Gerhard Gemke

Die Kammer hinter dem Spiegel


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Das Augsburger Tor war wie üblich vom Feierabendverkehr verstopft. Kurz vor der Kreuzung räumte Martina Dall die Auslagen vom Bürgersteig zurück in ihren Laden. Es war fünf vor sechs. Martina weigerte sich, längerer Öffnungszeiten einzuführen, wie es bei den meisten Supermärkten inzwischen üblich war. Noch weigerte sie sich.

      Elfriede starrte in die beiden schreckgeweiteten Augen. Unter dem Schriftzug ELEKTRO-WATT stand Klaus Watt und betete vermutlich für einen pünktlichen Feierabend. Als Elfriede den Laden betrat, verabschiedete er sich gerade von dem Glauben, dass Gebete erhört wurden.

      Gegen Viertel nach Sechs hatte Klaus Watt immerhin verstanden, dass Elfriede unmöglich einen PM2-Näher meinen konnte, sondern allerhöchstwahrscheinlich einen MP3-Player. Klaus Watt litt unter Bluthochdruck und bekam bei Anspannung immer einen hochroten Kopf. Nach der Farbe seiner Wangen zu urteilen war er, als er ein kleines schmales Gerät vor Elfriede auf die Theke legte, schon in einem recht bedenklichen Druckbereich angekommen.

      „Sie meinen vielleicht so etwas.“

      Elfriede beäugte das Teil von allen Seiten. Schließlich – es waren weitere Minuten des ersehnten Feierabends verstrichen – nickte sie. „Ja, so was in der Art. Wissen Sie, das hab ich neulich …“

      Klaus Watt starrte in die untergehende Sonne, die sich in den Fenstern der Häuser auf der anderen Straßenseite spiegelte. Während Elfriede ausführlich darlegte, bei wieviel Blagen sie das schon mal gesehen hatte, morgens, wenn sie zum Markt ging, oder nachmittags, wenn sie dies und das … „Ach wissen Sie, die haben ja alle so was.“

      „Ja“, sagte Klaus Watt mit zusammengebissenen Zähnen. „Heutzutage haben alle Kids so was. Bestimmt auch Ihre Enkel!“

      Tja, leider wieder eine Falle.

      „Junger Mann!“ Elfriede stemmte die Hände in die Hüften. Klaus Watt schwor sich, ab sofort den Laden fünf Minuten früher zu schließen. Zu verriegeln!

      „Junger Mann, ich habe gar keine Kinder. Also auch keine … nun?“ Elfriede sah ihm auffordernd ins Gesicht.

      Klaus Watt glühte. „Auch keine … MP3-Player?“

      „Keine Enkel!“

      „Oh“, machte Klaus Watt hilflos und spürte, wie zwei Schweißtropfen seine Nase entlang liefen. Einer links und einer rechts. „Das tut mir leid.“

      „Wieso?“

      „Äh … das sagt man doch so …“

      „Sie sollten vorsichtiger sein, mit dem, was man so sagt!“

      Klaus Watt wusste, dass man inzwischen mit seiner Birne den Marktplatz hätte beleuchten können.

      „Den nehme ich“, ordnete Elfriede an. „Kann man damit auch Musik hören, wenn diese Knöpfe nicht in den Ohren stecken?“

      „Ja“, schwitzte Klaus. „Drehen Sie halt voll auf. Und gehen Sie nah dran. Dann hören Sie auch …“

      „Schon verstanden“, sagte Elfriede. „Wieviel?“

      Lisa hatte es grade noch pünktlich geschafft. Martina Dall war so dankbar, dass Lisa ihr half. Seit ihr Mann diesen Kletterunfall hatte und den Fuß in Gips, musste sie die Tische allein schleppen. Morgens raus aus dem Laden und vor der Tür aufbauen und abends wieder rein. Und Martina hatte es doch so im Kreuz. Lisa ließ sich heute mit Chips und Schokolade auszahlen. Jo sollte doch gebührend empfangen werden, heute Abend. Und dafür mussten Lisas Wohlfühl-Vorräte noch aufgefüllt werden.

      Erleichtert schloss Frau Dall gegen halb sieben die Ladentür und beobachtete dabei misstrauisch Elfriede Sievers, die gerade vorbei schwankte. Die wollte doch wohl nicht noch … nein. Außerdem war die so schwer damit beschäftigt, sich irgendwas in die Ohren zu stopfen, dass sie sogar zu grüßen vergaß.

      Martina bedankte sich noch ein weiteres Mal überschwänglich, und Lisa versprach, morgen wieder vorbeizukommen. Um kurz vor sechs. Dann verließ sie den Laden durch eine Seitentür und ging heimwärts. An ELEKTRO-WATT vorbei, wo Klaus Watt panisch den Riegel vor die Tür schob, als er ihre neugierigen Blicke sah. Vor der Polizeiwache traf sie Kommissar van der Velde.

      „Guten Abend, Lisa“, sagte er. „Hast du ein paar Minuten Zeit?“

      „Aber nur ein paar Minuten“, antwortete Lisa. Um halb acht wurde Jo von ihrem Vater gebracht.

      Van der Velde nickte. Er kannte Lisa Favretti, genau wie Jan Fesenfeld, Freddie Haustenbeck und Josephine von Knittelstein-Breselberg. Also Jo. Von verschiedenen mehr oder weniger kriminalistischen Begegnungen in den letzten Jahren.

      „Es geht um Freddie.“

      Lisa sah ihn aufmerksam an. Dem Kommissar war es ernst, offensichtlich.

      „Was ist mit ihm?“

      „Was ich dich jetzt frage“, begann van der Velde vorsichtig, „muss unter uns bleiben. Okay?“

      Lisa nickte. Und versuchte, das mulmige Gefühl im Magen nicht zu beachten.

      „Bei dem Einbruch am Samstag in der Schulstraße – du weißt, welchen ich meine?“

      Lisa nickte wieder. Worauf wollte der Kommissar hinaus?

      „Da ist eine Kette abhanden gekommen. Eine Perlenkette, möglicherweise sehr wertvoll.“

      „Aha“, sagte Lisa, die sofort begann, eins und eins zusammenzuzählen. „Und Freddie war dabei.“

      Der Kommissar atmete schwer. „Versteh das nicht falsch. Ich habe keinen Verdacht gegen Freddie.“

      „Sie wollen wissen, ob ich Freddie das zutraue. Einen Diebstahl.“

      „Wir müssen das zumindest ausschließen können“, sagte van der Velde.

      Lisa sah ihn an. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nie im Leben.“

      „Danke“, sagte van der Velde.

      Als Lisa schon die Straße überquert hatte, rief er: „Lisa!“ Das Mädchen drehte sich nochmal um. „Ich bin froh, dass du das sagst.“

      Lisa nickte stumm. Der Weg die Schulstraße entlang bis zur Eisdiele kam ihr heute viel länger vor als sonst.

      Baron Eduard war auf die Minute pünktlich. Exakt um halb Acht lieferte er seine Tochter vor der Eisdiele Favretti ab. Ausführlich verabschiedete er sich von Jo, mitsamt dem ganzen Paket guter Wünsche und Ermahnungen, die Eltern nicht lassen können, wenn ihre Kinder zehn Tage ihrer Aufsicht entzogen sind.

      Jo nickte freundlich, umarmte ihren Vater und wünschte ihm gute Erholung in Österreichs Bergen. Endlich verließ der Knittelsteiner Volvo die Schulstraße. Jo wusste, die Gute-Wünsche-Poesie von Eltern musste einfach mit Geduld ertragen werden, sonst wurden sie im Urlaub unruhig und riefen jeden Tag zweimal an. Ansonsten war Jo ein durchaus vernunftbegabtes Wesen und schließlich schon dreizehn.

      Als die beiden Mädels in Lisas Zimmer saßen und das Thema Eltern abgehakt hatten, machten sie es sich gemütlich. Mit Kerzenschein und Lisas Wohlfühl-Vorrat. Und da Lisa das Gespräch mit Kommissar van der Velde noch im Magen lag, waren sie bald bei Freddie und Jan. Und bei ihrer alten Viererbande, die sich in der letzten Zeit aufzulösen begann. Jedenfalls hatte Lisa den Eindruck. Doch Jo meinte, das wäre ganz normal. In ihrem Alter. Da interessierten sich die meisten Mädchen für ältere Jungs.

      „Echt?“, fragte Lisa und sah amüsiert, dass Jo rot wurde.

      „Nicht was du jetzt denkst“, sagte Jo schnell.

      Eine Stunde später wusste Jo alles über den Einbruch bei Frau Regenbrecht. Zumindest alles, was Lisa bekannt war – außer der Kette. Da hatte Lisa ja Stillschweigen versprochen. Gegen 23 Uhr ging eine SMS an Freddie und eine an Jan raus. Treffen morgen, 15 Uhr, bei Favretti.

      Kette

      Mittwoch, 30. Juni, 15.15 Uhr.