Gerhard Gemke

Die Kammer hinter dem Spiegel


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zitterte Pastor Himmelmeyer so stark, dass Elfriede es durch das Holzgitter sehen konnte. Ich muss jetzt aufhören, dachte sie. Ich bin schon zu weit gegangen.

      „Gestern“, stöhnte Pastor Himmelmeyer, „gestern hab ich eine neue Tür einbauen lassen. Eine Hochsicherheitstür.“

      Weiß ich doch, dachte Elfriede und erhob sich.

      „Aber was will dieser Einbrecher? Was um Himmels willen …“

      „Auf Wiedersehen“, flüsterte Elfriede, als sie den Beichtstuhl verließ. „Haben Sie eigentlich die neue Tür auch abgeschlossen?“, hörte Pastor Himmelmeyer noch.

      Oder glaubte, es zu hören.

      Emma blickte immer noch starr geradeaus auf das Altarkreuz. Elfriede kam ganz dicht an sie heran.

      „Haben Sie gelauscht?“

      „Ich?“ Emma fasste sich erschrocken an den Blusenkragen.

      „Ich rede nicht mit der Mücke in Ihrem Ohr.“

      Unwillkürlich griff sich Emma ans Ohr. „Neinnein“, beeilte sie sich zu sagen, „so was würde ich niemals …“

      „Sie sind jetzt dran!“, unterbrach sie Elfriede. Ihr Blick glitt über die zwei seltsamen Vögel in der Bank. „Passen Sie auf, sonst drängeln die vor.“

      Elfriede schlurfte durch das riesige Kirchenschiff davon.

      Pastor Himmelmeyer war nicht recht bei der Sache. Was wollten die beiden? Der dicke Riese und der Hänfling, der sich neben ihm in den Beichtstuhl quetschte. Ein neues Leben anfangen, soviel hatte Pastor Himmelmeyer verstanden. Sollten sie doch. Und dass sie eine Bank geraubt hatten, war ja nicht gar so schlimm.

      Pastor Himmelmeyer zupfte seine Soutane zurecht. Er musste schnellstens nach Hause. Diese Alte hatte ihm einen Stachel ins Fleisch gebohrt. Je länger er darüber nachdachte, um so sicherer war er, dass er die neue Tür nicht abgeschlossen hatte. Überhaupt, was nützte so eine Stahlplatte ohne ein stabiles Schloss. Ja, der Boss dieser Firma, Julius Porter, hatte ihm sein Leid geklagt. Dass man heutzutage keine zuverlässigen Leute mehr findet. Deshalb könne das neue Spezialschloss erst nächsten Montag oder möglicherweise erst Dienstag und so weiter.

      „Ausgeraubt“, korrigierte der Kleine.

      Pastor Himmelmeyer sah ihm irritiert auf die Glatze. „Woraus denn?“

      „Jetzt hören Sie mal zu“, knurrte der Koloss.

      Aber Pastor Himmelmeyer wollte nicht mehr zuhören. „Meine Herren“, sagte er kurzatmig, „ich schreibe Ihnen hier …“, schon hatte er einen Zettel und einen Stift in der Hand, „… die Telefonnummer einer Firma auf. Dort werden Leute gesucht. Sie sind doch zuverlässig?“

      Der Pinocchio wackelte mit dem dicken Kopf.

      „Ja, natürlich!“, schimpfte der Dicke.

      „Hier.“ Pastor Himmelmeyer schob den Zettel durch das Holzgitter. „Und jetzt … äh … starten Sie in Ihr neues Leben. Viel Glück.“

      Sekunden später sahen Ede und Carlo den nervösen Priester aus der Kirche eilen. Ede strich den Zettel glatt.

      „SICHERistSICHER“, las er. „Türen aller Art. Inhaber Julius Porter.“

      „Sicher ist sicher“, wiederholte Carlo und lauschte dem Echo seiner Stimme bis hinauf ins barocke Deckengewölbe. Bis zu den unzähligen Pfeifen der Breselner Domorgel. Den kleinen silbernen und den viele Meter hohen Holzschächten. Für Orgeltöne, so tief, dass man sie kaum hören konnte, nur als Flattern im Magen spürte.

      Basspfeife

      Montag, 28. Juni,

      Breselner Volksblatt.

      Unheimliche Einbruchserie fortgesetzt

      In der Nacht zum Sonntag drangen Unbekannte in die Wohnung von Frau R. in der Schulstraße. Frau R. hatte verdächtige Geräusche gehört und sich daraufhin im Schlafzimmer eingeschlossen. Der oder die Einbrecher hinterließen wie bei zwei vorherigen Straftaten (im November und März, wir berichteten) im Wohnzimmer eine Pappfigur mit einem aufgeklebten Fotogesicht. Kommissar van der Velde, der am Sonntagmorgen die kriminaltechnische Untersuchung leitete, fehlt jeglicher Hinweis auf die Täter und das Motiv. Sachdienliche Hinweise zur Identität der abgebildeten Personen bitte an das Kommissariat, Breselner Landstraße 110.

      Unter dem Artikel waren drei Schwarzweiß-Fotos abgedruckt. Sie zeigten eine Frau mit altmodischer Flechtfrisur und zwei junge Männer mit streng nach hinten gekämmten Haaren, wie es in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts üblich gewesen war.

      Hannes Bastian Bächle trat auf das ganz linke Pedal, das für den tiefsten Ton der Breselner Domorgel zuständig war. Die riesige Basspfeife bullerte. Einige Sekunden lauschte Hannes Bastian Bächle den körperlich spürbaren Schwingungen. Dann griff er in die Manuale und baute in einem gewaltigen Crescendo einen himmelhochschreienden Klang auf. Der Kirchenchor von Sankt Urban fügte einen kreischenden Akkord hinzu. Fünffaches Fortissimo. Musik des 21. Jahrhunderts. Hannes Bastian Bächle war stolz auf seine Komposition.

      Doch was war das? Gut, er hatte den Chormitgliedern So laut ihr könnt eingeschärft und ihnen zehn verschiedene Wörter aufgeschrieben, die sie in beliebiger Reihenfolge auf beliebigen Tonstufen singen sollten. Oder rufen. Aber Aufhören! und Gnade! gehörten nicht dazu. Definitiv. Und wer – um aller verbogenen Pedale willen – waren die beiden zotteligen Gestalten, die hinter der längsten Pfeife hervor krochen, sich die Ohren mit den Handballen zupressten, und mitten durch den Sopran stürzten?

      Die Damen mit den hohen Stimmen schrien jetzt ebenfalls einige nicht abgesprochene Ausdrücke und schubsten den Dicken und den kurzen Spiddel die Treppe der Orgelempore hinunter. Sekunden später krachte die Eingangstür von Sankt Urban. Der Knall brach sich an den Säulen und Deckenstreben, verzog sich in die dunklen Seitenkapellen, und hinterließ eine atemlose Stille.

      „Genau so“, sagte Hannes Bastian Bächle, „genauso leise muss es nach diesem Anfang werden. Und dann“, er zeigte auf Frau Reisich.

      Ludmilla Reisich füllte die Lungen. Bald schwebte ihr glockenreiner Sopran durch die bunten Sonnenstrahlen, die wie Bänder von den Glasfenstern bis hinab zu den Grabplatten im Kirchenboden reichten.

      „Was war denn das?“, bibberte Carlo.

      „Musik“, knurrte Ede. „Davon verstehst du nichts.“

      „Aber du!“, maulte Carlo, als sie am Kunibald-Brunnen vorbei stapften.

      „Du wolltest ja unbedingt hinter dem Ding übernachten.“

      „Ich konnte doch nicht ahnen …“

      „Hör auf zu flennen. Da kommt der Bus.“

      Der Überlandbus brachte sie für die letzten Cent, die sie zusammenkratzen konnten, nach Augsburg. Jetzt hatten sie in der Stadt ihrer schlimmsten Sünde gebeichtet und hatten gleich heute Morgen ihre Strafe erhalten. Noch bis zum Abend klangen ihnen die Ohren. Was stand jetzt noch einem neuen Leben im Wege?

      Gegen Mittag fanden sie die Gebäude der Firma für Türen und Schließanlagen SICHERistSICHER, und zwei Stunden später klopfte ihnen Julius Porter auf die Schultern. Dem Großen kräftiger und Carlo ganz vorsichtig. Ede besaß einen gültigen Führerschein, und der Kleine würde den Ausbau und Einbau von Schlössern aller Art schon noch lernen. Hoffte Herr Porter.

      Ungefähr zur selben Zeit saß Kommissar Franz van der Velde in seinem Büro. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag die Montags-Ausgabe des Breselner Volksblatts. Zum dritten Mal schon las van der Velde den Artikel. Die Journalisten hatten tatsächlich die verschwundene Kette nicht erwähnt. Und den Jungen auch nicht. Wenigstens etwas. Van der Velde hatte sehr dringend darum gebeten. Einerseits, weil er nicht wusste, wieviel er auf Frau Regenbrechts Aussage geben konnte, aus verständlichen