Ursula Tintelnot

FAITH


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      Aber Robert war nicht da, als sie nach Hause kam.

      Sie nahm sich einen Apfel aus der Obstschale auf dem Küchentisch und schleppte sich ins Wohnzimmer. Faith merkte erst jetzt, wie müde und erschöpft sie war. Nachdem sie das fast heruntergebrannte Feuer im Kamin wieder entfacht hatte, ließ sie sich in ihre Lieblingsecke auf dem Sofa fallen, wickelte sich in ihre Decke und schlief, den angebissenen Apfel in der Hand, sofort ein.

      Mondstein

      Faith hatte die Frau, die sich über sie beugte, noch nie gesehen.

      Und doch kannte sie das Gesicht, es war ihr eigenes.

      Eine Flut roter Haare umrahmte das zarte, ebenmäßige Gesicht. Grüne Augen sahen sie sehnsüchtig und voller Liebe an. Aber auch Besorgnis und Unruhe lagen in diesem Blick. Neben ihr stand Robert, den Arm liebevoll um die Frau gelegt.

      „Magalie, du musst zurück, hier bist du nicht sicher.“

      Robert zog Magalie aus dem Raum.

      Als Faith erwachte, war es draußen bereits dunkel geworden, nur der helle Schnee verhinderte, dass die Nacht ganz schwarz wurde. Im Kamin glomm noch ein Rest Glut. Der Schnee schimmerte und glitzerte trotz der Dunkelheit. Sie hatte fest geschlafen. Trotzdem fragte Faith sich, ob sie wirklich nur geträumt hatte.

      Der Traum, in dem sie Magalie und ihren Vater gesehen hatte, war so echt, so verdammt realistisch gewesen, so, als ob sie das wirklich erlebt hätte. Es war ein in Abständen wiederkehrender Traum, der sie schon ihr Leben lang begleitete. Immer war das Gesicht dieser Frau fremd und vertraut zugleich, und immer zog ihr Vater sie aus dem Raum, bevor Faith erwachte. Erst jetzt erkannte sie, dass es ihre Mutter gewesen war, die sie in diesen „Träumen“ gesehen hatte.

      Faith stand auf und sah hinaus in die Dunkelheit, in die die kleinen Eiskristalle auf dem Schnee farbige Blitze schossen. Sie bemerkte die Fußspuren, die den sonst makellosen Schneeteppich zerstört hatten. Also war jemand hier gewesen, und dieser jemand war nicht allein gewesen.

      Weit entfernt in der zunehmenden Dunkelheit glaubte sie, ein zartes, bläuliches Licht aufblitzen zu sehen.

      Magalie löste sich aus Roberts Armen und streifte den Ring vom Finger, den sie immer getragen hatte.

      „Nimm ihn für unsere Tochter und sag ihr, sie soll ihn niemals wieder absetzen, er wird sie beschützen.“

      Sie gab ihm den herrlich gearbeiteten Ring mit dem sanft schimmernden Mondstein.

      „Aber“, begann Robert.

      „Nein, Liebster“, unterbrach sie ihn, „ich habe genug Magie, auch ohne diesen Ring, aber unsere Tochter wäre schutzlos ohne ihn. Gib ihn ihr an ihrem Geburtstag, mach dir keine Sorgen um mich.“

      Mit diesen Worten verschwand sie und wie immer ging auch das blaue Licht mit ihr.

      Robert hatte, wie jedes Mal wenn Magalie ihn auf diese Weise verließ, das Gefühl, das Licht seines Lebens zu verlieren. Wenn er Faith nicht gehabt hätte, wäre er mit Magalie gegangen und hätte auf seine Sterblichkeit verzichtet.

      Er wusste, wenn er länger als neunzig Tage in Magalies Welt bliebe, würde er für immer bleiben oder bei seiner Rückkehr sterben müssen.

      Eine einzige Möglichkeit gab es, den zu retten, der zu lange geblieben war. Aber selbst Magalie kannte sie nicht.

      Nur diejenigen, die einer Verbindung zwischen Unsterblichen und Sterblichen entsprangen, konnten in beiden Welten leben.

      Magalie hatte ihm erklärt, dass die Sterblichen die Zeit in der Anderswelt als sehr kurz empfinden. In Wirklichkeit sei diese Zeit um ein Vielfaches länger als die in seiner Welt.

      Als Robert zum Haus zurückkam, sah er an der Terrassentür die dunkle unbewegliche Gestalt seiner Tochter. Der Ring in seiner Tasche fühlte sich an, als hätte er ein Zentnergewicht zu tragen. So schwer waren auch seine Gedanken, wenn er an die Gefahr dachte, in der Faith in ein paar Tagen schweben würde.

      „Sie war hier, nicht wahr?“

      Faith hatte die Tür geöffnet, ein Schwall eiskalter Luft kam ihr entgegen.

      Es war das erste Mal, dass Faith ihn das fragte. In all den Jahren, in denen Magalie kam, um ihn und ihre Tochter zu sehen, hatte sie ihn nicht darauf angesprochen.

      Früher mochte sie diese Besuche für Träume gehalten haben. Jetzt nicht mehr.

      Robert fragte nicht, wen Faith meinte, er wusste es. Und sie wusste, dass er es wusste.

      „Ja, Magalie ist hier gewesen.“

      Robert schloss die Tür. Er sah mitgenommen und traurig aus. Faith sah ihn fragend an, aber sie zögerte, weiter in ihn zu dringen.

      Sie schwieg, weil sie spürte, wie schlecht es ihm ging.

      Wieder fiel Schnee und verdeckte die Spuren, die vom Haus wegführten hin zu dem großen alten Baum am Grundstücksende. Faith blickte auf die langsam schwindenden Fußspuren und sehnte sich plötzlich so schmerzhaft nach ihrer Mutter wie nie zuvor.

      Sie hatte sie nie kennengelernt. Robert war ihr immer Vater und Mutter zugleich gewesen. Jetzt aber, da sie wusste, wie nah Magalie war, tat die Sehnsucht nach ihr beinahe körperlich weh.

      „Zwei Menschen“, dachte sie, „in einem Haus, die über ihre Gefühle nicht sprachen um dem anderen nicht wehzutun.“

      Wütend wischte sie die Tränen, die ihr plötzlich in die Augen stiegen, mit dem Handrücken weg und drehte sich um, um haltlos schluchzend Robert in die Arme zu fallen, der leise hinter sie getreten war. Alle Schleusen öffneten sich. Eine Flut von Tränen durchnässte Roberts Pullover.

      Faith weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte.

      Robert hielt sie fest und barg sein Gesicht in ihren wirren roten Locken. Vater und Tochter redeten bis tief in die Nacht. Endlich gestanden sie sich ihre Ängste und Sehnsüchte.

      Patricias Wut

      Als Faith am nächsten Morgen ihren Klassenraum betrat, hörte sie Patricias Stimme.

      „Was haben die Unberührbaren denn berührt?“

      Sie zeigte dabei hohnlachend auf die bandagierten Handgelenke der Zwillinge. Viktor und Valerie ignorierten Patricia völlig, während Miriam in das alberne Gelächter Patricias einfiel.

      Hinter Faith hatte auch Leonhard die Klasse betreten.

      „Dass Miriam über deine überaus dämliche Bemerkung lacht, Patricia, kann ich notfalls noch verstehen, aber dass dir eine solche Dummheit überhaupt einfällt, wundert mich doch sehr.“

      Leonhards Stimme war schneidend. Noch nie hatte Faith ihren Lehrer so wütend gesehen. Patricias Gesicht verzerrte sich zu einer arroganten Maske. Sie war es nicht gewohnt, gemaßregelt zu werden, schon gar nicht vor versammelter Klasse. Man hörte sie förmlich mit den Zähnen knirschen. Aber sie besaß wenigstens den Anstand, rot zu werden.

      „Ich nehme an, du wirst dich nachher bei Valerie und Viktor entschuldigen.“

      Ohne weiter von ihr Notiz zu nehmen, legte er seine Tasche auf den Tisch und zog die letzte Klassenarbeit daraus hervor.

      Er verteilte die Hefte an die Schüler und gab Patricia ihre Arbeit mit den Worten zurück:

      „Deine schriftlichen Ausführungen sind deutlich intelligenter als deine mündlichen, wie immer eine sehr gute, differenzierte Arbeit.“

      Patricia war zweifellos eine seiner klügsten Schülerinnen, aber sie setzte Charme und Freundlichkeit nur da ein, wo es ihr sinnvoll erschien. Sie war berechnend, kalt und sie konnte taktlos bis an die Schmerzgrenze sein, wenn es ihr passte.

      Patricia verzog geschmeichelt