Reinhard Warnke

Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte


Скачать книгу

1956 sollten als die „Geteilten Spiele“ in die Olympia-Geschichte eingehen. Die olympischen Wettbewerbe, an denen Deutschland mit einer „gesamtdeutschen Mannschaft“ teilnahm, fanden im australischen Melbourne statt. Aufgrund der strengen Quarantänebestimmungen für Pferde in Australien wurden die Reiterwettbewerbe jedoch im schwedischen Stockholm ausgetragen. Und dort ereignete sich Unfassbares. Der deutsche Reiter Hans-Günter Winkler hatte sich bei den Springreiter-Wettbewerben einen Leistenbruch zugezogen. Unter großen Schmerzen musste er den letzten Parcours reiten, unfähig, Einfluss auf sein Pferd zu nehmen. Seine Stute „Halla“ spürte offenbar die Hilflosigkeit und die Leiden ihres Reiters und trug ihn ohne seine Hilfe zur Goldmedaille. Gleichzeitig wurde die deutsche Springreiter-mannschaft mit Winkler, Thidemann und Lütke-Westhues durch diesen Wunderritt Olympiasieger. „Halla“ aber blieb bis heute das berühmteste Pferd der Olympia-Geschichte.

      Im gleichen Jahr hatten zwei deutsche Filmklassiker Premiere in den deutschen Kinos. In dem Film „Sissi“, bei dem es um das Schicksal der österreichischen Kaiserin geht, spielte die erst 18jährige Romy Schneider die Hauptrolle und erhielt anschließend schon als Teenager einen Traumvertrag. Bei dem anderen Filmklassiker gab es im Vorfeld zu den Dreharbeiten heftige Auseinandersetzungen um die Besetzung der Hauptrolle. Curd Jürgens wollte den „Hauptmann von Köpenick“ spielen, Regisseur Helmut Käutner setzte jedoch seinen Willen durch und die Rolle wurde mit Heinz Rühmann besetzt. Und dann waren da noch zwei „Traumhochzeiten“: Das aus Busen und Hüften bestehende Sexsymbol Marilyn Monroe heiratete den Schriftsteller Arthur Miller und in Monaco konnte sich Fürst Rainer über die Hochzeit mit der Schauspielerin Grace Kelly freuen, die als Gracia Patricia Fürstin von Monaco wurde.

      Als erste deutsche Mannschaft nahm Rot Weiß Essen an einem Europapokal-Wettbewerb teil. Die Essener wurden 1955 mit Rechtsaußen Helmut Rahn durch einen 4:3-Erfolg gegen den 1.FC Kaiserslautern Deutscher Meister. Doch das Europapokal-Debüt ging für sie total daneben. Gegen den schottischen Meister Hebernian Edinburgh musste sich Rot Weiß, ohne den verletzten Helmut Rahn, bereits in der ersten Runde nach einer 0:4 Niederlage und einem 1:1-Unentschieden aus dem Wettbewerb verabschieden. Nicht besser erging es ein Jahr später der Borussia aus Dortmund, die den Karlsruher SC im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft 4:2 geschlagen hatte, im Europapokal dann aber im Achtelfinale scheiterte. Es ging aber knapp zu gegen Manchester United. Einer 2:3-Niederlage im Hinspiel folgte ein 1:1 in der Dortmunder „Kampfbahn Rote Erde“ und damit das Aus.

      Ich war mittlerweile vier Jahre alt, als meine Eltern im Februar 1957 nach Düsseldorf fuhren. Dort lebte ein Kriegskamerad meines Vaters mit seiner Familie und schon lange hatten sie geplant, einmal gemeinsam Karneval zu feiern. Während des Kampfes gegen die Partisanen in Jugoslawien waren die beiden echte Freunde geworden und hatten es auch gemeinsam geschafft, vor der Roten Armee zu fliehen, um sich in amerikanische Kriegsgefangenschaft durchzuschlagen, die dann bereits nach wenigen Wochen vorbei war. So konnte mein Vater, der bereits zu Zeiten der Reichsbahn Fahrdienstleiter gewesen war, schon kurz nach Kriegsende seine neue berufliche Laufbahn bei der Bahn beginnen, die nach den Kriegseinwirkungen langsam wieder auf die Gleise gestellt werden konnte. Für mich begann mit dieser Fahrt meiner Eltern zum Karneval jedoch eine neue Epoche, denn dies ist das erste Ereignis, an das ich mich wirklich bewusst erinnern kann. Dies liegt nicht nur an der großen Plastiktüte voller Karamelle, die meine Eltern vom Karnevalsumzug mitbrachten, sondern auch an einem besonderen Erlebnis während ihrer Abwesenheit. Unsere Familie wohnte in jener Zeit in einer besseren Baracke in der Nähe des Bahnhofs in unserem kleinen Dorf, an der Hauptstrecke Hamburg – Bremen, in der auch mein kleines Bettchen gestanden hatte, als Helmut Rahn das 3:2 gegen Ungarn schoss. In der anderen Haushälfte wohnte ein Ehepaar mit vier Kindern, wobei drei von ihnen schon fast erwachsen waren. Die Familie stammte aus Schlesien und musste während des Krieges vor der Roten Armee flüchten. Zwischenzeitlich hatten sie sich mit meinen Eltern angefreundet und so war es für unsere Nachbarin, „Tante Mielchen“, selbstverständlich, dass sie auf mich und meine beiden Schwestern aufpassen würde, während meine Eltern beim Karneval feierten. Und „Tante Mielchen“ meinte es gut mit uns, insbesondere mit mir. Sie wusste, dass ich für mein Leben gerne Grünkohl esse, allerdings so, wie meine Mutter ihn zubereitete. In Schlesien schien diese Speise nicht so wirklich bekannt gewesen zu sein und beim besten Willen, ich bekam keinen Bissen runter. Da half selbst die Drohung nicht, dass ich auch keinen Pudding bekommen werde, wenn ich meinen Teller nicht leer essen würde. Wahrscheinlich war der Geschmack oder besser „Nichtgeschmack“ dieses Grünkohls so markant, dass ich sogar auf den Pudding verzichtete und er offenbar mein Erinnerungsvermögen in Gang gesetzt hat.

      Im gleichen Jahr fanden die dritten Bundestagswahlen statt und ich durfte an diesem Sonntag mit meinen Eltern in das Wahllokal gehen. Wählen durfte ich zwar noch nicht und ich wusste eigentlich auch nicht so richtig, um was es da überhaupt ging. Unter Wahllokal konnte ich mir von diesem Tag an aber sehr wohl etwas vorstellen. Die einzige Kneipe in unserem Dorf, außer dem Bahnhofslokal, in dem sich sonst die trinkfreudigen Männer des Dorfes trafen, wurde von einer uralten Wirtin und ihrer auch nicht mehr so neuen Tochter betrieben und es verirrten sich nur selten Gäste dorthin. Aber das Lokal hatte einen großen Saal und der war an diesem Wahlsonntag, genauso wie die Gastwirtschaft, bis auf den letzten Platz gefüllt. Eine Blaskapelle spielte zum Tanz auf und ich hatte das Gefühl, dass sämtliche Bürger des Dorfes anwesend waren, an diesem Wahlsonntag im Jahr 1957. Den Begriff „Wahllokal“ hat man damals noch wörtlich genommen, wohl auch, weil man wieder frei wählen durfte und gleichzeitig das eine oder andere Bier trinken konnte. Die CDU/ CSU hatte offenbar mit ihrem Wahlslogan „Keine Experimente“ Erfolg und erreichte bei dieser Bundestagswahl zum ersten Mal die absolute Mehrheit, zu der meine Eltern mit Sicherheit nicht beigetragen hatten. Konrad Adenauer wurde in seiner Politik bestätigt und ging in seine dritte Legislaturperiode als Bundeskanzler.

      Großen Anteil an dem Wahlerfolg hatte aber sicherlich das von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard geprägte Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik. Eingeleitet wurde der Wirtschaftsaufschwung zwar schon durch die Währungsreform im Jahre 1948 und eine wichtige Basis für den Aufschwung war durch den sogenannten „Marshallplan“ geschaffen worden. Nach den Vorschlägen des damaligen US-Außenministers George C. Marshall wurde 1948 ein Projekt gestartet, in dessen Rahmen den europäischen Ländern, die sich zu einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit verpflichteten, Sachleistungen und langfristige Milliardenkredite für den Wiederaufbau, zur wirtschaftlichen Entwicklung und damit zum Schutz gegen eine Aggression aus dem Osten gewährt wurden. Doch das eigentliche Wirtschaftswunder hatten die Deutschen selber bewirkt und dabei war Wirtschaftsminister Erhard, ein eindeutiger Verfechter der sozialen Marktwirtschaft, die Antriebfeder. Er prägte das Motto „Maß halten“ und die Arbeitnehmer waren bereit, höhere Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen, als in anderen europäischen Ländern. Geringere Lohnkosten und Sozialleistungen wirkten sich positiv auf die Wirtschaft aus, die steigenden Umsätze ermöglichten den Ausbau der Betriebe und es entstanden mehr Arbeitsplätze. Dadurch sank die Arbeitslosigkeit auf unter ein Prozent und es entstand die sogenannte Aufbaumentalität. Man sah, dass sich harte Arbeit lohnte und auszahlte. Dies wiederum förderte Eifer und Ehrgeiz, sowie den Arbeitswillen der Arbeitnehmer. Das Wirtschaftswunder war eine Spirale nach oben, mit einem durch die richtigen Impulse ausgelösten Automatismus. Als 1955 in Wolfsburg der millionste VW-Käfer vom Band lief, war dies nur ein äußeres Zeichen für den Aufschwung in der Bundesrepublik und dafür, dass „Made in Germany“ wieder ein Begriff für Qualität war. Mitte der 50er Jahre stiegen dann die Löhne und man konnte sich plötzlich elektrische Haushaltsgeräte leisten. 1957 gab es bereits eine Million Haushalte mit einem Fernsehgerät und auch Urlaubsfahrten wurden erschwinglich. So waren das Wirtschaftswunder und die kurz zuvor gelungene Rückholaktion der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion sicherlich Hauptfaktoren für den Erfolg der CDU/ CSU bei der Bundestagswahl 1957, an der auch ich erstmals teilnehmen durfte, wenngleich auch nur als kleiner Gast.

      In dem Jahr der Karnevals-Karamelle, des missglückten Grünkohls und eines vollbesetzten Wahllokals gab es noch zwei Ereignisse, die man erwähnen muss. Im März gründeten die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, kurz EWG genannt. Diese Abkürzung sollte später auch für die legendäre Quizsendung „Einer wird gewinnen“ im Fernsehen stehen, in der Hans-Joachim Kulenkampff ab 1964 in 43 Sendungen