Ursula Tintelnot

FAITH


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löste den Blick von seinem Glas. „Das macht doch nichts, wir ziehen dicke Jacken an, machen ein großes Feuer, hängen den alten Rost darüber, und alles ist gut.“

      „Ich fass es nicht, zehn Grad minus und der Mann will grillen!“

      Lisa sah ihre Freundin auffordernd an: „Sag doch auch mal was!“

      „Warum nicht?“ Faith sah auf und blickte ihren Vater an.

      „Du hast manchmal richtig gute Ideen. Wer grillt schon im Winter. Mal was anderes.“

      Lisa sah kopfschüttelnd von einem zum anderen, warf Block und Kugelschreiber auf den Couchtisch, stand auf und streckte sich.

      Sie blickte durch die großen Scheiben der Türen, die in den Garten führten, und erstarrte.

      Dort, im kalten Licht des Mondes, das den Schnee noch bleicher erscheinen ließ, stand eine dunkle unbewegliche Gestalt und starrte sie aus kalt leuchtenden Augen an.

      Lisa konnte nichts Genaues erkennen, aber irgendetwas am Umriss der Gestalt kam ihr bekannt vor. „Da draußen ist jemand“, sagte sie leise zu Robert. Ihre Stimme zitterte ganz leicht. Als Robert aufstand um nachzusehen, war da nichts als schneeweiße Fläche, ohne eine Spur auf dem unberührten Schnee.

      Ein Wolf in der Nacht

      Robert war den ganzen Tag unruhig gewesen und froh darüber, dass Lisa bei ihnen war.

      Sie hatte etwas Stetiges, etwas Realistisches, während die Welt, in der er und auch Faith, ohne dass seine Tochter das wusste, lebten, äußerst fragil war.

      Manchmal fragte er sich, ob Faith doch etwas ahnte, sie fragte nie nach der Mutter, nie, warum er mit ihr alle paar Monate umgezogen war. Sie hatten ein Zigeunerleben geführt.

      Natürlich musste er als Autor viel verreisen, aber die Aufträge der Verlage hätte er auch allein erledigen können. Immer hatte er sein kleines Mädchen mitgeschleppt.

      Faith hatte Schulwechsel, wechselnde Freundschaften und fremde Sprachen klaglos ertragen.

      Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie jetzt schon über zwei Jahre ohne Unterbrechung an einer Schule.

      Wenn nun sogar Lisa Dinge wahrnahm, die normale Sterbliche niemals spüren würden, würde er seine Tochter bald wieder in Sicherheit bringen müssen. Die Zeichen verdichteten sich, außerdem rückte Faiths Geburtstag näher.

      Faith träumte. Sie träumte von dem grauen Wolf, den sie am Morgen im Wald getroffen hatte und schrie auf, als das Tier sich auf sie stürzte.

      Während es auf sie zuflog, riss es sein Maul auf und zeigte ein furchtbares Gebiss, dann verwandelte es sich in Lisa, die sie an der Schulter rüttelte.

      „Wach auf, du träumst!“ Faith fuhr blitzschnell hoch.

      Lisa rieb sich die Nase, der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. „Verdammt“, jammerte sie, „kannst du nicht langsamer hochkommen?“

      Der Mond beleuchtete das Zimmer fast taghell. Sein bleiches Licht ließ ihre Gesichter nahezu durchsichtig wirken.

      „Entschuldigung.“ Faith stand auf und trat ans Fenster.

      Draußen stand bewegungslos der Wolf und starrte sie mit gelb funkelnden Augen an. Sie wirkten unnatürlich hell, fast so, als seien sie von innen beleuchtet. Neben ihm wirbelte eine graue Wolke hoch. Die Umrisse nahmen die einer großen, kraftvollen Gestalt an, um dann in einem Strudel aus grauer Asche sofort wieder zu versinken.

      Faith blinzelte, sie traute ihren Augen nicht. Als sie versuchte, genauer hinzusehen, war auch der Wolf wie nächtlicher Spuk verschwunden.

      „Geht’s dir wieder besser?“ Lisa stand jetzt neben ihr und sah sie besorgt an, offenbar hatte sie nichts von den Vorgängen im Garten bemerkt. Faith fragte sich, ob sie langsam verrückt wurde.

      Die Fährte im Schnee jedoch deutete darauf hin, dass irgendetwas geschehen war. Da war jemand gewesen.

      Zurück in ihren Betten schlief Lisa schon, kaum dass ihr Kopf auf dem Kissen lag.

      Faith jedoch konnte nicht mehr einschlafen und stand nach einer Weile leise wieder auf.

      Sie ging zurück zum Fenster.

      Nachdem Robert sich vergewissert hatte, dass Lisa und Faith fest schliefen, hatte er das Haus verlassen.

      Um sicherzugehen, dass Faith heute Nacht keine Gefahr drohte, musste er sich noch einmal umsehen.

      Er befürchtete, dass Lisa sich nicht getäuscht hatte, als sie meinte, draußen jemanden gesehen zu haben, hoffte aber gleichzeitig das Gegenteil. Robert brauchte keine Lampe, um seinen Weg zu finden. Der Mond schien immer noch hell genug und der Schnee reflektierte sein Licht zusätzlich.

      Ganz automatisch ging er über den gefrorenen Boden zu dem alten Baum. Dort spürte er Magalie, als ob sie bei ihm wäre.

      Der Mond war jetzt fast verschwunden, aber Faith erspähte dennoch am alten Baum die Bewegung. Und wieder sah sie die blaue Wolke. Es erschien eine fast durchsichtige, schlanke Silhouette, die ganz offensichtlich auch von Robert erblickt wurde. Ihr Vater näherte sich ihr schnell und ohne zu zögern.

      Es schien Faith so, als habe er auf die Silhouette gewartet.

      Plötzlich und ohne jegliche Vorwarnung verhüllte dichtes Schneetreiben den Mond vollständig, sodass Faith nichts mehr erkennen konnte.

      Was machte ihr Vater da draußen?

      Faith seufzte, irgendetwas stimmte nicht mit ihm.

      Aber auch sie selbst hatte manchmal das Gefühl, sich nicht zu kennen, nicht zu wissen, wer sie war.

      Sie dachte an die seltsamen Dinge, die ihr passierten. Woher war denn die Ratte plötzlich gekommen, die Patricia auf dem Schulhof so erschreckt hatte, woher kam das Kaninchen für den hungrigen Wolf heute Morgen im Wald?

      Waren es Zufälle? Oder waren ihre Gedanken dafür verantwortlich?

      Als Faith am nächsten Morgen die Küche betrat, saß ihr Vater am Tisch, löffelte seinen morgendlichen Joghurt, trank seinen schwarzen Kaffee und war, wie immer am Morgen, noch nicht ansprechbar. Faith setzte sich zu ihm und folgte mit halbgeschlossenen Augen Lisas Bewegungen. Ihre Freundin tollte wie ein Derwisch in der Küche herum.

      Sie packte gerade den Eierkarton aus dem Kühlschrank neben den Herd, auf dem eine Eisenpfanne mit in Butter gebratenem Speck dampfte. Faith sah ihren Vater flehend an.

      „Musst du ihr das durchgehen lassen?“

      Sie rümpfte die Nase und tat so, als ob sie sich gleich übergeben müsste. Lisa wandte sich grinsend um: „Der Mensch muss essen.“

      „Dann iss was, das nicht so stinkt.“

      Lisa drehte sich der Pfanne zu, schüttelte sie kurz und ließ dann drei Spiegeleier auf die goldbraunen Toastscheiben auf ihrem Teller gleiten.

      „Spiegeleier mit Speck stinken nicht, sie duften.“

      Sie ließ sich auf einen Stuhl plumpsen und verspeiste mit großem Appetit ihr Frühstück, ohne einen Krümel übrigzulassen.

      Schwester Dagmar

      Eine dreiviertel Stunde später betraten Lisa und Faith das Klassenzimmer.

      Erwartungsvoll sah Faith in die Richtung, in der sie Richard vermutete.

      Er saß noch nicht auf seinem Platz. Sie packte ihre Tasche aus und legte ihre Bücher auf den Tisch. Als ihr der Bücherstapel aus der Hand rutschte, hatte sie das Gefühl, als ob ihre Finger nicht mehr ihr gehorchten, sondern fremdgesteuert seien.

      Das Gepolter war nicht zu überhören, aber niemand in der Klasse blickte auf, nicht einmal