Ursula Tintelnot

FAITH


Скачать книгу

auf dem Grill.

      Noah hatte sich gerade den Gaumen verbrannt, weil er wie immer nicht abwarten konnte, bis die Bratwurst etwas abgekühlt war. Er hüpfte mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einem Bein herum, zog eine Riesenshow ab und schrie nach kaltem Wasser.

      Lena drückte ihm ihr Glas in die Hand und sah ihn dabei liebevoll lächelnd an.

      „Er braucht einen Arzt“, johlte Paul, der Witzbold vom Dienst. „Und bald auch einen zum Fettabsaugen“, ergänzte er.

      „Ich bin nicht dick, ich bin kräftig, alles Muskeln“, wehrte sich Noah gegen diese Unterstellung.

      In der Küche sah es aus, als hätte ein Tornado darin gewütet.

      Die Köstlichkeiten vom Buffet waren weitgehend aufgegessen. Schmutzige Teller und Schüsseln standen restlos leergegessen auf jeder möglichen und unmöglichen Ablage. Alle hatten sich vor der Kälte und dem zunehmenden Schneegestöber, das mit heftigen Windböen daherkam, ins Haus geflüchtet.

      Draußen war es finster. Die Schneewirbel, die der Wind vor sich hertrieb, wirkten wie schwere flatternde Tücher auf einer unsichtbaren Leine. Die Küchentür klapperte leise im Wind, der die Glut im Grill unter dem hölzernen Vordach immer wieder neu entfachte.

      Bernsteinfarbene Lichter am Rande des Waldes.

      Mitternacht

      Robert stand im Kaminzimmer mit dem Rücken zum flackernden Feuer. Da er alle Lichter gelöscht hatte, wirkte er wie ein riesiger Scherenschnitt vor einem leuchtenden züngelnden Hintergrund.

      Der Mondsteinring in seiner Hand pulsierte wie ein kleines, warmes Herz, als die alte Standuhr mit rasselndem Keuchen zwölfmal zu schlagen begann. Jeder Schlag hallte in dem fast dunklen Raum unheimlich nach.

      Düstere Drohung.

      Faiths Gäste standen abwartend vor Robert, jeder mit einem Glas Champagner in der Hand, dessen aufsteigende Perlen kleine farbige Lichtblitze abgaben. Ohne es zu bemerken, drängten sie sich näher aneinander.

      Faith wusste nicht warum sie immer in diesem Moment die Fassung verlor. Silvester war, seit sie denken konnte, ein sehr emotionaler Moment für sie gewesen. Sie hatte das Gefühl, etwas Bekanntes zu verlieren und dafür etwas zu bekommen, von dem sie nicht wusste, was es bringen würde. Eine diffuse Furcht regte sich jedes Mal in ihr. Und war es nicht so? Um Mitternacht geboren, hatte sie die Geborgenheit des Mutterleibes verlassen, um in eine gefahrvolle Zukunft einzutauchen.

      Sie wandte sich ihrem Vater zu und wartete auf den zwölften Pendelschlag. Beim letzten Schlag nahm Robert seine Tochter in die Arme.

      „Mein Liebling, alles Gute zum neuen Lebensjahr“, flüsterte er. „Dieser Ring wird dich schützen, deine Mutter gab ihn mir für dich und du solltest ihn niemals wieder ablegen!“

      Er nahm ihre Hand und streifte seiner Tochter den Ring über den Finger.

      Im selben Moment zerschnitt grelles Licht die Dunkelheit. Gleißendes Weiß erhellte schmerzhaft die lodernde Finsternis und ließ die Gesellschaft für einen Augenblick zu eisigen Statuen erstarren.

      Das alles geschah im Bruchteil einer Sekunde und keiner der Gäste ahnte, dass ihm für immer ein winziger Kristall, ein Splitter seiner Vergangenheit fehlen würde.

      Mit einer Ausnahme … Richard, der gerade erst den Raum betrat, wurde leichenblass.

      Ein ohrenbetäubendes „Prost Neujahr“ aus jugendlichen Kehlen, gemischt mit herzlichen Glückwünschen für das Geburtstagskind, durchbrach diesen eisigen, unfassbaren Augenblick.

      Einen Moment hielt er seine Tochter noch fest, dann musste Robert Faith ihren Freunden überlassen.

      „Warum gerade sie“, dachte Robert, als er Faith im Kreise ihrer Freunde sah. Warum konnte sie nicht wie die anderen jungen Leute ein normales Leben leben?

      Faith ließ fast willenlos Glückwünsche und Umarmungen über sich ergehen. Am liebsten hätte sie sich verkrochen, um in Ruhe über das eben Erlebte nachzudenken. Verunsichert und verängstigt versuchte sie zu verstehen, was geschehen war. Hatten die anderen wirklich nichts bemerkt?

      Der kalte Strahl, der sich aus dem Mondstein wie eine eisige Welle ergossen hatte, hatte für einen kurzen Zeitraum jede Bewegung zum Erliegen gebracht.

      Faith riss sich zusammen.

      Geschenke

      Faith packte ihre Geschenke aus und fand in einem kleinen Samtetui ein zierliches Kettchen, dessen silbrige, matt schimmernde Glieder wie die Schuppen einer Schlangenhaut leicht überlappend angeordnet waren. Die Kette lag weich um ihren Hals, wie ein lebendiges Wesen. Faith durchlief ein Schauder, als Richard ihr das Schmuckstück anlegte und seine Finger ganz zart ihren Nacken berührten.

      „Ich wünsche dir alles Glück in deiner Welt, Faith“, sagte er leise und machte Ben und Patricia Platz, die jetzt ihre Geburtstagswünsche loswerden wollten.

      Patricias und Bens Glückwünsche klangen weit weniger sonderbar. Was hatte Richard gemeint, als er „in deiner Welt“ sagte? Was wusste Richard?

      Sie nahm Patricias Geschenk in die Hand und entfernte das Goldpapier, dann hob sie den Deckel des Kästchens, das darin zum Vorschein kam.

      Auf dem unendlich fein gewebten Seidenschal, der buchstäblich daraus hervorquoll, tummelten sich winzige türkisfarbene Eisvögel. Sie zeigten ihre orangefarbenen gefiederten Brüste und wirkten durch die Bewegungen des Stoffes fast, als ob sie tatsächlich flögen.

      Dieser hauchzarte Schal war viel zu kostbar für ein Geburtstagsgeschenk, völlig übertrieben und absolut typisch für Patricia.

      Aber er zeugte nicht nur davon, dass sie unbegrenzt über Geld verfügte, sondern bewies auch ihren exzellenten Geschmack.

      Faith ließ diesen Hauch von Stoff durch ihre Finger gleiten. Seine seidige Glätte fühlte sich unwiderstehlich an, der blasse Glanz unter den strahlend türkisfarbenen Vögeln faszinierte sie. Sie musste zugeben, dass sie sich freute.

      Lisa brachte Faith in einem Körbchen ein struppiges graues Etwas, von dem sie schwor, dass es einmal ein Hündchen werden würde.

      „Er heißt Wolle.“

      Faith umarmte Lisa und drückte sie gerührt an sich.

      „Hast du gefragt, wie groß das ;Hündchen‘ werden wird?“ Robert sah Lisa interessiert an. Spott lag in seiner Stimme, als er das Wort „Hündchen“ wiederholte.

      „Nein“, Lisa schüttelte den Kopf. „Aber er war so traurig und hat mich so flehend angesehen.“

      Robert besah sich den Kleinen und betrachtete eingehend dessen Pfoten, dann hob er eine Augenbraue und meinte zu Lisa gewandt: „Du hättest Faith auch einen Elefanten schenken können. Dieses Tier hier wird, wenn es unter dem Küchentisch liegt und dann aufsteht, den Tisch ohne Mühe auf dem Rücken davontragen können, in, sagen wir, einem halben Jahr.“

      „Woher weißt du das?“

      Adam mischte sich ein: „Die Pfoten von diesem kleinen Monster sind irre groß.“ „Wenn der fertig ist, ist er so groß wie eine Dogge, nur nicht so reinrassig“, grinste Lara, die neben Adam stand. „Richtig“, meinte Robert. „Er wird mich arm und unseren Hackepeter reich machen“, spielte er auf den örtlichen Fleischer an.

      Faith drückte das kleine Tier entzückt an sich.

      „Niemand ist vollkommen.“ Sie grinste zu ihrem Vater hoch. „Du bist ja auch ein bisschen zu groß geraten.“

      Sie hatte ihre gute Laune wieder und ihre Ängste für diesen Moment vergessen.

      Silvesternacht