Ursula Tintelnot

FAITH


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Hass in seinen Augen zu sehen glaubte, dem so etwas wie Staunen folgte.

      Er schien ruhig und so gelassen, als sei er gewohnt, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. „Richard“, das war alles, was Faith aufnahm. Der Rest der Rede der Direktorin ging völlig an ihr vorbei. „He, wach auf“, flüsterte Lisa neben ihr und berührte ihre Schulter.

      Faith blickte sich um. Richard hatte einen Platz im hinteren Teil des Raumes gefunden und „Glatze“ fuhr mit seinem Unterricht fort.

      Glatze würde nur dann seinen Unterricht unterbrechen, wenn der Himmel einstürzte, und da ein neuer Schüler nicht in die Kategorie „einstürzender Himmel“ fiel, sah er keinen Grund, nicht fortzufahren.

      Einen Lehrer, der keine Haare mehr auf dem Kopf hatte, Glatze zu nennen, wäre vielleicht phantasielos gewesen, aber jemandem diesen Namen zu geben, der so außergewöhnlich behaart war wie der Lateinlehrer, war doch erstaunlich.

      Es würde ein Geheimnis bleiben, warum er diesen Namen trug.

      Faiths Blick blieb an Patricia hängen, die mit ihrer besten Freundin Miriam tuschelte, die Augen dabei immer fest auf Richard gerichtet.

      Glatze ließ sie gewähren.

      Patricia war bildschön, klug und so hinterhältig, dass niemand sie zur Feindin haben wollte.

      Die Jungs machten Stielaugen. Ihr derzeitiger Freund Ben, ein blonder Riese, war das Sport-Ass der Schule.

      Die Stunde tropfte an den Mädchen ab wie Regen an einer Fensterscheibe.

      Ben rettet Lisa vor einem Treppensturz

      Auf der Treppe hinunter in den tief verschneiten Schulhof rempelte Patricia mit ihrem „Hofstaat“ Lisa so rücksichtslos an, dass diese drohte, über die hohen Stufen nach unten zu stürzen.

      Ben landete mit einem olympiareifen Sprung vor Lisa, packte sie im letzten Moment und hielt sie sicher in seinen Armen.

      Seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem freundlichen Grinsen.

      „Alles klar, Lisa?“

      Er setzte sie sanft ab und wandte sich wieder Patricia zu, die ihn böse ansah.

      „Was sollte das denn“, zischte sie wütend.

      „Hast du nicht gemerkt, dass Lisa fast gefallen wäre?“

      „Na und, was hast du damit zu tun?“ Patricia warf ihre langen Haare zurück und ließ Ben stehen.

      Ben seufzte, dann lief er gutmütig hinter ihr her.

      „Das hat sie absichtlich gemacht, diese Ratte!“ Lisa war stocksauer.

      Allerdings legte sich ihre Wut, als sie an die starken Arme dachte, die sie gehalten hatten.

      Faith sah sie prüfend an: „Geht’s dir gut?“

      Lisa errötete, schaute hinter Ben her und schwieg.

      „Vorsicht“, flüsterte Faith der Freundin zu, und konzentrierte sich auf Patricia, die in diesem Augenblick die letzte Stufe erreichte.

      Lisa traute ihren Augen nicht.

      Eine große, graue Ratte raste auf Patricia zu, stoppte kurz und verschwand ebenso schnell, wie sie gekommen war.

      Patricia schrie mit ihren Freundinnen um die Wette, während Faith ein zufriedenes Grinsen nicht unterdrücken konnte.

      Lisa sah sie fragend an.

      „Hast du das gesehen?“

      „Ja, eklig, nicht?“

      Misstrauisch sah sich Lisa um, aber von dem Tier war nichts mehr zu sehen.

      Faith war froh, dass die Schule schon mittags beendet war.

      Als sie nach Hause kam, hatte ihr Vater bereits den Tisch gedeckt. Im Ofen brutzelte ein goldbrauner Auflauf. Als sie die Küche betrat, merkte Faith, wie hungrig sie war.

      Von ihrem Vater war nichts zu sehen.

      Als sie, auf der Suche nach ihm, die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnete, schlug ihr eisige Kälte entgegen.

      Die Terrassentür stand sperrangelweit offen, über den Schirm des Laptops auf dem Arbeitstisch flatterten kleine blaue Falter.

      Faith war daran gewöhnt, dass ihr Vater gelegentlich verschwand, ohne Bescheid zu sagen oder eine Nachricht zu hinterlassen. Er war oft zerstreut und vergaß so etwas manchmal.

      Sie suchte mit den Augen das Gelände ab. Ihr Blick blieb an einem riesigen uralten Baum hängen, den vier Männer kaum mit den Armen umspannen konnten. Oft dachte sie, ihr Vater habe das Haus nur wegen dieses Baumveteranen gekauft. Er stand so häufig davor, dass sie ihn manchmal damit aufzog.

      Die Blüten der Zaubernuss daneben glühten wie winzige gelbe Lämpchen im Schnee.

      Um den Baum herum flogen azurblaue Schmetterlinge, so viele, dass es aussah, als ob eine blaue Wolke vor dem Baum schwebte. Faith hatte das schon öfter gesehen, fast immer dann, wenn ihr Vater verschwunden war.

      Es war ein eiskalter Wintertag, woher kamen diese zarten Falter?

      In dieser Sekunde erschien Robert.

      Einen Moment lang stand er in der blauen Wolke, die sich plötzlich auflöste und nicht mehr zu sehen war.

      „Hast du das auch gesehen?“

      Faith winkte ihrem Vater zu.

      „Was gesehen“, rief er und winkte zurück.

      Schnell kam er über den knirschenden Schnee auf sie zu.

      Faith sah ihn prüfend an. Sie war sicher, dass er log, er musste die blaue Wolke gesehen haben. Aber warum log er?

      Nach dem Essen, das ziemlich wortkarg verlief, weil Vater und Tochter ihren eigenen Gedanken nachhingen, schnallte Faith sich die Skier an und lief zurück ins Dorf.

      Madame Agnes

      Madame Agnes, bei der Faith französische Konversation lernte, trug wie immer ihre graue Wolljacke und eine altmodische Zopffrisur, die hier und da die rosige Kopfhaut durchschimmern ließ.

      Sie wieselte vor Faith her in ihr gemütliches Arbeitszimmer.

      „Du bist heute wieder mal zu spät“, sagte sie nach einem Blick auf die Uhr in fließendem Französisch. Aber es lag kein Vorwurf in ihrer Stimme.

      „Der Schnee ist noch tief, die Rillen nicht ausgefahren, dadurch dauert die Fahrt ein wenig länger“, erwiderte Faith, viel weniger fließend.

      „Haben Sie schon mal blaue Schmetterlinge im Winter gesehen, Madame?“

      Faith stellte die Frage ganz unbewusst, ihre Gedanken waren immer noch bei der blauen Wolke.

      Erschrocken hielt sie inne. Was für eine blöde Frage. Ihre Lehrerin musste sie für verrückt halten. Das tat Madame keineswegs, aber sie beantwortete die Frage ihrer Schülerin auch nicht.

      Nach der Stunde sah Madame Agnes Faith gedankenverloren hinterher.

      Madame hatte in der Tat schon einmal von blauen Schmetterlingen gehört, vor vielen Jahren, nachdem ihre Tochter, die wie sie selbst den Namen Agnes trug, in Irland Urlaub gemacht hatte.

      Im Norden des Landes war es schon kühl gewesen, aber die Schmetterlinge flogen aufgeregt und scheinbar desorientiert in der herbstlichen Kühle.

      So hatte die junge Agnes es ihr erzählt.

      Eines der kleinen Dinger hatte sie in ihrem Zimmer gefunden, wo es zornig brummend hin- und herflog. Der Falter besaß ein wirres rotes Fellchen und schaute sie aus ganz menschlichen, hellgrünen Augen an.

      Damals