Charles Don Flores

Unbesiegt - Unschuldig in der Todeszelle


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ich seit drei Monaten täglich vor Gericht war, hatte ich nicht einmal die Zeit gefunden, die nötigsten Dinge am Versorgungswagen einkaufen, der jeden Tag durch den Flur fuhr - leider zu der Zeit, zu der ich normalerweise im Gericht war. Nicht immer kam ich rechtzeitig zurück, um einzukaufen. Falls ich rechtzeitig kam, kaufte ich gleich große Mengen, damit es bis zum nächsten Mal reichte. Ich deckte mich mit einem Vorrat an den nötigsten Dingen ein. Ich hatte stangenweise Seife, einige Tuben Zahnpasta, Shampooflaschen und ein paar Snackartikel. Außerdem hatte ich einen Vorrat an Schreibsachen in einem Aktenordner, Papier, Stifte, Briefumschläge und Briefmarken. Ich wusste nie, wann ich wieder Gelegenheit zum Einkaufen haben würde, deshalb versuchte ich vorzusorgen. Mein Leben war weit von jeglicher Normalität entfernt. Es schien als ob ich mich für immer auf das Überleben in der Wildnis vorbereiten würde. Ich dachte immer weiter in diesem Spiel und tat mein Bestes, damit ich alles hatte, was ich brauchte.

      Nachdem ich die Morgentoilette beendet hatte, ging ich zur Zellentür und gab dem Captain meine Kleidung durch den Essensschlitz. Ich kannte die Routine und diesmal war es für mich von Vorteil einfach weiterzumachen und keinen Ärger zu verursachen. Ich hatte gelernt, dass Ärger zu machen mich immer den Kürzeren ziehen ließ. Der Captain starrte mich mit Hass in den Augen an. Ich dachte, dass er mich verängstigen wollte. Das hatte noch nie bei mir funktioniert; es gibt nur wenige Dinge in meinem Leben, die mir Angst machen. Ich starrte nur zurück. Es zermürbte ihn, dass ich so dreist war und er wandte sich von meinem starren Blick ab. Auch dieser kleine Sieg hatte etwas Tröstliches. Der Captain hatte meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er war der Anführer des Rudels von Schakalen, das sich um meine Zelle versammelt hatte. Ich fragte ihn, ob er wisse, warum ich zurück vor Gericht müsse, aber er verneinte es.

      Während er meine Kleidung durchsuchte, dachte ich über meine Situation nach. Ich hatte schon andere gesehen, die wieder vor Gericht mussten, nachdem sie verurteilt worden waren, und dachte, dass ich vielleicht zurück musste, um einige Papiere zu unterschreiben für den Berufungsanwalt, den das Gericht mir stellen musste. Ich redete mir also ein, dass genau dies passierte - nichts Ungewöhnliches. Dann gab mir der Captain meinen orangenen Jogginganzug und meine Schuhe wieder. Er warf meine Boxershortshorts und meine Socken auf den Flur außerhalb meiner Zelle, was mich total aufregte. Ich konnte erkennen, dass er mich für Abschaum hielt. Innerhalb von Sekunden war ich am Rande meiner Selbstbeherrschung. Ich stand an der Kante und sah in den Abgrund, in dem meine Wut brodelte. Ich war kurz davor, dem brutalen Bedürfnis nachzugeben. Ich fühlte den Kämpfer in mir an die Oberfläche kommen, bereit ihn anzugreifen. In diesem Moment wünschte ich mir, ich könnte diesem feigen, rassistischen Südstaatler vor mir an die Gurgel gehen. Ich sehnte mich danach, meinen Ärger an ihm auslassen zu können. Ich war es leid ständig ihrem Willen nachzugeben. Ich hatte nichts zu verlieren. Er konnte all dies in meinen Augen erkennen und entschloss sich als Erster zu sprechen: „Flores, du musst deinen Jogginganzug und deine Schuhe anziehen.“ Ich dachte über das, was gesagt hatte nach, aber es machte keinen Sinn. Ich bewegte mich nicht und fragte ihn stattdessen: „Wieso gebt ihr mir meine Boxershorts und die Socken nicht zurück?“ Er antwortete: „Du brauchst sie nicht“ Da wurde mir klar, dass alles ein Psychospielchen war und er sehen wollte, ob ich nach dem Köder schnappen würde. Ich ging jetzt davon aus, dass er wahrscheinlich hier unten in der Einzelhaft war, um für seine tägliche Portion Unterhaltung zu sorgen. In diesem Moment beschloss ich, dass ich nichts zu seiner Unterhaltung beitragen wollte. Ich sah den Schockgürtel, die Bauchkette, Handschellen und Fußfesseln. Mit unendlicher Anstrengung beherrschte ich meinen Ärger und meine Wut. Ich wich von der Tür zurück und zog meinen Jogginganzug an. Dann setzte ich mich auf meine Pritsche und zog meine Schuhe an. Ich saß dort, die Hände im Schoß und starrte auf den Captain. Jetzt schrie er nach dem Picket Control Officer, dass er die Tür öffnen sollte. Die elektronische Tür schwang automatisch zurück und die Wachen traten in meine Zelle.

      Ich kannte die Prozedur. Ich stand auf und drehte mich langsam um. Ich hob meine Arme und ließ mir den Schockgürtel anlegen. Mit meinem Rücken zu ihnen zog ich langsam meinen Jogginganzug hoch und schnürte ihn mit der Schnur an meiner Brust fest. Ich kniete mich auf die Pritsche und ließ meine Füße über die Kante hängen, damit sie mir die Fußfesseln um meine Knöchel legen konnten. Dann fehlten nur noch die Hüftkette, die sie um meinen Bauch schnürten, und die Handschellen. Jetzt war ich „transportbereit“ und trat aus der Zelle. Sobald ich das gemacht hatte, befahl der Captain den Wachleuten, meinen Besitz mitzunehmen. Da wurde es mir schlagartig bewusst! Diese Hunde würden mich höchstpersönlich zum TDCJ, dem Texas Department of Criminal Justice, bringen! Ich beobachtete sie in meiner Zelle. Da war plötzlich eine Plastiktüte in der Hand eines Wärters und sie begannen meine Gerichtspapiere hineinzuschmeißen. Glücklicherweise wurde die Mappe, in der sich meine Schreibsachen befanden, auch hineingeworfen. „Vergesst mein Toiletzeug nicht“, warf ich schnell ein. Ich wusste, dass es mir erlaubt war diese Dinge zu behalten, wenn ich zum TDCJ transportiert werde. Der Captain fasste nach meinem Arm und zog mich von der Zellentür weg und ich konnte nicht länger sehen, was in die Plastiktüte getan wurde. Es war früh, vor 7 Uhr morgens und mein Freund und Zellennachbar Cowboy schlief noch. Ich fing an seinen Namen zu rufen: „COWBOY! COWBOY! Hey Junge, wach auf! COWBOY!“ Ich hörte, wie er mir antwortete und zu seiner Zellentür kam. Und ich erzählte ihm: „Sie bringen mich ins TDCJ. Du musst meine Mom anrufen und ihr ausrichten, dass ich weg bin!“ Ich rief ihm kurz die Telefonnummer zu, die er anrufen sollte und er schrieb sie auf und versprach, meine Verwandten anzurufen, sobald er die Möglichkeit dazu hätte. Ich war mir sicher, dass ich mich auf Cowboy verlassen konnte. Wir hatten schließlich nun für sechs Monate nebeneinander gelebt. Ich schätzte, dass der Großteil meiner Gebrauchsgegenstände in der Zelle zurückbleiben würde, sobald ich weg war. Ich überließ sie Cowboy; alles, was er tun musste, war, an sie ranzukommen.

      Dann kamen die Wachen aus meiner Zelle mit meinen Habseligkeiten, die ich in dieser Plastiktüte mitnehmen sollte. Und so begann meine Reise.

      Wir machten uns auf den Weg zum Aufzug und fuhren damit hinunter ins Erdgeschoss des Gefängnisses. Wir verließen es durch den Eingangsbereich und gingen weiter zur „Sallyport Area“, das ist der Bereich, in dem Gefangene zum Gefängnis gebracht und abgeholt werden. Als wir zum Parkbereich kamen, stand dort ein Dallas County Transportbus. Neben ihm standen zwei große Hilfssheriffs, die wie Polizisten gekleidet waren und dunkelblaue Uniformen trugen. An ihren Gürteln waren Schlagstöcke befestigt und in den Halftern steckten Maschinenpistolen. Langsam ging ich zur Rückseite des Busses und sie öffneten mir die Tür. Mit beträchtlicher Anstrengung schaffte ich es in den Bus. Es war nicht einfach mit all diesem Zeug an meinem Körper, den Wagen zu besteigen. Ich schaffte es trotzdem, ohne mich zu beschweren. Je schneller es vorbei war, desto besser.

      Der Deputy schlug die Tür zu und ich war im hinteren Teil des Busses eingesperrt. Es gab keinen Weg nach draußen für mich. Wenn wir einen Unfall gehabt hätten und es den Wagen geschleudert und er Feuer gefangen hätte, hätte ich ein ernstes Problem gehabt. Es gab keinen Weg aus dieser Sardinenbüchse auf Rädern, in die ich eingesperrt war. Kurz darauf stiegen die Deputys vorne in den Bus ein. Ich sah, dass einer der beiden den Auslöser für den Schockgürtel hatte. Einer der Deputys fuhr, der andere kletterte in den hinteren Teil des Busses und nahm seinen Platz hinter dem Maschendrahtgeflecht ein, das den Wagen in zwei Hälften teilte. Er saß auf einer Bank und schnauzte mich an, still zu sitzen und ihm auf der Fahrt nach Huntsville keine Probleme zu machen. Jetzt war unser Ziel also kein Geheimnis mehr und er erzählte mir, wohin wir fuhren. Ich bereitete mich mental auf eine vierstündige Fahrt vor, während der ich mich so wenig wie möglich bewegen wollte. Ich hatte es bislang geschafft, keinen Stromstoß zu kriegen. Ich wollte ihnen keinen Anlass geben mich zu schocken, nun da es schon fast vorbei war.

      Der Bus war mit Lichtern und Sirenen ausgestattet. Es war morgens und es war viel Verkehr. Die Autofahrer schienen alle auf dem Weg zur Arbeit zu sein. Sobald wir auf dem Freeway waren, erkannte ich, dass die Deputys ihren Job sehr ernst nahmen. Der Fahrer machte die Blaulichter an. Wenn wir auf Staus auffuhren, machte er die Sirene an, scherte auf den Pannenstreifen aus und schoss an den Autos, die im Rush Hour Verkehr steckten vorbei, als würden sie still stehen. Das kostete mich den letzten Nerv. Es ist nicht wirklich lustig der Passagier zu sein, wenn ein anderer rücksichtslos fährt. Ich wurde dabei aber natürlich nicht gefragt.

      Ich kannte die Strecke, die wir nach Huntsville