Reinhard Warnke

Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte


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aber so recht mochte keiner an eine wundersame Heilung glauben. Selbst in Bremen war Seeler sehr beliebt und das soll bei der Rivalität der beiden Vereine aus dem Norden etwas heißen. Der Bremer Max Lorenz ist noch heute einer der besten Freunde von Uwe Seeler. Doch bei Werder hatte man in diesen Tagen ganz andere Gedanken, denn die Bremer waren auf dem besten Weg, Deutscher Meister zu werden. Eine Woche vor dem Unglück in Frankfurt hatte der HSV den SV Werder zu Gast. Mein Vater, der mich diesmal nicht mit ins Volksparkstadion genommen hatte, kam anschließend total begeistert zurück. Man merkte ihm an, dass sein Herz doch ein wenig mehr für Werder als für den HSV schlug. Bremen hatte Hamburg mit 4:0 geschlagen und damit einen wesentlichen Schritt zur Meisterschaft getan. Und mein Vater schwärmte von den Bremer Fans, die mit dem aktuellen Mainzer Karnevalsschlager „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ für riesige Stimmung gesorgt hatten. Dieser Fan-Song war noch über Jahrzehnte in den Stadien zu hören und Werder Bremen wurde 1965, zur Überraschung Vieler, tatsächlich zum ersten Mal Deutscher Meister. Den DFB-Pokalsieg konnte in diesem Jahr Borussia Dortmund mit einem 2:0-Sieg gegen Alemannia Aachen für sich erringen. Erst im folgenden Jahr sollte deutlich werden, welche Bedeutung dieser Pokalsieg für die Borussia haben würde.

      Die Begegnung Deutschland gegen Italien in Hamburg, am 13. März 1965, war das erste Länderspiel, das ich im Stadion miterlebt habe. Mein Vater hatte nicht nur mich, sondern diesmal auch meine Mutter mitgenommen. Mit Torhüter Manfred Manglitz, Horst-Dieter Höttges, Sepp Piontek, Bernd Patzke und Heinz Hornig feierten gleich fünf Spieler ihren Einstand in der deutschen Nationalmannschaft. Aber wir sahen in diesem Klassiker des europäischen Fußballs ein überaus ruppiges Spiel, das 1:1 endete und das mit einem rüden Foul von Burgnich den Höhepunkt der Brutalität erlebt hatte, für das der Italiener zu Recht vom Platz gestellt wurde. An diesen Platzverweis wird Burgnich am 27. Mai sicherlich nicht mehr gedacht haben, als er mit Inter Mailand durch einen 1:0-Sieg gegen Benfica Lissabon zum zweiten Mal in Folge den Europapokal der Landesmeister gewonnen hatte. Die laufende Europapokal-Saison war verbunden mit dem tragischen Ausscheiden des Deutschen Meisters 1. FC Köln. Der Gegner im Viertelfinale war der FC Liverpool. Sowohl Hin- als auch Rückspiel blieben torlos und das fällige Entscheidungsspiel in Rotterdam endete mit 2:2 nach Verlängerung ebenfalls Unentschieden. Es war für diesen Fall noch kein Elfmeterschießen vorgesehen, sondern ein Münzenwurf des Schiedsrichters musste entscheiden, welche Mannschaft die nächste Runde erreichen würde. Der erste Wurf endete damit, dass die Münze aufrecht in dem aufgeweichten Boden stecken blieb. Durch den zweiten Wurf hatte der FC Liverpool das Halbfinale erreicht. Glücklicher Weise gibt es heutzutage das Elfmeterschießen bei entsprechenden Situationen. Auch hier spielt sicherlich Glück eine Rolle, aber es kommt auch auf Können und Nervenstärke an. Gegen den Fall einer Münze ist man machtlos. Im Europapokal der Pokalsieger hatte sich erstmals eine deutsche Mannschaft für das Finale qualifiziert. Der TSV 1860 München, im Vorjahr noch mühsamer Sieger des deutschen Pokalhalbfinales gegen Altona 93, musste gegen West Ham United London antreten. Die Engländer hatten quasi ein Heimspiel, weil das Endspiel im Londoner Wembley-Stadion stattfand. Durch zwei Tore von Sealey verloren die Münchener mit 0:2, errangen aber den bis heute größten internationalen Erfolg des Vereins. Und sie leiteten gleichzeitig eine Serie ein, dass vier deutsche Clubs in Folge dieses Finale erreichen würden.

      Am Ende der Saison 1964/ 65 hätten der Karlsruher SC und der ruhmreiche FC Schalke 04 aus der Bundesliga absteigen müssen, da die Clubs die beiden letzten Tabellenplätze eingenommen hatten. Aber der DFB war wohl der Meinung, dass Schalke in der Bundesliga bleiben muss. Jedenfalls wurde die Liga auf 18 Mannschaften aufgestockt, so dass es in dieser Saison keinen sportlichen Absteiger gab. Allerdings musste sich Hertha BSC Berlin aus der Liga verabschieden, weil dem Verein überhöhte Handgeldzahlungen nachgewiesen worden waren. Da man im DFB und in der Politik der Auffassung war, dass es nicht angehen könne, in der „heimlichen Hauptstadt“ Berlin keinen Bundesligaverein mehr zu haben, stieg Tasmania 1900 Berlin in die erste Liga auf, obwohl die Mannschaft diesen Ansprüchen nicht im Ansatz entsprach. Dass die Mannschaft nach Abschluss dieser Spielzeit wieder absteigen würde, musste man von vornherein annehmen. Dies konnte auch die Verpflichtung des Nationalspielers Horst Szymaniak nicht verhindern. Noch heute werden Negativrekorde der Bundesligavereine an der Bilanz von Tasmania Berlin gemessen. Aber zu Beginn der Saison 1965/ 66 stiegen auch zwei Mannschaften in die 1. Liga auf, die das Geschehen der Bundesliga in Zukunft maßgeblich mitbestimmen würden, Bayern München und Borussia Mönchengladbach. Insbesondere auf die Leistung der Bayern, mit ihrem großen Talent Franz Beckenbauer, war man gespannt. Am ersten Spieltag gab es gegen den Lokalrivalen TSV 1860 München eine 0:1 Niederlage. Torschütze in der 1. Minute war ausgerechnet Timo Konietzka, der ja auch schon das aller erste Tor der Bundesliga in der ersten Minute geschossen hatte. Die Bayern zeigten sich davon aber wenig beeindruckt und spielten in der Folgezeit in ihrer ersten Bundesligasaison nur noch in der Spitzengruppe der Liga.

      Am 26. September 1965 kam es dann im Rasunda-Stadion von Stockholm zu dem alles entscheidenden Qualifikationsspiel für die Teilnahme an der Weltmeisterschaft in England gegen Schweden. Noch nie hatte Deutschland auf schwedischen Boden gegen diesen Gegner gewonnen, doch nur mit einem Sieg würde man die Teilnahme an der Weltmeister-schaft im darauffolgenden Jahr ermöglichen können. Vor dem Hintergrund, dass seinerzeit in Pflichtspielen keine Spieler ausgewechselt werden durften, bewies der neue Bundestrainer Helmut Schön unglaublichen Mut und Risikobereitschaft. Uwe Seeler, dem im Februar die Achillessehne gerissen war, hatte es tatsächlich geschafft, die schwere Verletzung zu überwinden. Vier Wochen zuvor hatte er sein Comeback im Dress des HSV in der Bundesliga gegeben. Aber selbstverständlich war er noch längst nicht wieder im Vollbesitz seiner Kräfte. Dennoch wollte Helmut Schön nicht auf seinen wichtigsten Torjäger und Führungsspieler verzichten. Ein Risiko, dass in den Tagen zuvor sowohl in den Medien wie auch unter den Fans äußerst kontrovers diskutiert wurde. Aber dies war nicht die einzige riskante Maßnahme des Bundestrainers bei der Besetzung der Mannschaft für dieses so eminent wichtige Spiel. Für das defensive Mittelfeld war neben Klaus Sieloff vom VfB Stuttgart eigentlich der Kölner Wolfgang Weber vorgesehen. Helmut Schön hatte allerdings den Eindruck gewonnen, dass Weber dem unglaublichen Druck dieses Spieles mental nicht gewachsen sein würde. So entschied er sich, den 20-jährigen Franz Beckenbauer, der seit einigen Wochen mit Bayern München in der Bundesliga für Furore sorgte, als Neuling auf dieser Position einzusetzen. Doch damit nicht genug. Mit Peter Grosser von 1860 München bot er für das offensive Mittelfeld einen weiteren Debütanten auf. Ein Großteil der deutschen Fußballfans war skeptisch, dass die Mannschaft in dieser Zusammensetzung in der Lage sein würde, den notwendigen Sieg erringen zu können. Die Skeptiker fühlten sich bestätigt, als die Schweden schon nach kurzer Zeit mit 1:0 in Führung gegangen waren. Doch als Werner Krämer vom Meidericher SV, der später zum HSV wechseln sollte, den Ausgleich erzielen konnte, kam wieder Hoffnung auf. Dann geschah das Unglaubliche. Eine flache Hereingabe kam in den schwedischen Strafraum. Mit letzter Kraft rutschte Uwe Seeler in den Schuss und lenkte den Ball über die Linie. Das 2:1, dies war der Sieg und es folgte grenzenloser Jubel. Die Teilnahme an der Weltmeisterschaft in England wurde also doch noch erreicht. Und ausgerechnet die Willenskraft eines Führungsspielers, dem einige Monate zuvor das Ende seiner Karriere prophezeit worden war, schaffte die Entscheidung. Auch die beiden Neulinge im Team hatten ihre Sache ausgezeichnet gemacht, so dass man davon ausgehen konnte, sie noch öfters im Nationaldress zu sehen. Helmut Schön hatte bei der Mannschaftsaufstellung also alles richtig gemacht.

      Die erste Begegnung gegen Aufsteiger Borussia Mönchengladbach konnte der HSV klar mit 5:0 gewinnen. So leicht sollte es in der Folgezeit gegen die „Mannschaft der 70er Jahre“ allerdings nie wieder werden. Als dann Bayern München am 20. Oktober 1965 zum ersten Mal in der Bundesliga im Hamburger Volksparkstadion gegen den HSV antrat, waren mein Vater und ich selbstverständlich auch dabei, nachdem wir in der Zwischenzeit einige andere Bundesligaspiele gesehen hatten, an die ich mich aber nicht mehr so intensiv erinnern kann, wie an die Spiele im ersten Bundesligajahr. Natürlich wollten wir in dieser Begegnung auch den neuen deutschen „Wunderspieler“ Franz Beckenbauer zum ersten Mal live im Stadion sehen. 72.000 Zuschauer fasste das Volksparkstadion seinerzeit, aber als das Spiel begann, waren mit Sicherheit weit über 80.000 Menschen auf den Tribünen. Tausende Fans hatten sich Zugang in den Innenraum verschafft, indem sie über die Zäune geklettert waren. Dies wäre heute undenkbar. In dem Spiel selbst wurde deutlich, was mit den Bayern auf die Bundesliga in Zukunft zukommen würde. Bei der