Ursula Tintelnot

FAITH


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sie vor der Klasse heruntergeputzt hatte, würde er büßen müssen, sie war sich sicher, dass ihr etwas einfallen würde.

      Faith wusste nicht genau, warum ihr bei der Mimik von Patricia der tote Karpfen einfiel. Weihnachten, noch drei Tage, und sie würde wieder einen toten Karpfen überstehen müssen.

      Vielleicht war es das aufgerissene Maul des armen Tieres, an das Patricias offener Mund sie jetzt erinnerte.

      Robert und sie hatten Weihnachten stets allein verbracht. Aber immer gab es einen großen Baum, den sie gemeinsam schmückten, und einen Karpfen, den Robert allein essen musste.

      Faith weigerte sich, ein totes Tier zu essen, dessen Augen noch im Tod um Gnade flehten.

      Seit ein paar Jahren kam Lisa zu Beginn der Weihnachtsferien und blieb über die Silvesternacht hinaus. Da Lisa keine Skrupel hatte, dem Karpfen ins Gesicht zu sehen, hatte Robert endlich eine Mitesserin, mit der er Bäckchen und den Rest des Karpfens teilen durfte, denn Lisa war eine Feinschmeckerin.

      Faith freute sich trotz des Karpfens auf den Abend.

      Sie würden während der Vorbereitungen das Weihnachtsoratorium hören und, wenn der Baum geschmückt war, in die kleine Kirche des Dorfes fahren, um vor dem Abendessen den Gottesdienst zu besuchen.

      Weihnachtsferien

      Heute war der letzte Schultag im Internat und entsprechend locker ging es zu. Weder Lehrer noch Schüler hatten Lust zu geistigen Höhenflügen.

      Der größere Teil der Schüler, die im Internat lebten, hatte schon gepackt, um im Laufe des Nachmittags entweder abgeholt zu werden oder mit dem Zug nach Hause zu fahren. Die drei kleinen Els mussten im Internat bleiben und teilten dieses Los mit Noah, Paul und Adam.

      Keiner der sechs Freunde schien darunter besonders zu leiden, zumal Frau Dr. Kirchheim-Zschiborsky großen Wert darauf legte, das Fest für die zurückbleibenden Schüler so schön wie möglich zu machen.

      Die große Halle wurde – von allen gemeinsam – mit Tannen- und Mistelzweigen, die die Schüler um die Säulen wanden, üppig geschmückt. Überall hingen Trauben von goldenen und silbernen Kugeln.

      Ein gigantischer Tannenbaum stand in der Mitte der Halle, die Zweige mit Lametta und kleinen Geschenken behängt. Über seiner Spitze schwebte ein kitschiger goldener Weihnachtsengel aus Pappmaschee, der eine Flügelspannweite von fast drei Metern hatte. Die Direktorin hatte ihn von ihrer Großmutter geerbt.

      Die ausladenden Äste des Baumes trugen dicke weiße Kerzen. Es wurden Lieder gesungen, die Lena und Laura am Klavier begleiteten. Lara las mit ihrer schönen Stimme wie jedes Jahr die Weihnachtsgeschichte vor.

      Ein schneeweiß gedeckter langer Tisch brach unter der Last von Pasteten, kalten Braten, Salaten und Süßigkeiten fast zusammen. Gegen Mitternacht brachen die Schüler in Begleitung der Direktorin zur Messe auf.

      Christian und Jamal wurden von Christians Vater abgeholt, um die Feiertage mit ihm in einem Ski-Hotel in der Nähe zu verbringen.

      Zu Faiths Geburtstag würden sie nach Waldeck zurückkehren.

      Jamal hatte keine Lust gehabt, den langen Flug an die Goldküste anzutreten, wo sein Vater gerade zum vierten Mal geheiratet hatte. Sein Vater war ein sehr reicher Mann. Als Generalexporteur für Aluminium konnte er sich praktisch alles leisten, auch eine vierte Ehefrau. Leisten konnte er sich auch, alle seine Kinder in teure Internate zu stecken, um ihnen die beste Ausbildung angedeihen zu lassen, die für Geld zu haben war.

      Christians Vater war für Jamal der liebevollste Vater geworden, den er sich vorstellen konnte.

      Er akzeptierte ihn so wie war und hatte keine Einwände dagegen, dass Christian und er nicht nur Freunde, sondern auch ein Paar waren.

      Er hatte Jamal schätzen gelernt und nahm die Dinge, wie sie waren. Nun hatte er eben zwei Söhne statt des einen, und das war gut so.

      Jamals eigener Vater würde ihn lieber ersäufen, als sich mit seinen Neigungen abzufinden oder sie gar zu akzeptieren.

      Für Jamal war es besser, wenn er seinem Vater gar nicht erst unter die Augen trat.

      Lisa und Faith saßen längst im Bus. Sie hatten sich von den Freunden verabschiedet und zum Schluss noch Christian und Jamal nachgewinkt, bis der Wagen mit Christians Vater am Steuer verschwunden war.

      Patricia blamiert sich

      „Maybach 63, diese High-End-Luxuslimousinen definieren die Spitze exklusiven Automobilbaus“, piepste Lisa plötzlich neben Faith mit hoher Stimme und arrogant hochgezogenen Augenbrauen. Sie imitierte damit vollendet, was Patricia eine halbe Stunde zuvor ihren Freundinnen mitgeteilt hatte. Die beiden Mädchen brachen in haltloses Gelächter aus. Sie klammerten sich an die Haltestange im Bus, als sie an die Szene dachten, die sich gerade noch vor ihren Augen abgespielt hatte.

      Patricia, von oben bis unten ganz in Weiß gekleidet, was ihre prachtvolle schwarze Mähne besonders gut zur Geltung brachte, war oben auf der Treppe vor de m Eingangsportal der Schule erschienen.

      Begleitet wurde sie von einigen ihrer Vasallen die, Miriam allen voran, ihr Gepäck trugen.

      Die Stufen waren von Herrn Zorn, dem Hausmeister, der von den Schülern nur der „Zornige“ genannt wurde, eben mit Salz enteist und danach mit Asche bestreut worden, sodass ein grauer feuchter Belag die Treppe bedeckte.

      Der Chauffeur ihres Vaters stand neben dem riesigen Wagen, eben diesem Maybach 63, die Mütze in der Hand, und riss in dem Moment die Wagentür auf, als Patricia die Stufen hinabstieg.

      Drei schneeweiße Zwergpudel, die alle zierliche goldene Halsbänder trugen, hüpften aus dem Wagen, rasten auf Patricia zu und sprangen mit ohrenbetäubendem Kläffen an ihr hoch.

      Das Mädchen sah danach aus wie ein verdreckter Harlekin und schrie wie ein Fischweib, während sie versuchte, sich die kleinen Biester mit Tritten vom Leib zu halten.

      Nachdem die Hunde eingesammelt worden waren, stieg Patricia wütend in den Wagen, nicht ohne dem Chauffeur zuzuzischen, er könne sich schon mal einen anderen Job suchen.

      Lisa und Faith lachten immer noch, als sie bei Robert ankamen, der stöhnend zum dritten Mal an diesem Tag Schnee schippte. Ihre Augen leuchteten vor Vergnügen, ihre Wangen glühten vor Kälte. Robert dachte, dass es eine Freude war, die beiden jungen Mädchen anzusehen.

      „Könntet ihr einem alten Mann wie mir diese Schwerstarbeit mal abnehmen?“

      Lisa lachte ihn unverhohlen aus, warf ihm eine Kusshand zu und verschwand wortlos in der Küche. Faith umarmte ihn.

      „Komm, alter Mann, fegst du jetzt schon für die Rehe und Hasen heute Nacht?“

      Sie zerrte ihren Vater mit ins Haus.

      „Lisa macht ihren wunderbaren Nudelauflauf, wir beide haben noch Zeit für eine Zankpatience.“ Dieses Kartenspiel für zwei Personen, bei dem sie ihren Vater regelmäßig schlug, liebte Faith besonders.

      Lisa hörte mit halbem Ohr die Streitereien zwischen Vater und Tochter. Jedes Mal gerieten sich die beiden bei diesem Spiel in die Haare, erfanden neue Regeln und behaupteten, der andere habe gemogelt.

      Nicht umsonst hieß das Spiel Zank- oder Streitpatience.

      Lisa schnitt Schinken und abgezogene Tomaten in kleine Stücke, machte aus Sahne, Eiern und gehobeltem Käse eine Sauce, mischte das Ganze mit den gekochten Nudeln und füllte alles in eine gebutterte Auflaufform, um diese dann in den vorgeheizten Backofen zu schieben.

      Sie dachte an das Restaurant, das sie eröffnen wollte. Kochen war nun mal ihre große Leidenschaft. Es würde ein kleines Lokal mit wenigen Tischen und einer Sterneküche werden. Dass sie einen Stern erhalten würde, war für Lisa völlig selbstverständlich. Im Geist sah sie bereits die weiß gedeckten Tische,