Ursula Tintelnot

FAITH


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Er sah sie aus seinen strahlend blauen Augen an, zwinkerte ihr einmal zu und ging zu seinem Platz.

      Als sie, inzwischen mit hochrotem Kopf, ihre Bücher vom Boden aufheben wollte, lag der ganze Stapel brav auf ihrem Tisch. Ihr brach der Schweiß aus. Hatte sie Fieber, wurde sie doch wahnsinnig? Inzwischen war Faith aschfahl im Gesicht.

      Sie fiel auf ihren Stuhl und barg den Kopf in den Händen.

      Lisa zog sie vom Stuhl hoch, schubste sie in Richtung Tür und brachte sie resolut zu „Möchtichnicht“, so nannten die Schülerinnen und Schüler Schwester Dagmar, die auf der Krankenstation ein straffes Regiment führte. Jedenfalls konnte man das glauben, wenn man sie das erste Mal sah.

      Nachdem sie erst einmal „Möcht ich nicht!“ zu allem, worum sie gebeten wurde, gesagt hatte, entsprach sie fast jeder Bitte mit größter Sorgfalt.

      Faiths bleiches Gesicht allerdings rang diesmal Möchtichnicht nur ein besorgtes „Oje!“ ab. Sie wies Lisa an, Faith auf die nächste Liege zu packen.

      Als Lisa sich dann jedoch anschickte, im Krankenzimmer bei ihrer Freundin zu bleiben, wischte Schwester Dagmar sie mit einer Handbewegung und einem „Möcht ich nicht!“ aus dem Zimmer. Und diesmal meinte sie es ernst.

      Leonhard

      Als Faith nach der zweiten Schulstunde das Klassenzimmer betrat und sich neben Lisa setzte, sah diese sie forschend an.

      „Was war los?“ Faith schüttelte nur abwehrend den Kopf und flüsterte: „Wahrscheinlich ist mir schlecht geworden vom Gestank deiner Spiegeleier heute Morgen.“

      Lisa verkniff sich eine Antwort, da in diesem Moment ihr Lieblingslehrer den Raum betrat.

      Leonhard war der einzige Lehrer, der von fast allen Schülern beim Vornamen genannt wurde. Das lag zum einen daran, dass er noch sehr jung war, aber auch an seiner lockeren Art mit den Schülern umzugehen, was das Kollegium gelegentlich gar nicht gern sah.

      Er besaß unbestritten eine gehörige Portion Charme. Obwohl kein wirklich gut aussehender Mann, wirkte er mit seinem Strubbelkopf und den großen grauen Augen, die hinter den Brillengläsern klug und gleichzeitig fast kindlich-neugierig hervorblitzten, sehr anziehend.

      „Guten Morgen.“

      Er stutzte kurz, als er Richard wahrnahm.

      „Ich bin Leonhard“, stellte er sich vor, „und du bist?“ „Richard, Richard Baum“, präzisierte Richard. „Gut Richard, dann fangen wir mal an.“

      Noch einen Moment lang blieb der Blick des Lehrers an dem Jungen hängen, dann wandte er sich wieder der Klasse zu.

      „Ich will heute mit euch über Naturgeister in der Literatur sprechen. Ich dachte, wir fangen mit einem ganz unbedeutenden Autor an, der fast in Vergessenheit geraten ist. Sein Name ist Goethe, Johann Wolfgang von Goethe“, präzisierte nun auch Leonhard, während sein Blick zurück zu Richard schweifte, mit einem kleinen ironischen Unterton.

      Faith folgte dem Blick ihres Lehrers und fragte sich verwundert, wieso Richards Gesicht einen Ton dunkler wurde.

      War es die Ironie des Älteren, konnte es sein, dass er mit Ironie nicht umgehen konnte, oder war er schon bei dem Wort „Naturgeister“ rot angelaufen?

      Die anderen amüsierten sich jedenfalls über den „unbekannten Dichter“ und hatten von dem kleinen Zwischenspiel nichts mitbekommen.

      „Nach den Elfen oder Elben hat auch der Erlkönig seinen Namen. Der Erlkönig ist ein Elf, der die Menschen in die Anderswelt führt, einer, der ihre Seelen aus dieser Welt führt.“

      Mit diesen Worten beendete Leonhard die Stunde, in dem Moment, als die Schulglocke die große Pause einläutete.

      Da alle Schüler zur gleichen Zeit in den verschneiten Innenhof drängten, war das Geschubse auf der breiten, gewundenen Treppe nach unten entsprechend groß.

      Faith bemerkte zufrieden die Vorsicht, mit der Patricia die letzten Stufen nahm. Die Ratte vom Vortag war offenbar noch nicht ganz in Vergessenheit geraten.

      Große Pause

      Faith und Lisa liefen, um dem Schnee, der schon wieder reichlich von oben herunterkam, zu entgehen, unter die von dicken Steinsäulen getragenen Arkaden, die sich rund um den Pausenhof zogen.

      An eine dieser Säulen gelehnt standen Lara, Lena und Laura, die „Kichererbsen“.

      Die drei lachten den Freundinnen entgegen und machten Platz für sie.

      Die drei kleinen „Els“, so nannte Lisa sie, waren ein Jahr jünger als Faith und Lisa und eine Klasse unter ihnen. Alle drei kamen gerade von einem Skiausflug zurück.

      Langsam trudelten auch Paul, Adam und Noah ein.

      Die kleinen Els und die Jungs gab es nur im Sixpack, eigentlich wusste keiner so recht, wer da zu wem gehörte, aber das würde sich im Lauf der Zeit sicher noch herauskristallisieren.

      Noahs hochrote Wangen glühten vor Begeisterung. Egal, was er gerade erlebte oder erlebt hatte, er war ständig begeistert, konnte immer irgendetwas Positives an der jeweiligen Situation entdecken.

      „Ich hätte“, sprudelte er, „das Vieh fast überfahren. Das war der größte Wolf, den ich je gesehen habe.“ Als er die ungläubigen Blicke der anderen sah, fügte er bescheiden hinzu: „Und der einzige!“

      Das Gekicher der drei kleinen Els unterbrach Faith mit der Frage, ob denn jemand Lust hätte, zu ihrem Geburtstag zu kommen.

      Da ging das Gejohle erst richtig los

      „Auf keinen Fall“, so Paul, der Komiker.

      Adam tat, als würde er nachdenken und zückte sein Handy um seine „Termine zu überprüfen“, wie er behauptete.

      Noah nickte.

      „Klar, aber nur wenn du ’ne schicke Grillparty anbietest.“

      „Woher weißt du?“ Faith sah ihn erstaunt an.

      Noah grinste.

      „Ich hab deinen Papi beim ,Hackepeter‘ getroffen, dort hat er mindestens einen Zentner Grillgut bestellt.“

      Peter Hack – Hackepeter – war der Besitzer der örtlichen Fleischerei. Dort gab es das teuerste, aber auch das beste Fleisch im weiten Umkreis.

      Seine Tiere kannte er alle persönlich. Er konnte garantieren, dass die Rinder und Schweine, deren Fleisch er anbot, ein glückliches, wenn auch kurzes Leben geführt hatten.

      „31. Dezember.“ Adam hatte die Daten in seinem Handy überprüft.

      „Wie es der Zufall so will.“

      Paul fiel ihm ins Wort: „Hast du also noch ein klitzekleines Terminchen frei und kannst dich ein Stündchen zu uns gesellen, bevor du zu der geilen Silvesterparty gehst, zu der dich Bill Gates einfliegen lassen will.“

      Lara lächelte Adam zu und wickelte sich den Schal fester um den Hals.

      „Lara hat es voll erwischt“, dachte Faith, als sie Laras Blick zu Adam erhaschte.

      Noah stopfte sich den Rest seines dritten Pausenbrotes in den Mund und nuschelte einen undeutlichen Gruß. Als die Schulglocke das Ende der großen Pause verkündete, trennten die Freunde sich, um zu ihren verschiedenen Unterrichtsräumen zu gehen.

      Das Kästchen

      Robert war zufrieden mit seiner Bestellung. Er hatte Fleisch zum Grillen und jede Menge Würstchen beim Hackepeter bestellt.

      Jetzt stapfte er durch den Schnee, in Gedanken zurück in Irland. Er sah die steinige Küste, deren Felsen zu