Kurt Partner

Draußen war Sommer...


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zu beginnen – außerdem würde das ja nur gemeinsam mit der Einnahme von Tabletten funktionieren." Diese Aussage ist bei ihr als eine Art von Rettungsanker wie „eingebrannt". Die Therapeutin hat daraufhin nur gesagt, dass sie ja dann noch mal mit dem Professor sprechen und das Thema klären würde. Seufz!

      Scham steckt in dieser Krankheit. So viel davon. Davon gespeist das Versteckspiel und damit jede Form der Geheimhaltung. Mein Schreiben hier? Geheim! Das Prinzip der strikten Geheimhaltung der Krankheit gegenüber Freunden, allen Verwandten und Bekannten! Ausnahmen sind im gewissen Rahmen nur ihre Schwestern, ihre Eltern und eine Tante. Aber diese Gemeinheit ist von Bettina und Rainer seit 20 Jahren (vor-)gelebt und eisern verteidigt worden.

      So wird natürlich auch insgesamt in unserer Gesellschaft eine riesige Chance vertan. Wenn jeder diesem Drang nach äußerer Perfektion nachkommt, dann wird niemand anderes so leicht den Mut fassen, sein persönliches Krankheits-Coming-Out zu bewerkstelligen. Dann werden andere Betroffene nicht den Mut fassen, eine Therapie zu beginnen. Dann muss erst wieder ein Selbstmord eines Depressionskranken die Debatte in die Öffentlichkeit bringen. Dabei ist gerade diese Öffentlichkeit so wichtig. Es müsste so viel offener darüber gesprochen, es müsste jeder positive Schritt im Grunde groß gefeiert werden. Jeder Schritt in Richtung Bearbeitung, jeder Schritt in Richtung einer Besserung. Aber es fällt so schwer zu feiern, wenn keiner etwas davon wissen darf.

      Diese Krankheit ist eine so große Belastung für alle. Für die Zwängler selbst. Für die Angehörigen. Wenn dann auch noch ein „Schweigegelübde" über der Krankheit liegt, so dass die eigenen Bezugspersonen nicht als Gesprächspartner herhalten können – dann ist es im wahrsten Sinne des Wortes nochmals zum Verrückt werden.

      Auf den letzten Hinweis an meine Schwiegereltern, dass ich schon nicht mehr wüsste, mit welcher Begründung ich gegenüber meiner eigenen Eltern schon wieder keinen Besuch von Niklas im Krankenhaus bekommen hätte, war die Antwort von meinem Schwiegervater Rainer, dass ich ja sagen könne, dass er derzeit einfach viel zu quirlig wäre, um sich im „gefährlichen" Krankenhaus aufzuhalten, wo er ja nichts berühren dürfte…. Krank.

      Mein Vater hat mir auch so viele Rituale „nähergebracht”. Da soll man im Hotelzimmer immer nur mit Badelatschen ins Bad. Nach einem Tag in Sandalen müssen die Füße gewaschen werden, bevor man ins Bett geht. Man legt sich nicht mit dem Kopf auf die Fußseite des Bettes. Man packt seinen Koffer nicht auf dem Schlafbettlacken. Man setzt sich nicht mit Straßenklamotten auf das Bettlaken... Ja, da habe ich einiges mitgenommen, was heute für mich erklärt, warum ich so spät ins Zweifeln gekommen bin, was denn nun eigentlich normal und was krank ist. Aber jetzt bin ich in Gedanken schon wieder so weit weggekommen von Niklas. In weniger als neun Stunden werde ich ihn endlich wiedersehen. Ich freue mich schon riesig darauf.

      Freitag, 3. August 2007 – Wiedersehen mit meinem Sohn Niklas

      Das Wiedersehen gestern hätte schöner nicht sein können. Wir haben den kleinen Stadtpark in der Nähe der Reha-Klinik als Treffpunkt vereinbart. Schon von weitem war sein Ruf zu hören: „Papa, wo bist Du?" und schon kam er mit seinem Laufrad durch den Park auf mich zugefahren. Was für ein überwältigendes Gefühl. Drei Wochen durfte ich ihn nicht sehen! Eine Ewigkeit!

      Das Hinterherlaufen war für Katrin schon ganz schön schwierig – schließlich sind es nur noch etwas über sechs Wochen bis zum errechneten Geburtstermin. Es war sehr schön zu sehen, dass Niklas inzwischen noch sicherer auf seinem Laufrad fährt. Gleichzeitig ist es so erschreckend ernüchternd, mitzubekommen, wie Katrin bei so vielen Gelegenheiten noch einmal genau nachschaut, was Niklas angefasst, worüber er mit seinem Fahrrad gefahren ist. Bis hin zur Farce beim Einladen des Laufrades in unseren Wagen: Bevor nämlich das Laufrad in den Kofferraum geladen werden konnte, musste erst noch unter den Lenker eine große Tüte geschoben werden.

       “Was machst Du da?”

       “Den Lenker schützen!”

       “Vor was?”

       “Da waren doch die Tüten mit der Wäsche aus dem Krankenhaus im Kofferraum. Der Dreck von den Tüten soll doch nicht an den Griff vom Lenker.” Wirre Gedanken? Ja. Verwirrend wirr und dabei ständig so sehr belastend.

      Aber nun ist der Anfang gemacht. Der erste Besuch aus Katrins Sicht „überstanden”. Während ich diese letzten Zeilen schreibe, warte ich gerade im Kurpark darauf, dass Katrin mit Niklas wieder vorbeikommt. Sie hat mich bei der telefonischen Verabredung noch mal darauf hingewiesen, dass ich Kleidung anziehen soll, bei der sie sich nicht „gruseln" muss.

      Gruseln ist eben eine Sache, die ihr direkt doppelt Arbeit macht: Das Gruseln und das dagegen Arbeiten. So hatte Katrin an einem der vergangenen Abende aus irgendeinem Grund vergessen, sich beim nach Hause kommen die Hände zu waschen. Erst als sie nach diversen Haushaltsaktivitäten zur Ruhe gekommen war, fiel ihr ein, dass sie nun mit dreckigen Händen (und „Fremdhausstrümpfen" – also Strümpfen, die schon irgendeinen anderen Hausboden berührt hatten) im ganzen Haus unterwegs gewesen war. Im Telefongespräch mit ihr versicherte ich, dass sie nun nicht alle Stufen, Geländer etc. säubern müsste. Ob sie tatsächlich darauf verzichten konnte? Ich weiß es nicht.

      Da kommen sie. Das nächste Wiedersehen mit meinem Sohn!

      Montag, 6. August 2007 – Hygienefragen und der Blick zurück nach Korfu

      Woran erkennt man den „normalen" Drang nach Sauberkeit und Hygiene? Wodurch unterscheidet er sich vom zwanghaften Putzen, Waschen und Säubern? Was ist eine gesunde Angst vor der Ansteckung mit einer gefährlichen Krankheit? Wo fängt die Panik an, die bei einem Zwangserkrankten das normale Leben unmöglich macht? Da ich Katrin derzeit ja nur außerhalb des Sauberkeitsbunkers unseres Hauses erlebe, scheine ich mir mehr Gedanken darüber zu machen, wie alles angefangen hat. Ob und woran man eine solche krankhafte Veränderung festmachen kann. Da war zum Beispiel unser erster gemeinsamer Urlaub.

      Griechenland, griechische Inseln. Korfu. Im Jahr 2000. Als wir im Hotel ankamen, war unser Zimmer noch nicht fertig vorbereitet. Wir wurden dennoch zu unserem Zimmer geführt. Katrin und ich sahen so, wie dieses – „unser" – Zimmer vom Vorbesucher hinterlassen wurde: bewohnt, mit zerwühlten Betten und Sand auf dem Boden. Wir sollten dann in der Hotel-Lobby warten, bis das Zimmer für uns vorbereitet war. Ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, aber ich denke, schon damals traute sie dem Frieden nicht wirklich. Sie hatte aus Deutschland noch Desinfektions-Tücher mitgebracht und konnte so das Bad noch einmal behandeln. Das machte sie direkt, noch bevor wir das Zimmer wirklich bezogen. Noch bevor ich endlich auf Toilette gehen konnte. Diese Vorsichtsmaßnahme schien Katrin von ihren Eltern, von Bettina, gelernt zu haben.

      Es gab dann noch so ein paar weitere Vorsichtsmaßnahmen, die man für mehr oder weniger übertrieben halten konnte. Mit entsprechender Vorprägung könnte man sie jedoch auch als ganz selbstverständlich verstehen: Ich sollte nur mit Badesandalen duschen. Ich sollte auch nicht barfüßig durch das Zimmer gehen. Auch die Baumwollüberdecke empfand Katrin als dreckig und so sollte diese nicht mit dem Gesicht in Kontakt kommen. Wer sie mit bloßen Händen berührte, sollte sich nochmal die Hände waschen – besonders, bevor wir uns auch nur in der geringsten Art und Weise annäherten.

      Besonders vorsichtig, oder damals schon krankhaft? Ich denke für sich allein genommen: einfach besonders vorsichtig. Diese Art von Handlungsanweisungen und „Vorsichtsmaßnahmen" waren mir auch schon von meinen Eltern nahegebracht gewesen. Nie mit Straßenhosen aufs Bett. Nicht mit Schuhen aufs Bett. Nicht mit den Händen unter die Schuhe fassen. Keinen Müll vom Boden aufheben. Ich glaube, der große Unterschied zwischen „normaler" Vorsicht und der krankhaften Angst ist die Reaktion auf das Nicht-Vorhergesehene oder die Reaktion auf Situationen, bei denen die Regeln nicht eingehalten wurden.

      So kann man sich natürlich überlegen, ob die Badewanne im Hotelzimmer eigentlich wirklich sauber ist. Ob man sie vor dem eigenen Vollbad nicht erst mit heißem Wasser abspritzt. Ob nicht vielleicht das Reinigungsteam zu oberflächlich gesäubert hatte und nun noch Putzreste in der Wanne hängen. Oder vielleicht auch mal ein Haar. Oder was auch immer. Keine wunderschöne Vorstellung. Aber: Ich kann damit leben. Auch wenn mir eine Freundin „vom Fach“ erzählt hatte, dass sie in einem Hotelzimmer auch immer noch einmal