Gabriele Plate

Im Galopp durchs Nadelöhr


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Pädagoge, genoss große Sympathien, auch bei den Müttern.

      Es nahm kein Ende, Karl konnte es nicht mehr hören. Marlon, dieser Protz und Tennisstümper. Einst hatte ihn ihre Stimme verzaubert, jetzt litt er, da sie nur noch von diesem Lehrer oder seiner Frau sprach. Karl fragte, ob sie Interesse hätte mit ihm auf die Baustelle zu fahren, ihn einmal zu begleiten, er hätte heute Abend Nachtdienst, leider eine Neureglung, um dem Bauverzug entgegen zu wirken. Er würde sie gerne mitnehmen und alles zeigen, sie in seine Arbeit einweihen.

      Diese neuerdings geforderten Nachtschichten brachten Karls Konzept durcheinander, er war kaum zu Hause, und sie hockte seiner Meinung nach, viel zu oft bei den Lehrers, wie er seine beiden Camp-Nachbarn in leicht spöttischem Ton nannte.

      Nein, sie wollte nicht mit ihm auf die Baustelle fahren, nicht heute Abend. Da Helen am nächsten Tag nach Lima reisen würde, müsse sie noch einige Anweisungen entgegen nehmen, um das Kind während ihrer Abwesenheit zu versorgen. Helen wollte ihre Mutter am Flughafen abholen und für zwei Tage und Nächte abwesend sein. Und nun hörte Karl das Unglaubliche, Luz del Mar sollte dann im Lehrerhaus übernachten, um für das Kind besser sorgen zu können.

      Und für den Lehrer, brummte Karl finster vor sich hin. Er war empört, dass sie schon zugesagt hatte, ohne mit ihm vorher darüber zu reden. Oder nein, eigentlich war er mehr enttäuscht als empört.

      Ich erledige natürlich beides, dein Haus und das Baby. Hatte sie schnell gesagt. Neuerdings sprach sie Deutsch mit ihm. Er mochte ihre Art sich seiner Muttersprache zu bedienen, einer ihr fremden Sprache, die sie sich so schnell und mit täglichem Eifer einverleibt hatte. Hatte dieser Eifer vielleicht doch mit ihm zu tun, wollte sie sich ihm auf diese Weise nähern? Das war sein kurzer, von letzter Illusion gespeister Gedanke.

      Ihm widerstrebte die Tatsache, dass diese rapiden Fortschritte unbestritten dem Lehrer zu verdanken waren. Sie las dem Kind die Kinderbücher vor, und neuerdings wagte sie sich auch an die deutschen Zeitschriften, die veraltet im Camp eintrafen. Das Verstehen des journalistischen Stils, die stets kompliziertere Version der sensationellen Berichterstattung, der oft versteckte Sarkasmus, all das konnte sie nicht recht entziffern, obwohl sie das Vokabular schon zum großen Teil beherrschte. Oft las sie das Gegenteil von dem heraus, was der Artikel vermitteln sollte. Denn sie sprach mit Helen oder Marlon immer über das Gelesene, um sicher zu sein, dass sie es richtig übersetzt hatte. Sie konnte die Texte perfekt lesen, ihre Aussprache war beeindruckend, als hätte ihre Zunge ein Leben lang dieser Sprache gedient.

      Am Anfang hatte sie auch Karl deutsche Texte vorgelesen, das hatte sie leider aufgegeben. Sie spurtete nach getaner Arbeit stets hinüber in das Lehrerhaus. Wo war ihr Stolz geblieben, fragte sich Karl. Sie konnte sich doch nicht ständig dort aufdrängen, sich hinein klemmen in die kleine Familie.

      Aber das tat Luz del Mar nicht. Beide, Helen und Marlon, hatten sie liebend gerne um sich, sie forderten sie sogar auf, bei ihnen zu wohnen. Das war betörend für Luz, sie war dort kein bisschen überflüssig, sie gehörte dazu und wurde geliebt. Diese Verbindung, ihre Anwesenheit und die des Ehepaares, empfand sie nach diesen wenigen Monaten schon als Einheit. Wo war ihr Freiheitsdrang geblieben! Luz del Mar wurde von der berühmten Blindheit gestreift, blind vor Liebe und betört von dem Geruch einer intakten Familie. Sie befürchtete keine Komplikationen. Dann flog Helen nach Lima.

      Sie war mit Marlon zum ersten Mal allein. Das Kind schlief und sie saßen auf der Terrasse. Ein Windlicht flackerte seine unruhigen Muster gegen den mit Bambus verkleideten Sichtschutz der Außenterrasse. Sie tranken Wodka mit viel Zitronensaft auf Eis.

      Luz del Mar trank zögernd, sie hatte selten Alkohol zu sich genommen. Die Stimmung, in Verbindung mit dem Drink, machte sie komplett transparent. Er warb um sie. Er umarmte sie. Er küsste sie. Ihr erster Kuss, sie sank dahin. Doch nur bis zur Gürtellinie, dann sprang Luz auf, eilte ins Kinderzimmer und verriegelte die Tür.

      Sei nicht albern, komm da raus, du kannst mir vertrauen, niemals würde ich dich zu etwas überreden, ich mache nichts, was du nicht auch möchtest. Seine Stirn war gegen die Kinderzimmertür seiner kleinen Tochter gepresst, er pochte behutsam gegen die Barriere zwischen ihnen. Sie antwortete nicht.

      Marlon sandte steinerweichende Wortschübe durch das Schlüsselloch, seine erheblich gedämpfte schöne Stimme zog ihre Hand, wie an einer unsichtbaren Leine zum Türriegel. Doch dann blitzte plötzlich ein weniger zauberhafter Gedanke auf und dämpfte die Hormonausschüttung. Ein Riegel, von innen an einer Kinderzimmertür? Wer hatte diesen idiotischen Riegel hier angebracht. Sie würde ihn morgen sofort abschrauben. Dieser ernüchternde Gedanke verhalf ihr zu einer Antwort, die sie, dem immer noch vor der Tür kauernden Marlon, durch das dünne Furnierholz presste.

      Wir sind doch keine Tiere, Marlon, flüsterte sie, wir sind in der glücklichen Lage unseren Verstand benutzen zu können, wir müssen nicht blind unserem körperlichen Verlangen folgen. Ich hoffe du bist da meiner Meinung. Mehr ist es doch nicht, selbst wenn es mehr sein sollte, worüber ich mir nicht klar bin, würde ich mich trotzdem nicht auf diese Weise mit dir verbinden können und wollen, es würde Helen schaden, deine Familie erschüttern. Das ist mir die Sache nicht wert, ich liebe Helen und will sie nicht betrügen oder ein Drama hervorrufen, nur um meinem hungrigen Körper Befriedigung zu verschaffen.

      Sie sprach sanft und deutlich und mit erheblich gedämpfter Erregung. Einige Brocken Spanisch hatten sich dazwischen gedrängt. Luz del Mar hatte diese wenig jungfräuliche kurze Rede gehalten, obwohl sie noch Jungfrau war.

      Der ernüchterte Marlon brummelte, Bullshit, komm raus und schlafe im Gästezimmer. Er entfernte sich von der Tür, schlich Richtung Terrasse. Lange saß er noch dort draußen, lauschte den letzten Geräuschen dieses Tages im Camp, sie waren in ihrem allnächtlichen Abebben schwach genug geworden, um von außen die Töne der Wildnis zu ihm herein zu lassen. Er lächelte plötzlich und murmelte, dieses Mädchen ist großartig. Er war in Gedanken mit seiner Frau im Gespräch.

      Luz del Mar indessen, lag in Embryostellung, mit dem kleinen Kinderkörper vor ihren Bauch gerollt, in dem mittelgroßen Gitterbett. Sie hatte sich niemals, seit sie denken konnte einem Wesen so nah gefühlt, wie in diesen Momenten dem Kind Regina, das, wie zu ihrem Leib gehörend, mit dem Rücken an sie geschmiegt an ihren Bauch gekuschelt neben ihr schlief. Wie ein Zwillingspaar im Mutterleib, sie fühlte sich als Zwilling. Ein großer und ein kleiner Zwilling, dachte Luz erstaunt.

      Diese Momente, kurz vor dem Einschlafen, rutschten in den Traum hinein, in dem sie ein wirkliches Zwillingskind war und von ihrem Zwillingsbruder ein zu großes Stück Schokolade in ihren kleinen Mund geschoben bekam. Sie waren beide in diesem Wachtraum etwa drei Jahre alt, und ihr Sabbel der Begeisterung tropfte auf ein hellblaues Spitzenkleid. Sie hob beide Händchen hoch, ebenfalls mit Schokolade verkleistert, reckte sie in die Höhe einem Mann entgegen, der ihr sehr vertraut war. Dieser lachte sie zärtlich an und zog ihr eine Haarsträhne aus dem mit Schokolade gefüllten Mäulchen. Nun kam leider ihre Mutter Begoña herangeeilt, wischte ihr den Mund sauber, putzte ihr die Nase, und während Luz feste schnauben sollte, wachte sie auf und hatte den Rotz neben sich kleben, auf dem äußersten Zipfel des Kopfkissens in Reginas Gitterbettchen.

      Leider, dachte Luz, leider, leider, leider! Sie hätte so gerne noch etwas mehr von der Zärtlichkeit dieses Mannes gespürt. Sie war überzeugt, es muss ihr Vater gewesen sein. Hatte sie eine Erinnerung im Traum, war es nur ein Traum oder ein wertvollstes Nur ihre Erinnerung, das sich ihr offenbart hatte? Sein Gesicht, je wacher sie wurde, verschwamm in ihrer Vorstellung, schneller als sie es halten konnte. Sie versuchte den Mann und seine Gesichtszüge im Wachzustand wiederzufinden. Es gelang ihr nicht. Sie suchte und zerrte an ihrer Erinnerung, schloss die Augen und atmete tief, liebend gern hätte sie dieses Glücksgefühl, den Vater und den Jungen bei sich zu haben, zurückgeholt. Hatte sie etwa einen Bruder? Es hatte sich so richtig angefühlt, dieses Kuscheln an das Kind hier in dem Bettchen, das kannte sie doch?

      Sie weinte, ohne dabei traurig zu sein, es war mehr ein Weinen der Erleichterung mit gleichzeitigem Verzicht gemischt. Ein Verzicht, der sie ihr Leben lang schon begleitete, sie war an ihn gewöhnt. Kein Schmerz, den sie benennen konnte.

      In dieser Nacht war sie fest entschlossen, ihre Mutter zu genaueren Angaben über ihren Vater zu zwingen. Sie hatte sogar das Bedürfnis,