Reinhard Warnke

Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte


Скачать книгу

ein blutjunger Mittelstürmer eingewechselt, der damit zu seinem ersten Länderspieleinsatz kam, obwohl er mit seinen 17 Jahren nur aufgrund einer Sondergenehmigung des DFB für die Ligamannschaft des HSV in der Oberliga Nord spielberechtigt war. Der Junge war Bundestrainer Herberger in den Spielen der A-Junioren-Auswahl des DFB aufgefallen, in der er zehnmal zum Einsatz gekommen war und dabei fünfzehn Tore erzielen konnte. Es war kein Geringerer als Uwe Seeler, der spätere Kapitän und nach Fritz Walter der zweite Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft. „Uns Uwe“, wie man ihn schon bald liebevoll nennen sollte, bestritt noch drei weitere Länderspiele, bis er für einige Zeit in der Versenkung verschwand. Dies aber nur in Bezug auf die Nationalmannschaft. In der Oberliga Nord wurde er mit dem HSV von 1955 bis 1963 neunmal in Folge norddeutscher Meister, wurde dabei sechsmal Oberliga-Torschützenkönig und stand dreimal im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft.

      Über den Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft freuten sich auch Millionen Menschen im anderen Teil Deutschlands. Politische Beziehungen aber waren zwischen den beiden deutschen Staaten nicht vorhanden. In seiner Doppelfunktion als Bundeskanzler und Außenminister konzentrierte Konrad Adenauer seine Außenpolitik nach wie vor auf die Aussöhnung mit Großbritannien und Frankreich, sowie auf ein verständnisvolles Miteinander mit den Vereinigten Staaten. Im Mai 1955 haben die Westalliierten das Besatzungsregime aufgelöst. Die Bundesrepublik hatte damit, wenn auch mit ein paar Einschränkungen, den Status eines souveränen Staates erlangt. Gleichzeitig erfolgte der Beitritt zur NATO und in Folge dessen die Etablierung des Bundesverteidigungsministeriums, das Inkrafttreten der ersten Wehrgesetze in der Bundesrepublik und die Errichtung der Bundeswehr. 1956 wurde vom Bundestag die Wehrpflicht beschlossen. Versuche, Adenauer davon zu überzeugen, dass es im Hinblick auf eine Wiedervereinigung auch erforderlich sei, mit der DDR in Kontakt zu treten, liefen ins Leere. Auch das Bestreben der Kontaktaufnahme zu Nikita Chruschtschow, dem mächtigen ersten Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU in der Sowjetunion, hielt sich beim Bundeskanzler in Grenzen. Es gab jedoch eine Angelegenheit, bei der Adenauer nicht umhin kam, mit der UdSSR in Verhandlungen zu treten. Zehn Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs warteten noch immer Kriegsgefangene in sibirischen Arbeitslagern auf ihre Heimkehr. Im September 1955 fuhr der Bundeskanzler nach Moskau, um mit der sowjetischen Regierung über die Freilassung der Gefangenen zu verhandeln. Nach zähem Ringen und etlichen Gläsern Wodka einigte man sich auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau. Im Gegenzug dazu sollten alle Gefangenen umgehend freigelassen werden. Tatsächlich kehrten bis Jahresende 7.326 Kriegsgefangene, 2.622 Internierte und 558 Zivilverschleppte zurück nach Deutschland. Täglich trafen überfüllte Güterzüge mit den letzten aus der Gefangenschaft entlassenen Soldaten und Zivilisten im Lager Friedland ein, dort wo in den Jahren zuvor bereits Hunderttausende Heimkehrer empfangen wurden und wo täglich Angehörige und Freunde von vermissten Soldaten versuchten zu erfahren, ob er diesmal dabei ist oder es wenigstens ein Lebenszeichen von ihm gibt.

      Als Zeichen der Annäherung zwischen Deutschland und der Sowjetunion wurden auch zwei Fußball-Länderspiele zwischen den beiden Nationen vereinbart. Das erste Spiel fand im August 1955 in Moskau statt und wurde von der UdSSR, nach einer zwischenzeitlichen 2:1-Führung der Deutschen, mit 3:2 gewonnen. Auch im Rückspiel, ein Jahr später in Hannover, siegte die sowjetische Mannschaft, diesmal mit 2:1. Bei beiden Begegnungen hatten alle Spieler einen großen Blumenstrauß in der Hand, als sie das Spielfeld betraten, den sie ihren Gegenspielern vor Beginn des Spiels überreichten. Es waren zwei Fußballspiele mit erheblicher politischer und emotionaler Brisanz, denn schließlich war es gerade einmal zehn Jahre her, dass sich die beiden Nationen als erbitterte Kriegsgegner gegenüber gestanden hatten. Fußball – die schönste Nebensache der Welt.

      Ende 1955 kehrten die letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zurück. Die deutschen Städte waren halbwegs wieder aufgebaut worden und zwischenzeitlich hatte man begonnen, für die vielen Vertriebenen aus Ostpreußen, Schlesien und dem Sudetenland, die lange Zeit in Baracken und Notunterkünften leben mussten, neue Siedlungen zu errichten. Auch in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist solch eine Siedlung entstanden. Ein Großteil der Bürger des Ortes waren Menschen, die im Krieg ihre Heimat verlassen mussten und hier ein neues Leben begonnen hatten. Derweil kämpften in den deutschen Kinos Kriegs- und Heimatfilme um die Vormachtstellung. „Der Förster vom Silberwald“ brachte das meiste Geld, „Des Teufels General“ den meisten Ruhm. Für den Schauspieler Curd Jürgens war dieser Film der Start zu einer Weltkarriere. Der amerikanische Schauspieler James Dean brachte es ebenfalls zu Weltruhm durch seine Hauptrollen in drei Filmen, die innerhalb von kürzester Zeit entstanden sind: „Jenseits von Eden“, „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ und „Giganten“. Im Alter von nur 24 Jahren wurde James Dean am 30. September 1955 bei einem Autounfall getötet. So ist er bis heute ein unvergessenes Idol der Jugend geblieben und man kann sich irgendwie nicht vorstellen, dass er mittlerweile schon über 80 Jahre alt wäre, wenn er noch leben würde.

      Im europäischen Fußball begann Mitte der 50er Jahre eine neue Ära. In fast allen Mannschafts- und in einigen Individualsportarten, wie der Leichtathletik, finden heutzutage europäische Vereinswettbewerbe statt. Begonnen hat dies jedoch beim Fußball. In der Saison 1955/ 56 wurde erstmals der Europapokal der Landesmeister ausgetragen. In einem K.o.-System spielten die Landesmeister der europäischen Nationen, sofern sie Mitglied der UEFA waren, in Hin- und Rückspielen gegeneinander bis zwei Endspielteilnehmer feststanden, die dann das Finale in dem zuvor festgelegten Stadion austrugen. Das erste Endspiel um den Europapokal der Landesmeister fand am 13. Juni 1956 in Paris statt. Gegner waren der spanische Meister Real Madrid und der Meister aus Frankreich, Stade Reims. Die „Königlichen“, wie die Spieler aus der spanischen Hauptstadt noch heute genannt werden, gewannen das Spiel mit 4:3 und stellten damit den ersten Sieger in der Europapokal-Geschichte. Dies jedoch war erst der Anfang einer legendären Ära mit fünf Endspielsiegen in Folge bis 1960. Doch es waren nicht nur die Erfolge, sondern die Art und Weise, wie diese Mannschaft das Spiel gestaltete, ja zelebrierte, begeisterte die Massen. Für viele Fußballanhänger gilt die Mannschaft von Real Madrid dieser Epoche noch heute als die beste Vereinsmannschaft aller Zeiten. Angeführt von dem überragenden Argentinier Alfredo di Stefano, torgefährlicher Mittelstürmer und Stratege in einer Person, handelte es sich um eine Ansammlung von Weltklassespielern, wie dem besten spanischen Linksaußen aller Zeiten, Francisco Gento, dem Franzosen Kopa, sowie Santamaria, Zarraga, Rial und andere. Ab 1958 gehörte auch Ferenc Puskas zu den Königlichen, für die er aber erst ab der Saison 1959/ 60 international spielberechtigt war.

      In Ungarn, dem Heimatland des Ferenc Puskas fand im Jahr 1956 ein Volksaufstand statt, bei dem sich breite gesellschaftliche Kräfte gegen die kommunistische Regierung und die sowjetische Besatzungsmacht erhoben und demokratische Strukturen für ihr Land forderten. Mit einer friedlichen Großdemonstration der Budapester Studenten begann der Aufstand am 23. Oktober 1956. Noch am gleichen Abend ließ die Regierung auf die stark anwachsende Menge schießen. Während des daraufhin ausgebrochenen bewaffneten Kampfes liefen große Teile der Armee zu den Rebellen über. Binnen weniger Tage wurde die Diktatur durch Pluralismus und eine Mehrparteienregierung unter der Leitung von Imre Nagy abgelöst. Ungarn trat aus dem Warschauer Pakt aus, erklärte seine Neutralität und rief die sowjetische Armee auf, das Land zu verlassen. Ab dem 4. November rückten die durch Einmarsch verstärkten sowjetischen Truppen in Budapest und andere Städte Ungarns ein. Die Kämpfe mit den Aufständischen dauerten in der ungarischen Hauptstadt eine Woche an, in manchen Orten sogar mehrere Wochen, bis die Revolution blutig niedergeschlagen war. Die aufständische ungarische Bevölkerung wurde während der Kämpfe vom Westen verbal unterstützt, doch die NATO hielt sich von einer militärischen Konfrontation zurück, da die Gefahr eines Krieges gedroht hätte. Nach der Niederschlagung der Revolution wurden hunderte Aufständische, darunter auch Imre Nagy, durch die kommunistischen Machthaber hingerichtet, zehntausende wurden inhaftiert. Über Zweihunderttausend Ungarn flüchteten vor der Diktatur in den Westen, darunter auch Ferenc Puskas, der in Madrid seine neue Heimat finden sollte, später sogar die spanische Staatsbürgerschaft erlangte und bei der Weltmeisterschaft 1962 vier Länderspiele für sein neues Heimatland bestritt. Bis 1959 war er jedoch wegen seiner Flucht vor dem Kommunismus und der Diktatur für internationale Begegnungen gesperrt worden. Fußball – die schönste Nebensache der Welt. Ungarn aber sollte 33 Jahre nach der Revolution eine wichtige Rolle bei der Überwindung des Kalten Krieges einnehmen.

      Andere