Kurt Partner

Draußen war Sommer...


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Situationen Vorschläge macht, wie wir mit der Angst, den Ritualen, den Rückfragen besser oder vielleicht einfach nur leichter umgehen können. Diese Fragebogen können ja dann weiter abgearbeitet werden, wenn die Situation sich halbwegs stabilisiert hat. Aber: Es läuft alles nach Vorschrift, nach Plan. Ausbildung eben. Aber was soll in den vier Wochen Urlaub von Frau Saggur passieren? Dann hat Katrin genau Null Komma Null Unterstützung für diese Zeit!

      All mein Bitten und Flehen, doch auch über Alternativen/Verschärfungen (stationäre Behandlung) etc. mit meiner Frau zu sprechen, hat Frau Saggur in den Wind geschlagen. Ich hatte sie angerufen, aber all meine Gedanken wären falsch. Und stationär? Das wäre nicht nötig, meint sie. Kann sie ja auch leicht sagen. Sie lebt ja nicht in dieser Hölle!

      Und in dieser Hölle ging es heute Abend weiter: Da ich die Post aus dem Briefkasten geholt habe, hat Katrin sämtliche Türen gesäubert. Ich darf das Handy im Haus nicht mehr benutzen. Außer ich wasche mir anschließend die Hände und das Gesicht. Auch nach dem Schreiben auf dem Laptop müsste ich mir die Hände waschen.

      Warum ich mir das gefallen lasse? Das ist im gewissen Sinne ein „tolles" System: Wenn ich versuche, etwas so zu tun, wie ich denke, dass es „normal" ist, dann sieht Katrin dies als Versuch an, sie zu „therapieren". Katrin meint, dass ich Dinge„extra" mache, die aus ihrer Sicht gefährlich sind. Daraufhin droht sie mir, dass sie einfach sofort mit der Therapie aufhört, denn diese hätte ja dann auch keinen Sinn. Also ist Stillschweigen angesagt. Und Mitmachen.

      Leider darf ich auch mit niemandem darüber reden. „Was sollte es denn auch bringen?" ist Katrins Aussage. Also gibt es keine Verständigung mit direkten Freunden oder mit meiner Familie. Da Katrin inzwischen unkontrollierbare Situationen vermeidet, gibt es auch im Gegensatz zu früher im Grunde keine Besuche mehr von Freunden oder Bekannten bei uns. Das hat dann zwar immer sehr logische Gründe ("Liebling, lass uns doch EIN Wochenende mal allein verbringen." oder „Liebling, das ist doch im Nachhinein immer so viel Arbeit"), aber dahinter steckt – da bin ich mir sicher – immer der Gedanke, dass sich jemand ganz unbewusst nicht an ihre Regeln halten könnte. Ist ja auch klar, denn DIESE Regeln kann niemand unbewusst befolgen. Schlimm wäre es zum Beispiel, wenn jemand im Vorraum seine Schuhe eben nicht auszieht oder sonst etwas unternimmt, was „verboten" und damit potentiell „gefährlich" ist.

      Auch wenn es unglaublich hart klingt: Aus meiner Sicht wäre eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung von Katrin in einer stationären Behandlung in einer spezialisierten Klinik zur Zeit die beste Variante. Im Moment bringt sie nicht nur mich quasi in den „Wahnsinn" ihren Wahnsinn ständig mitzumachen, sie beeinflusst nicht nur die Entwicklung von unserem Sohn Niklas. Sie belastet sich auch unentwegt, was auch für unser ungeborenes Kind sicherlich nicht optimal ist. Nachts putzt sie noch bis weit nach Mitternacht und kümmert sich zum Beispiel um die viele Wäsche die eben anfällt, wenn Kleidung nicht nur täglich, sondern durchaus drei oder vier Mal am Tag gewechselt wird. Und alles, was ihr zu dreckig erscheint, wird in Plastiksäcken unten im Keller gelagert.

      Ich weiß nicht, wann diese Krankheit tatsächlich auch langfristig merkliche Auswirkungen auf Niklas und später auf unser zweites Kind haben wird.

      Lustiges Indiz für sonstige Nebenwirkungen der Krankheit ist unsere Wasser- und Stromrechnung. Sie ist beeindruckend! Wir verbrauchen als 3-Personenhaushalt so viel Strom und vor allen Dingen Wasser, wie ein über seine Verhältnisse lebender 5-Personen-Haushalt. Woher das wohl kommt?! Und dazu gibt es auch keine „Hygiene-Tücher", „Hygiene-Sprays" und „Unterwegs-Waschlappen", die wir nicht schon im „Test" hatten. Dumm nur, dass die ganzen Supermärkte hier einen so reichen Fundus haben! Ich würde ja am liebsten diese ultra wichtig-tuenden Hygiene-Mittel als gesundheitsgefährdend verbieten. Und dazu die Nachrichten: Die Vogelgrippe ist wieder „akut" in Deutschland. Und schon wieder wird Panik gemacht. Gute Nacht!

      Rituale — Wie sieht es denn heute aus? Wie hat es angefangen?

      Was eigentlich so schlimm ist in unserem Leben? Von den Ritualen habe ich schon geschrieben. Die gibt es in jeder Familie. Rituale und ungeschriebene Vorschriften. „Vor dem Essen, nach dem Essen, Hände waschen nicht vergessen.” Und wenn sich mal jemand nicht daran hält? Das Kind oder der Partner etwas vergisst? Beim Kind gibt es eine freundliche, erzieherisch gemeinte Ermahnung. Beim Partner vielleicht nur des guten Vorbilds wegen einen mehr oder weniger versteckten Hinweis. Und dann? Dann ist alles gut.

      Bei uns sieht es anders aus. Alles, wirklich alles ist durchgeplant. Jeder Ablauf während des Tages und der Nacht ist inzwischen ganz genau von Katrin durchdacht. Jede Aktivität auf ihr Risikopotential hin analysiert. Es sind so Schritt für Schritt die Regeln entstanden, die unser Leben vollkommen logisch absichern. So durchdacht, dass von draußen im Grunde kein Dreck ins Haus kommen kann, wenn sich alle an diese Regeln halten. So durchdacht, dass im Idealfall tatsächlich kaum ein Putzmehraufwand entstehen würde. Und draußen? Nun, auch da gibt es Vorsichtsmaßnahmen. Maximale Risikoreduzierung. Da wird nicht einfach irgendwo ein Ausflug gemacht. Ausflugsziele und Wege werden von den Regeln der Risikoreduzierung geprägt. Natürlich darf Niklas nichts, was einfach auf einem Weg liegt, aufheben. Und falls doch: Die Hygienetücher sind ständig griffbereit im Kinderwagen und den Jackentaschen verstaut. Das Abwischen der möglicherweise kontaminierten Flächen und Hände geübte Routine.

      Alles ist geregelt: An welcher Stelle meine Laptoptasche liegen darf. Was mit der Post passiert. Wie der Müll nach draußen gebracht wird. Wo die Schuhe gewechselt, wo sie hingestellt werden, wo und wie das Jackett aufgehängt, ein Koffer gepackt oder das Handy benutzt wird.

      Wo die Schuhe ausgezogen werden. Wie die Schuhe ausgezogen werden. Wie danach die Hände zu waschen sind. Wie der Hausschlüssel abgelegt wird. Und wenn der Hausschlüssel angefasst wurde, muss bis zum darauffolgenden Händewaschen darauf geachtet werden, dass nichts weiter angefasst wird.

      Wie Niklas gesäubert wird – in der Dusche – nachdem er draußen war. Alles ist reglementiert. Ein Gang in den Garten? Nur über die Haustür. Nur über die gesicherte Dreckschleuse des Windfangs. So gibt es eine schier unzählbare Reihe von strengen Vorschriften und Rituale. Diese gestalten nicht nur unser Leben. Sie bestimmen es. So sehr, dass fast nichts mehr vom ursprünglichen fröhlichen, glücklichen Zusammenleben übrig ist.

      Vor der Hochzeit wusste ich nichts von Katrins Krankheit oder den Problemen von ihr. Ich weiß auch heute nicht, ob es damals schon wirklich krankhaft war, oder nur ein gelerntes Verhalten. Ich wusste auch nichts von der Krankheit ihrer Mutter. Ich wusste von einem Hörsturz. Ich wusste, dass Bettina, die Mutter meiner Schulfreundin Katrin, Probleme hatte. Sie hatte auch aufgehört, als Lehrerin zu arbeiten – was bei drei Kindern zur damaligen Zeit sicherlich auch vollkommen nachvollziehbar war. Noch dazu, wo doch ihr Mann Rainer eine gut bezahlte Managementposition in einem Pharmaunternehmen hatte. Dass diese Probleme die Auswirkungen einer Zwangserkrankung waren, das wusste ich nicht. Dass Katrin etwas pingeliger ist, als andere Frauen – das war bei unserem ersten gemeinsamen Urlaub deutlich geworden. Auf Korfu. Dass etwas mit Katrin nicht stimmte, wurde mir klar, als ihre Angst nach der Geburt von Niklas so unbeschreiblich groß wurde. Da ging es in den Medien gerade rund. Rund in Bezug auf die Vogelgrippe.

      Und vor der Geburt von Niklas? Natürlich weiß ich heute, dass ich auf bestimmte Dinge hätte schon reagieren können. Wenn ich von der Krankheit gewusst hätte. Wenn ich die Vorgeschichte gekannt hätte. Wenn ich auch nur den blassesten Schimmer gehabt hätte... Hatte ich aber nicht. Leider.

      Heute kann ich voller Überzeugung sagen: Wer glaubt, dass der eigene Partner, ein guter Freund oder ein anderes Familienmitglied wegen Sorgen und Ängsten sein Leben anpasst, der sollte das ansprechen. Das Wichtigste ist die Unterstützung für den erste Schritt zu einem Psychologen/Therapeuten. Wenn Ängste und Sorgen das Leben einschränken, dann wird dies in den meisten Fällen nicht einfach „weggehen“ oder sich „verwachsen“. Für den Gang zum Psychologen oder Psychotherapeuten braucht es in Deutschland nicht einmal den Besuch bei einem Psychiater. Ja, das ist auf jeden Fall leichter geschrieben, als getan, aber es ist für alle Beteiligten der wichtigste Schritt. Zwar längst kein Befreiungsschlag und es wird auch nicht – leider – von heute auf morgen alles besser, aber es ist ein Anfang.

      Erste Anlaufstelle kann die DGZ sein. Die Deutsche Gesellschaft