Gabriele Plate

Im Galopp durchs Nadelöhr


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stand mit dem Heck im Graben der Gegenfahrbahn, ihm war nichts passiert. Er stieg aus und sah einen großen, dunklen Körper vor dem Lastwagen auf der anderen Straßenseite liegen. Ein Bauer schimpfte fürchterlich, seine Frau weinte. Der Lastwagenfahrer sprang von seinem hohen Sitz herunter, eilte um den Kühler und betastete besorgt den rechten Kotflügel und seinen stark beschädigten Scheinwerfer. Er fluchte ebenfalls.

      Karl war zuerst zu dem dunklen, leblosen Körper geeilt und hatte erleichtert festgestellt, dass es sich um einen Esel handelte, er lag halb auf der Straße. Sein Besitzer schimpfte immer noch. Endlos geschriene Sätze flogen Karl um die Ohren. Es sei sein einziges Zugtier und nun könne er morgen nicht das Feld pflügen. Die alte Frau begleitete das Gezeter mit anhaltendem Klageton, als sei ein Familienangehöriger verstorben. Dieses Jammern drang in alle Poren. Jetzt brüllte Karl den Lastwagenfahrer an und überschrie das Spektakel. Seine Fluchtreaktion im Camp hatte sich zu Wut gestaut und explodierte, er packte sogar den Mann drohend beim Kragen und schüttelte ihn. Dieser Mistkerl habe verdammt noch mal kein einziges Rücklicht in Ordnung, das gäbe eine Anzeige, er würde jetzt über Funk die Polizei rufen.

      Sein Spanisch platzte gut verständlich, laut und aggressiv aus ihm heraus. Karl suchte nicht eine halbe Sekunde nach einem Wort. Der Fahrer zeigte ihm den Mittelfinger, stieg in sein Gefährt und fuhr davon. Danach verschwand der Rest des Menschenauflaufs spurlos, ohne einen weiteren Laut von sich gegeben zu haben. Das Wort Policía hatte alle in die Flucht geschlagen, niemand wollte gezwungen werden, Zeuge für irgendetwas zu sein. Die beiden Besitzer des Esels hatten ihr Klagen nicht eingestellt, sie umkreisten Karl und schimpften auf ihn ein. Sie zerrten an ihm.

      Ein anders Auto kam vorbeigerauscht und hätte beinahe Karls unbeleuchteten, immer noch halb quer auf der Straße stehenden Pickup gerammt. Karl sprang in seinen Wagen, lenkte ihn aus dem Dreck und schaltete die Warnlichtanlage an. Dann stieg er noch einmal aus und sah sich den Esel mit der Taschenlampe an. Er wollte sicher gehen, dass das Tier tot war. Die Frau klammerte sich schnell an seinem Arm fest und jammerte ihre unverständlichen Worte, der Mann machte allerdings eine sehr verständliche Geste. Er rieb seinen geschwollenen Daumen mit nach oben gerichtetem Handteller gegen die Kuppen von Zeige- und Mittelfinger. Im Schein der Taschenlampe, vor dem blutigen Kopf des Esels, konnte man eindeutig erkennen, dass es sich um eine Geldforderung handelte.

      Karl fühlte sich nicht schuldig, oder nur ein wenig, aber das Gejammer der Frau zerrte so bedenklich an ihm, dass er sich von ihr losriss und völlig entnervt zum Auto hechtete. Der alte Mann sprang flink auf die Ladefläche und klopfte wütend aufs Dach. Die Alte klemmte sich vor sein Auto. Karl holte aus seinem Handschuhfach ein Bündel Geldscheine heraus, stieg aus und reichte es der Frau. Ohne nachzuzählen verschwand sie im Schatten der Nacht. Als Karl sich nach dem Mann umdrehte, war dieser ebenso im Dunkel verschwunden, lautlos, wie verschluckt. Keine Menschenseele war zu sehen, wohin waren denn all diese sonnengegerbten Geschöpfe plötzlich verschwunden? Schnell und lautlos, wie die Eidechsen.

      Da stand er nun, einsam auf der Landstraße, in dunkler Nacht, neben einem toten Esel. Kein Ton war zu hören, nur die wenigen, verdorrten Blätter eines einzigen Baumes in der Nähe verursachten ein unerwartetes, zartes Rascheln. Man konnte doch dieses tote Tier nicht hier liegen lassen.

      Er blickte in das funkelnd klare Sternenzelt, wie in etwas völlig Unpassendes in diesem Pfuhl der gewaltlosen Gewalt. Dieser Reichtum an Schönheit mit seinem Gegensatz zur Macht der Armut, ergriffen Karl und er blieb benommen einige Minuten neben dem toten Esel stehen, als sei er ein Freund. Karl spitzte die Ohren, dann hörte er von Ferne das Bellen eines Hundes, oder war es ein Wolf? Er hörte sogar ein Quaken der Frösche. Konnte das sein, hier in dieser staubigen Trockenheit? Wo sollten diese Tiere hergekommen sein, vielleicht aus der letzten Regenzeit überlebt?

      Ungewöhnliche Gedanken für Karl, eigentlich kümmerten ihn Frösche einen Scheißdreck, er wusste nicht einmal, dass sie existierten, und nun wunderte er sich über ihren Aufenthaltsort und war besorgt, ob sie genug Wasser hätten? Er versuchte das tote Huftier in den Unrat des Straßengrabens zu schaffen, sonst würde das nächste Auto es möglicherweise noch einmal überfahren. Vielleicht einen weiteren Unfall verursachen! Er zerrte und schob das schlaffe noch warme Tier, ergriff mit beiden Händen die Hinterhufe, ein Vorderbein, die Ohren, konnte es aber keinen Zentimeter vom Fleck bewegen. Erschöpft entschuldigte er sich bei dem toten Tier. Etwas ebenfalls sehr Ungewöhnliches für Karl, etwas, das er selbst gar nicht bemerkte. Es überkam ihn eine schmerzhafte Abscheu, Mitleid oder Ekel, er wusste es nicht. Warum ließen sie dieses Tier hier liegen?

      Karl empfand die abschreckend erstrangige Gier dieser Menschen nach Überleben, ihre festgefressene Armut, als beleidigend, gegenüber der puren Schönheit des Sternenhimmels über sich. Gegenüber der Nacht. Diese erhabene Stille und sein Glanz aus der Weite geschöpft, erschien ihm wie nicht zugehörig als Gegenüber, das konnte nicht der Spiegel der Welt sein. Einer Welt mit gewaltiger und trotzdem passiver, so erschreckend offensichtlicher Lebensgier, die auf der Stufe gleich nach dem Atemschöpfen hockte und ihre Prioritäten in Soles gewickelt sah. Das Geld, dreckige Papierlappen besaßen uneingeschränkte Macht über Leid oder Freude, über Lachen oder Weinen, und es gab niemals genug davon, um die Gier versiegen zu lassen, sie ans Kreuz zu nageln. Es stieß ihn ungeheuer ab.

      Er stieg in sein Auto und fuhr los. Erst nach einigen Kilometern erkannte Karl, dass er sich wieder in Richtung Camp bewegte. Die Richtung, aus der er geflüchtet war. Doch er hatte sich beruhigt, er war erschöpft und auf eigenartige Weise von einem Glücksgefühl ergriffen. Von der Stille entfacht, die er während seines kurzen Ausflugs in den nächtlichen Wüstenhimmel erhascht hatte? Von der Demut, die er empfand, ohne dass sich seine sonst so überragende Überheblichkeit einstellte? Eine Art unausgesprochener Dankbarkeit seinem Schicksal gegenüber, der Erkenntnis, dass es ihm gut ging, dass er gesund war und kein peruanischer Kleinbauer oder ein Esel? War er wirklich kein Esel? Karl rollte ins Camp zurück, in sein Bett. Allein.

      Am nächsten Nachmittag ergab es sich, dass Karl, da der zuständige Sprengmeister erkrankt war, eine Nachlieferung Dynamit begleiten musste und an dem nächtlichen Unfallort vorbeifuhr. Der Esel lag aufgedunsen in der prallen Sonne. Er würde jeden Moment platzen und Karl hoffte inständig, es möge nicht in dem Moment passieren, wenn er vorbeifuhr. Alle Autos vor ihm machten noch einen Bogen um das Tier. Die Menschen mit ihren hohen Hüten und der vor Sonne schützenden Kleidung hielten die Hand vor Mund und Nase oder ein Tuch, sie machten ebenfalls einen kleinen Bogen um den Kadaver herum. Karl visualisierte voller Entsetzen für einen Moment das verweste Gedärm des Tieres auf seiner Windschutzscheibe. Doch diese Vorstellung verwirklichte sich nicht.

      Am übernächsten Tag war das Tier platt gefahren, und als Karl etwa acht Tage später diesem Fleck seine Aufmerksamkeit noch einmal zuwandte, sah er nur noch ein paar Fellfetzen, die am Straßenrand klebend, leicht vor- und zurückflatterten und sich schon vereinzelt im Wüstensand verloren. Bald wären auch diese davon geweht, zu Staub zerfallen. Irgendwann, zu noch weniger als Staub und dann zu Nichts. Wie jedes Leben, dachte Karl. Lohnte sich dann überhaupt der Aufwand? Der Aufwand im Einzelnen, im Allgemeinen und überhaupt?

      Er begann zu begreifen, warum sich keiner um die Beerdigung des Tieres bemüht hatte. Aber tolerieren wollte er es nicht. Er trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch, schnell vorbei an einem nicht mehr stinkenden, flüchtig erlebten Symbol der Vergänglichkeit. Karl fühlte Trauer und Gelassenheit im selben Herzen, im selben Moment, und wusste nicht mehr, wer er war. Wo waren seine Richtlinien, seine Prinzipien, wo war sein Halt, Moral und Ästhetik, wo war der deutsche Karl mit Titel. Wohin versank, entglitt all das ihm so Wichtige?

      Es schien ihm, als würden seine lebenslangen Wichtigkeiten in einem Moor versinken. Nicht entfliehen, verirrt sein oder von anderen missbraucht, nein, sie ertranken in der Überflüssigkeit ihres eigenen Bestehens, die sich ihm am Horizont zeigte. Er hatte das Gefühl, als sei er einer großen vergoldeten Kiste entstiegen und bewege sich zum ersten Mal in der Welt der Wirklichkeit. Weit und windig war es dort, wo war die Aufforderung zur Landung? Er schwebte noch, hatte noch keinen Landeplatz in Aussicht. Oder gab es keine Landung, etwa niemals mehr eine Festlegung seiner selbst? Es war, als hätte sich eine andere Seele seiner bemächtigt, wobei ihm das vorherige, ihm bekannte Selbst, fremder war als die neue unbekannte Besatzung. Es schien, als hätte er die Trennung von diesem bekannten