Ursula Tintelnot

FAITH


Скачать книгу

hab Schule.“

      „Ich habe“, grinste er, „mit Frau Dr. Kirchheim-Zschiborsky telefoniert und ihr von der leichten Unpässlichkeit, die dich heute Morgen befallen hat, berichtet. Sie hat vollstes Verständnis, dass du, wenn überhaupt, erst zur dritten Stunde kommst.“

      Robert schien sehr zufrieden mit sich zu sein. „Was bist du nur für ein Vorbild“, grinste Faith zurück.

      „Völlig ungeeignet, Minderjährige zu erziehen.“

      Mit erstaunlichem Appetit fiel sie über das Frühstück her und bat Robert um den Teil der Zeitung, den er bereits gelesen hatte.

      Zwei Tassen Kaffee und drei Brötchen später rannte Faith keuchend durch den Wald.

      Ihr Herz schlug wild. Das Geifern des großen Wolfes hinter ihr kam immer näher. Es war das Tier mit der Narbe im Gesicht. Sie hatte den Wolf schon mehrfach gesehen, aber nie hatte er Anstalten gemacht, sie anzugreifen oder gar zu verfolgen.

      Sie war fast bis zum Dorf gelaufen, nachdem sie sich entschlossen hatte, heute gar nicht zur Schule zu gehen. Der Tag war trocken gewesen und das Wetter lud zum Laufen geradezu ein. Aus dem Augenwinkel sah sie schattenhaft eine weitere dunkle Gestalt auf sich zustürmen.

      Faith schluchzte halb wahnsinnig vor Angst auf, versuchte jetzt, dem Wolf hinter sich und dem zusätzlichen Angreifer zu entkommen.

      Tränen traten ihr in die Augen. In einem Moment der Unaufmerksamkeit stolperte sie über eine Baumwurzel und stürzte, aber sie fiel nicht.

      Sie fühlte, wie zwei starke Arme sie umfingen und hielten. Faith wagte nicht, die Augen zu öffnen.

      „Alles gut“, hörte sie eine Stimme, die ihr sehr bekannt vorkam.

      Richard! Es war Richard, in dessen Armen sie lag.

      Oh Gott, war das peinlich! Sie befreite sich aus seinen Armen und drohte dabei noch einmal zu fallen. Faith sah sich unruhig nach allen Seiten um.

      „Was ist los?“

      Richard sah sie an.

      „Da war dieser Wolf, ein Wolf mit einer riesigen Narbe im Gesicht. Ich habe ihn schon ein paar Mal gesehen. Man kann ihn leicht an dieser Narbe erkennen. Aber nie hat er mich angegriffen oder verfolgt. Wölfe tun so etwas eigentlich nicht“, setzte sie atemlos hinzu.

      „Ich habe nichts gesehen“, behauptete Richard, aber sein Blick wich dem ihren aus und er sah beunruhigt aus.

      Log er sie an? Er musste etwas gesehen haben, warum sonst war er so plötzlich an ihrer Seite gewesen? Er hatte sie gerettet, aber wovor? Vor dem Sturz oder vor einem Wolf, den er vorgab, nicht gesehen zu haben?

      Faith war sicher, das Tier hinter sich gesehen und gehört zu haben, bevor Richard sich ihr näherte. Warum stritt er das ab? Das ergab überhaupt keinen Sinn. Irgendetwas stimmte nicht mit diesem attraktiven Jungen. Und sie, Faith, würde es herausfinden!

      „Was machst du eigentlich hier?“

      Faith war noch immer etwas außer Atem, aber ihre Neugier war geweckt.

      „Solltest du nicht in der Schule sein?“

      „Und du?“, parierte Richard sofort, ohne ihre Frage zu beantworten.

      Dieser Junge war sehr anziehend und Faith hatte seine Umarmung keineswegs als unangenehm empfunden. Sie wandte sich ab.

      „Ich sollte gehen.“

      Waldlauf

      Richard blieb neben ihr, als sie loslief, um zur Bushaltestelle im Dorf zu gelangen.

      Auf keinen Fall wollte sie heute noch einmal diesem Wolf begegnen.

      Das Mädchen und der Junge liefen einträchtig im selben Rhythmus nebeneinander her. Sprachlos hingen sie ihren Gedanken nach.

      Sie bemerkte nicht die Blicke, die ihnen folgten, aber Richard wusste, dass etwas ganz schief lief. Er war ganz bestimmt nicht hierhergekommen um dieses Mädchen zu beschützen. Und doch hatte er keine Sekunde gezögert, genau dies zu tun, als er sie im Wald sah.

      Sie war ein Wunder, so schön und anmutig in seinen Augen, dass es wehtat. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er, seit er zum ersten Mal die Klasse betreten hatte, den Blick nicht mehr von ihr lassen konnte.

      Und jetzt brachte er sie zum Bus, weil er Angst um sie hatte.

      Was war nur in ihn gefahren, er kannte sich selbst nicht mehr. Aber wie sie da so selbstverständlich und vertrauensvoll neben ihm herlief, konnte er sie nicht der Gefahr überlassen, die im Wald zweifellos gelauert hatte.

      „Vater“, dachte er.

      Nachdem er Faith sicher zum Bus gebracht hatte, lief Richard zurück in den Wald. Seine Laufschuhe knirschten auf dem glitzernden Schnee, er war glücklich, wie immer, wenn er laufen durfte.

      Er liebte den Wald, den Sonnenschein und die kalte, klare Luft, die ihn umgab. Im Gegensatz zu seinem Vater konnte er dem „Schattenreich“, das dieser bevorzugte, gar nichts abgewinnen.

      Als er den Wolf fand, lag das Tier tief geduckt im Schnee und leckte eine Wunde am rechten Hinterlauf. Richard hockte sich neben ihn. „Hat er dich gefunden?“

      Der Wolf fiepte leise. Er hob den Kopf, um ihn auf Richards Knie zu legen. Murat sah ihn aus seinen gelben Augen an und leckte die Hand, die ihn beruhigend streichelte.

      „Einer wie der andere.“

      Richard richtete sich auf und drehte sich um. Er hatte gewusst, dass er Leathan hier treffen würde. Die violetten Augen seines Vaters waren wütend und voller Verachtung auf ihn gerichtet.

      „Kein Mumm in den Knochen. Heute hättest du sie mir bringen können. Wenn ich sie habe, werde ich auch Magalie besitzen. Warum hast du sie zum Bus gebracht, hatte ich mich nicht deutlich ausgedrückt?“

      Richard schwieg, was hätte er auch sagen können. Wenn er seinem Vater von den Gefühlen, die er Faith entgegenbrachte, berichten würde, würde er ihn mit Hohn und Spott überhäufen.

      Leathan kannte keine Gefühle außer Hass und den Wunsch zu besitzen, den er mit Liebe verwechselte. Gier nach Macht war sein Antrieb, gepaart mit einer dunklen Lust an Zerstörung.

      Richard liebte seinen Vater dennoch, wie ein Mensch eben den Einzigen liebt, der ihm zur Verfügung steht. Eine andere Familie hatte Richard nicht. Aber jetzt fürchtete er, würde er sich entscheiden müssen.

      Konnte er Faith verraten, sie einem so grausamen Schicksal wie dem Leben in der Dunkelwelt ausliefern? Leathan blickte seinen Sohn kalt und abwartend an.

      Leathan, das wusste Richard, war noch reizbarer als sonst. In der Welt der Sterblichen waren seine magischen Kräfte beträchtlich eingeschränkt. Ohne diese Macht fühlte er sich unsicher.

      Die letzte Chance

      „Faith“, sagte Richard, „hat mich zu ihrem Geburtstag eingeladen.“

      „Strapaziere nicht meine Geduld, das ist deine letzte Chance.“ Der dunkle Elf hasste es, sich in einer Welt aufzuhalten, in der er Magie nur begrenzt einsetzen konnte. Leathan verschwand, ohne ein weiteres Wort, in einem rasenden Wirbel aus Asche, und ließ die beiden Gefährten allein zurück.

      Richard vergrub sein Gesicht in Murats strubbeligem, warmen Fell.

      Hatte sie wirklich gerade Richard zu ihrem Geburtstag eingeladen? Sie musste den Verstand verloren haben. Sie traute ihm nicht und lud ihn im selben Moment ein?

      Faith sah aus dem Fenster und war froh darüber, dass sie sicher im Bus saß und nicht noch einmal durch den schon dunkler werdenden Wald laufen musste.

      Sie hatte, erinnerte sie sich, Richard auch noch freigestellt jemanden mitzubringen.