ich nüchtern fest.
„Das heißt, dass du dich aus der Eiswüste selbst hättest retten können", schlussfolgerte er.
„Da habe ich mich noch nicht an meine Macht erinnert. Erst dein Amulett hat die verborgenen Kräfte in mir geweckt."
Don‘kar begann, Ralin gewissenhaft zu satteln und als er ihm das Zaumzeug anlegte, war der Rappe nicht mehr zu halten, so viel Energie pulsierte in dem Pferdekörper, der unbedingt ins Freie wollte. Ralin stupste mich freundschaftlich am Rücken, als wir nach draußen gingen. Ich lächelte, drehte mich um, streichelte ihm sanft über die Nüstern und redete leise mit ihm. Er drehte die Ohren aufmerksam nach vorne und beäugte mich, als ob er jedes meiner Worte tatsächlich verstehen würde. Ich drückte mich an Ralins Fell, weil ich zu frieren begann. Nur, weil ich die Macht hatte, war ich trotzdem nicht gegen die Kälte gefeit. Vor der Hütte blieben wir drei stehen und Don‘kar strahlte erwartungsvoll.
Ich entfernte mich ein paar Schritte von Don‘kar und Ralin, stellte mich mit beiden Beinen fest auf den gefrorenen Boden und schloss die Augen. Ich spürte, dass ich bereit war, von meiner Macht Gebrauch zu machen. Sie begann in meinem ganzen Körper zu fließen, wie das Blut in meinen Adern. Das blaue Licht um mich herum intensivierte sich, ich fühlte das beginnende Vibrieren in meinen Eingeweiden, meinen Armen, Beinen und meinem Kopf. Sämtliche Nerven pulsierten in mir - ich gab mich dem Gefühl ganz hin. Zu spüren, wie meine Arme wuchsen, wie sie länger wurden, wie ich nicht mehr auf meinen zwei Beinen stehen konnte, mich nach vorne fallen ließ, war ein erstaunliches Gefühl. Mein Hals formte sich länger und breiter, ich fühlte die kräftigen Halsmuskeln, die sich anspannten, mein Kopf nahm eine gänzlich andere Form an und etwas Starres ragte aus meiner Stirn heraus, was ebenso ein Teil meines neuen Körpers war, wie das Fell, das plötzlich aus meiner Haut wuchs und sich rasch verdichtete. Meinen Körper empfand ich wie eine einzige, formbare Masse aus Wachs - er mutierte, veränderte sich, wurde fest und warm und die Verwandlung war vollendet.
Ich wagte es noch nicht, die Augen zu öffnen, doch eines spürte ich mit überraschender Klarheit: Die Kälte um mich herum ließ meinen neuen Körper nicht frieren. Ich öffnete langsam die Augen und drehte mich nach Don‘kar und Ralin um. Das Pferd bewegte sich nicht, sein Atem aus den Nüstern stob in kleinen, weißen Wolken vor seinem Maul. Es blickte mich wissend an. Don‘kar stolperte mit langsamen, unsicheren Schritten auf mich zu. Seine Augen glänzten fiebrig, doch es war kein Fieber in ihm, es war das erfüllte Sehnen. Er schlang mir seine Arme um meinen Hals, streichelte meine dichte Mähne, berührte ehrfurchtsvoll mein langes, gewundenes Horn.
„Lass uns durch die Eiswüste reiten", sprach ich und war erstaunt über meine sanfte Stimme, die sich in meinen neuen Ohren anders, unbekannt und doch vertraut anhörte.
Don‘kar stieg auf Ralin auf und dieser bewegte sich auf mich zu. Er knabberte an meiner Mähne und rieb seine Nüstern an meinem weichen, weißen Fell am Hals. Ich erwiderte die gleiche zärtliche Geste, dann drehte ich mich auf meinen Hinterbeinen um und stürmte aus dem Wald heraus in die Eiswüste hinein.
Ich war eins mit den eisigen Böen, es gab für mich eine Zeit lang nur noch das Rauschen des Windes in meiner Mähne, das kraftvolle Ausschreiten meiner vier Beine, das Ausstoßen hoher, wiehernder Laute, die Freude an meinem neuen, mächtigen Körper. Ich ließ mich in den Schnee fallen, wälzte mich auf dem Rücken hin und her, stand wieder auf, schüttelte das kalte, weiße Pulver aus meinem Fell, galoppierte weiter durch die hohen Schneewehen, erkannte die unendliche Weite des Weißes mit meinen neuen, uralten Augen und verfiel schließlich leicht erschöpft in einen lockeren Trab. Der Wind rauschte in meinen Ohren, der weiße, dampfartige Atem tanzte vor meinen Augen - ich genoss das Gefühl der Freiheit, mich ganz anders als in einem menschlichen Körper bewegen zu können.
Als ich ein Schnauben neben mir vernahm, drehte ich meinen Kopf. Don‘kar und Ralin ritten neben mir. Ralin war begeistert von meinem neuen Körper und ich begrüßte ihn freudig wiehernd. Don‘kar hatte immer noch dieses entrückte Glänzen in seinen Augen, glaubte noch nicht ganz, was er doch sah. Wenn ich es selbst nicht gespürt, wenn ich intensiver darüber nachgedacht hätte, wären ehrlicherweise Zweifel in mir aufgekommen. Skrupel hätten fraglos an mir genagt, bis ich wieder Crisca gewesen wäre, die alte Crisca in ihrer menschlichen, zerbrechlichen Hülle zitternd in der Eiswüste stehend. Ich ließ diese Bedenken nicht zu, denn ich fühlte mich so glücklich wie lange nicht mehr und genoss dies in vollen Zügen. Sofort begann ich wieder zu galoppieren, veranstaltete mit Ralin ein Wettrennen, der es mit Don‘kar als zusätzliche Last natürlich schwerer hatte als ich. Er holte mich immer wieder ein - ich war ein sehr kleines Einhorn, hatte meine Gestalt geändert, aber nicht meine Größe.
Wir waren weit von dem Tannenwald entfernt, als ich einen kleinen See in der Ebene entdeckte. Ich galoppierte voran und bewunderte die vereiste Oberfläche, die halb mit Schnee bedeckt war. Die Wasserpflanzen und Ufergewächse am Rande des Sees waren lustige, kleine Schneemänner und plumpe Schneehaufen, die durch ihr weißes Funkeln ein interessantes Eigenleben entwickelten. Ich senkte den Kopf und berührte die starre Oberfläche mit meinem Horn. Augenblicklich begann das Eis an der Fläche, die mein Horn berührte, zu schmelzen. Das zuerst stecknadelkopfkleine Loch breitete sich schnell nach allen Seiten aus und nach kurzer Zeit war ein handtellergroßes Stück geschmolzen. Ich hob meinen Kopf und beobachtete den Prozess fasziniert. Bald war die eisfreie Stelle so groß, dass ich mich in dem darunter zum Vorschein kommenden dunklen Wasser spiegeln konnte. Mir blickte der schmale, lange Kopf eines Einhorns entgegen, aus der Mitte meiner Stirn entsprang ein gewundenes Horn und meine Augen blickten mir unendlich traurig, alt und weise entgegen. Ich stieß einen wiehernden Laut aus, halb Überraschung, halb Traurigkeit. Nachdem ich mich von meinem neuen Spiegelbild losgerissen hatte, bemerkte ich Don’kar in meiner Nähe. Er beobachtete mich aus seinen Augenwinkeln heraus und als ich mich zu ihm umdrehte, wandte er sich offen in meine Richtung.
„Du bist wunderschön", kam es über seine Lippen.
Ich schritt auf ihn zu. Eine seltsame Spannung lag auf einmal in der Luft, ich fühlte sie, konnte sie aber nicht zuordnen. Ich berührte Don‘kar mit meinem Horn sanft an seiner Wange. Er schlang seine Arme um meinen Hals, kraulte meine Mähne mit großer Sorgfalt, als ob er befürchtete, mir weh zu tun.
„Lass uns jagen gehen", hörte ich mich sagen.
Er ließ mich los: "Wir sind zu weit von meinem Jagdgebiet entfernt, ich weiß nicht, ob wir hier erfolgreich sein werden."
„Lass es uns versuchen."
Wir wurden wirklich nicht sehr erfolgreich, aber es gelang uns, einige Hasen zu erlegen und somit unser Abendessen zu sichern. Ein gutes Abendessen, obwohl ich gar keinen Hunger mehr verspürte und mir die kleinen Fellknäule leid taten, andererseits war mir bewusst, dass sie unser Überleben im Winter sicherten.
Nach einigen Stunden, ich erkannte Müdigkeit in Don‘kars und Ralins Augen, erreichten wir den dunklen Tannenwald, in dem sich Don‘kars Hütte befand. Ich spürte nicht einmal den Hauch einer Müdigkeit in meinem neuen, wundervollen Körper. Unsterblich, kraftvoll, ausgeruht und unbesiegbar fühlte ich mich.
Don‘kar führte Ralin in den Stall, nahm ihm den Sattel und das Zaumzeug ab, rieb ihn mit duftendem Stroh trocken und legte ihm zum Schluss ein warmes Fell über. Ich stand die ganze Zeit daneben und spielte mit Ralin, nun doch müde und erschöpft. Nachdem wir uns von Ralin verabschiedet hatten, gingen wir um den Stall herum und standen schließlich vor der Eingangstür zu Don‘kars Reich. Nur mit äußerster Konzentration konnte ich ein Bein nach dem anderen auf den gefrorenen Boden setzen - ich war am Ende meiner Kräfte und zitterte am ganzen Leib.
Es war die Zeit gekommen, wieder meine menschliche Gestalt anzunehmen. Innerlich sträubte ich mich dagegen, fühlte ich mich doch in der Gestalt eines Menschen zerbrechlich, sterblich und gleichzeitig wusste ich, dass ich nicht ewig ein Einhorn sein konnte, nicht sein durfte. Nie wieder böte sich dann die Gelegenheit, nach Hause kommen zu können. Wollte ich das? Nach Hause? Ich schüttelte diesen Gedanken aus meinem Kopf, da es noch nicht soweit war, darüber nachzudenken. Ich durfte kein Einhorn bleiben. Einhörner gab es nicht mehr, hatte es vielleicht noch nie gegeben, zumindest auf der Erde nicht. Ich würde für alle Zeit allein bleiben - dieser Gedanke jagte mir Angst ein.