Reinhard Warnke

Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte


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aus dem Ruhrgebiet herangeschafft und fieberhaft ging die Suche weiter. Der NDR war Tag und Nacht vor Ort und berichtete von den Rettungsaktionen im Radio und im Fernsehen. Auch bei uns zuhause lief das Radio ununterbrochen und wir saßen gebannt davor, um von einem Lebenszeichen der verschütteten Bergleute zu hören. Vielleicht ging uns dieses Drama so nahe, weil wir ein Jahr zuvor so freundlich von einer Bergarbeiterfamilie in Castrop-Rauxel aufgenommen worden waren. Es erschien wie ein Wunder, als acht Tage nach dem Unglück tatsächlich noch drei Bergarbeiter an die Erdoberfläche befördert werden konnten. Kurz darauf wurde die Suche nach weiteren Verschütteten aufgegeben. Für sie gab es keine Hoffnung mehr. Der Schwertransport mit dem riesigen Bergwerksbohrer befand sich bereits auf der Rückfahrt in das Ruhrgebiet, als er gestoppt und zurück nach Lengede beordert wurde. Man konnte es kaum glauben, aber es waren erneut Klopfgeräusche vernommen worden. Wie sich später herausstellte, hatten sich elf Kumpel in einem Nebenstollen vor den Wassermassen retten können. Ein erfahrener Hauer unter den Helfern vermutete, dass sich dort eventuell noch Überlebende befinden könnten. Es gab aber keine genauen Aufzeichnungen über die Lage dieses Stollens, so dass er eher zufällig von dem Bohrer getroffen wurde. Am 7. November, also mehr als zwei Wochen nach dem Eindringen des Wassers in die Grube, wurden diese elf Bergarbeiter doch noch gerettet. Dies war das wirkliche „Wunder von Lengede“. Vor dem Radio sitzend, liefen bei uns die Tränen über die Wangen, als bei der Reportage des NDR die Namen der einzelnen Bergleute genannt wurden, wenn sie von den Helfern in Empfang genommen wurden, obwohl wir zu ihnen ja gar keinen persönlichen Bezug hatten. Die Körper von 28 der 29 getöteten Bergarbeiter konnten geborgen und an die Oberfläche gebracht werden. Die am 07. November geretteten Kumpel aber konnten diesen Tag fortan als ihren zweiten Geburtstag betrachten.

      Im Frühjahr dieses ereignisreichen Jahres 1963 begann auch für mich ein neuer Abschnitt auf meinem Lebensweg. Die vierjährige Grundschulzeit war zu Ende und jetzt stellte sich die Frage, welche Schule ich zukünftig besuchen würde. Drei meiner Schulfreunde durften fortan nach Hamburg-Harburg fahren, um dort auf einem Gymnasium ihre Schulzeit fortzusetzen. Als ich sie nach Beginn des neuen Schuljahrs zum ersten Mal wieder traf, schwärmten sie von einem ihrer neuen Lehrer, der gerade sein Staatsexamen absolviert hatte. Es war kein Geringerer als Jürgen Werner, seit seiner Jugend Wegbegleiter von Uwe Seeler, Klaus Stürmer und Gert Krug beim HSV. Zweimal spielte Jürgen Werner direkt gegen den großen Pele. Das erste Mal bei einem Freundschaftsspiel, dass der HSV an dem Tage, als sich 1962 unsere Familie auf dem Weg nach Castrop-Rauxel befand, im Volksparkstadion gegen den FC Santos bestritt. Nach dem Spiel schwärmte Pele über Jürgen Werner: „So schlecht habe ich noch nie ausgesehen, wie gegen diesen langen Blonden.“ Das Spiel endete 3:3, wobei die Hamburger noch dreimal Latte und Pfosten trafen. Alle drei Tore für den HSV erzielte Uwe – nein, diesmal nicht Seeler, sondern Reuter. Zum zweiten Aufeinandertreffen zwischen den Beiden kam es am 05. Mai 1963, ebenfalls im Volksparkstadion beim Länderspiel zwischen Deutschland und Brasilien. Bei der 1:2-Niederlage schoss Jürgen Werner per Elfmeter das Tor für Deutschland. Der Mittelläufer gehörte zwar zum Aufgebot für die WM in Chile, wurde dort aber nicht eingesetzt und brachte es letztlich nur zu vier Länderspielen. Es wurde gemunkelt, dass Bundestrainer Sepp Herberger nicht viel von ihm gehalten hat, weil der ihm „zu intelligent“ war. Für Jürgen Werner war das Länderspiel gegen Brasilien gleichzeitig das Ende seiner aktiven Laufbahn als Fußballspieler. Er wollte kein Profi in der Bundesliga werden, weil er einerseits unter Hüftproblemen litt, aber vor allem, weil er seinen Beruf als Lehrer ausüben wollte und er brachte es später sogar zum Oberstudiendirektor. Für den HSV war es allerdings der zweite herbe Verlust, nachdem 1961 bereits Klaus Stürmer den Verein verlassen hatte und in die Schweiz zum FC Zürich gewechselt war.

      Für mich war das Gymnasium eine Nummer zu groß, zumal ich zu viel Zeit auf dem Bolzplatz verbrachte und die Schularbeiten nicht mit dem notwendigen Eifer erledigt wurden. Man kann auch sagen, dass ich zu faul zum Lernen war. So bekam ich die Chance, in den folgenden zwei Jahren in einer Förderklasse, die als Modellversuch in diesem Jahr startete, für einen halbwegs zufriedenstellenden Schulabschluss durchzustarten. Die Schule, in der dieses Förderprogramm etablierte wurde, lag in dem drei bis vier Kilometer entfernt liegenden Ort, in dem mein Onkel die englische Besatzungszeit beinahe nicht überlebt hätte, weil er Eier mit einer Axt verwechselt hatte. In dieser Zeit bekam meine Grundkondition, an der meine beiden Schwestern ja schon erfolgreich gearbeitet hatten, als sie ihren kleinen Bruder zu Rekordzeiten getrieben hatten, um möglichst schnell ihre Süßigkeiten in Empfang nehmen zu können, ihren Feinschliff. Ich hatte damals noch kein Fahrrad und für die Inanspruchnahme des Busses fehlte das Geld. So musste ich jeden Tag den weiten Weg zur Schule und zurück, beladen mit einer schweren Schultasche, zu Fuß absolvieren. Geschadet hat es mir nicht. Es war damals noch nicht allzu sehr verbreitet, dass die Kinder von den Eltern mit dem Auto vor der Schule abgesetzt wurden. Das mag zwar bequemer sein, auf der anderen Seite hatte ich kein Problem mit Übergewichtigkeit und musste nach einem 400-Meterlauf nicht unter ein Sauerstoffzelt.

      Nach jahrelangem Hin und Her ging am 01. April 1963 das Zweite Deutsche Fernsehen auf Sender, natürlich noch in Schwarzweiß. Dies konnte unser Familienleben aber nicht weiter stören, denn wir hatten ja noch kein Fernsehgerät. Wir hörten die Hits des Jahres, die in den etablierten Rundfunksendern noch überwiegend aus dem deutschsprachigen Raum kamen, nach wie vor im Radio. Freddy hatte mit „Junge komm bald wieder“ einen Riesenerfolg und Gitte behauptete „Ich will ´nen Cowboy als Mann“. Sie schwamm damit im Trend der Unterhaltungsbranche, die vom „Wilden Westen“, Cowboys und Indianern bestimmt wurde. Gus Backus zum Beispiel, berichtete von dem alten Häuptling der Indianer, der vom schweren Beruf im Wilden Westen sprach. Die Entdeckung des Jahres aber war die junge Manuela aus Berlin-Wedding, die mit ihrer Stimmlage und einem amerikanischen Akzent ihr Vorbild Connie Francis perfekt nachahmte und mit dem Schlager „Schuld war nur der Bossa Nova“ ihren ersten und wohl auch größten Hit landete. Die Tatsache, dass das Abspielen dieses Titels aufgrund der Textzeile: „Doch am nächsten Tag, fragte die Mama: Kind, warum warst du erst heut´ morgen da?“ im Bayrischen Rundfunk zunächst verboten wurde, beschleunigte den Erfolg wahrscheinlich noch. Der Titel dieses Schlagers brachte es fast zwangsläufig mit sich, dass später auf Betriebsfesten und anderen Feiern gesungen wurde: „Schuld war nur der Boss der Nova…“.

      Die meisten Kriegs-Ruinen waren inzwischen beseitigt worden und es wurde Zeit für neue Errungenschaften. Die Fehmarnsund-Brücke wurde gebaut, die auf einer Länge von 963 Metern die Insel Fehmarn mit dem deutschen Festland verbinden sollte. Zusammen mit der neuen Brücke und dem Fährhafen Puttgarden entstand die „Vogelflug-Linie“, die dafür sorgte, dass fortan Eisenbahn und Autos für die Fahrt nach Skandinavien fast eine Stunde weniger benötigten, als bisher. Nordeuropa war damit näher gerückt.

      12 Vieles ist neu

      In der aller ersten Bundesliga-Saison galt der 1.FC Köln unter Präsident Franz Kremer als Vorzeigeklub. Im Gegensatz zu allen anderen Clubs war der Verein zum Start der Bundesliga in der Lage, den Anforderungen des Profifußballs gerecht zu werden. Dazu gehörte natürlich auch ein erfahrener, besonders qualifizierter Trainer. Und dies war Georg Knöpfle, der erste Meistertrainer der Bundesliga, zweifellos. Vom ersten Spieltag an war der 1. FC Köln ununterbrochen Tabellenführer und wurde mit sechs Punkten Vorsprung (bis zur Saison 1994/ 95 galt die 2-Punkte-Regel) erster Meister der Bundesliga. Weltmeister Hans Schäfer war der Leitwolf der Mannschaft, Regie aber führte der erst 20-jährige Wolfgang Overath. Die erfolgreichsten Torschützen des Meisters waren Karl-Heinz Thielen mit 16 und Christian Müller mit 15 Treffern. Torschützenkönig der Liga wurde hingegen Uwe Seeler, der 30 Tore für den HSV erzielte und infolgedessen von den Sportjournalisten zum Fußballer des Jahres gewählt wurde. Er erhielt diese Auszeichnung damit bereits zum zweiten Mal, nachdem er 1960 der erste Spieler überhaupt war, dem diese Ehre entgegen gebracht worden war. Timo Konietzka, Torschütze des ersten Bundesliga-Tores aller Zeiten, kam mit immerhin zwanzig Treffern auf Rang zwei der Torschützenliste. Die Sensationsmannschaft der ersten Bundesliga-Saison aber kam aus Duisburg. Viele wunderten sich, dass der Meidericher SV beim Start der Bundesliga dabei war. Umso überraschender kam es für alle Experten, dass die Meidericher die Vizemeisterschaft errangen. Trainer der Mannschaft war Rudi Gutendorf, Weltenbummler in Sachen Trainertätigkeit, der in dieser Saison den Spitznamen „Riegel-Rudi“