      Karl hatte sich angewöhnt, jedesmal wenn er in der Stadt war, ein Geschenk für Luz zu besorgen. Es machte ihm Spaß, und er liebte den Gedanken, sie tragen zu sehen, was er sich für sie ausgedacht hatte. Meist handelte es sich um Schmuck oder Kleidungsstücke, auch um Sandalen, Kopfbedeckung oder um einige Bücher, von denen er glaubte, es könnte sie interessieren. Er kaufte leidenschaftlich gern für sie ein. Nichts davon war preiswert, somit hatte er doch ein kleines Unwesen aus der Vergangenheit in seine neue Welt hinein gerettet. Karl hatte ihr noch nicht ein einziges dieser Geschenke überreicht. Sie ruhten versteckt im abgeschlossenen Teil seines Kleiderschranks und begannen sich zu türmen, der Schlüssel dazu lag im Pickup.

      Seit der Begegnung am Strand, die eine deutliche Doppelspur in Luz del Mars Leben gezogen hatte, waren Monate vergangen. Sie hatte sich immer eine Familie nur vorstellen können, war niemals einem wirklichen Familienleben näher gerückt, da sie keinen Zugang zu einer Familie gehabt hatte. Nun erlebte sie, dass es etwas Wünschenswertes war, etwas, was ihre Vorstellung überbot. Eine Zusammengehörigkeit, zu der man sich selbst entschlossen hatte. Eine Verbindung, die aus Liebe erwuchs, nicht aus verpflichtender Blutverbindung. Eine Liebe, die Kinder produzierte.

      Sie nahm nun zwar hautnah an einem glücklichen Familienleben teil, hätte sie aber Zutritt zu den Familien der Dörfler gehabt, wäre ihr Eindruck anders gewesen. Die weitverbreitete, üblichere Art, eine Familie zu haben, hätte sie auf die Gegenseite ihrer Meinung geschleudert und den frischen Glauben an die Liebesbasis in einer Familie zerstört. Meist durch existenzielle Nöte verursachter Zank und Streit, Alkoholmissbrauch und ewige Schwangerschaften, begleitet von bitterstem Verzicht auf das Minimum an Glück. Daraus bestand der größte Teil jener Familien, die der Pfarrer betreute. Luz glaubte an das ausschließliche Honigschlecken eines Familienlebens. Sie sprach sogar mit Karl darüber, der hüstelte überrascht.

      Wir können es gerne miteinander versuchen, meinte er auffordernd lächelnd. Sie eilte schon weiter, schwärmte vom Lehrer. Wie geduldig und klug er sei, wie charmant und naturverbunden, gebildet, und