Gerhard Gemke

Die Kammer hinter dem Spiegel


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in dem schon Traudls Großmutter gestorben war. Und in dem Traudl vor siebenundachtzig Jahren das Licht dieser ungerechten Welt erblickte. Lange bevor sie Wilhelm heiratete, lange bevor sie mit ihm und dem Bett in dieses Haus einzog, in dieses Gespensterhaus. Traudl wusste es einfach: Eines Tages würden SIE zurückkommen. SIE, die früheren Bewohner. Die das Haus verlassen mussten, damals.

      Wir haben es rechtmäßig erworben!, hatte Wilhelm gesagt, und Traudl hatte ihm geglaubt, damals.

      Und jetzt erwartete Traudl SIE. Beinahe täglich. SIE würden an die Tür klopfen und ihren Besitz zurückverlangen: das Haus Schulstraße Nummer 23 in Bresel.

      Traudl Regenbrecht saß an ihrem Wohnzimmertisch. Vom Marktplatz hörte sie die Glocken von Sankt Urban. Zwölf Schläge, Mitternacht. Traudl starrte in den dunklen Flur und auf die neue Wohnungstür, die sie hatte einbauen lassen. SIE sollten es nicht zu leicht haben. Das hatte Elfriede auch gesagt. Elfriede Sievers, die sie manchmal besuchen kam. Die einzige, abgesehen von den unvermeidlichen Mietern. Elfriede, die ihr auch zu der neuen Tür geraten hatte. Mit Sicherheitsschloss. Trotzdem traute Traudl ihr nicht. Ehrlich gesagt weder der Tür, noch Elfriede.

      Und auch deshalb hatte sie sich auf die Kreuzfahrt gefreut! Wegen all dem. Drei Wochen raus hier, von Morgen an. Und dann kam vor zwei Stunden dieser Anruf. Die Reederei war am Apparat. Das Schiff sei aus noch ungeklärter Ursache gesunken, im Hafen von Ancona. Frau Regenbrecht hätte die Möglichkeit, für einen geringen Aufpreis einen Platz auf dem nächsten Schiff zu buchen.

      Traudl hatte enttäuscht den Hörer auf die altertümliche Telefongabel geknallt. Das müsse sie sich noch überlegen, hatte sie gekeift. In ihrem Alter könne das nächste Schiff schon eins zu spät sein. Rums!

      Seit dem saß Traudl am Wohnzimmertisch und starrte durch die Flurschatten auf die neue Wohnungstür. Argwöhnisch beobachtete sie die Klinke. Hatte sie von dort ein Klicken gehört? Hatte sich die Klinke bewegt? Kamen SIE schon heute? Heute Nacht?

      Hätte Traudl das Schiff sowieso nicht mehr erreicht?

      Baron Eduard rüttelte an der rostigen Klinke. Er drückte und zerrte an dem schmiedeeisernen Griff, warf sich mit der rechten Schulter gegen die Eichentür und biss die Zähne zusammen. Beim dritten Versuch endlich sprang das Schloss auf. Quietschend öffnete sich ein schmaler Durchgang in dem riesigen Knittelsteiner Burgtor. Baron Eduard kletterte hinaus auf die Zugbrücke, die in schwindelerregender Höhe über dem Burggraben hing. Trotz der nächtlichen Stunde floss ihm der Schweiß in den Hemdkragen. Aber es half ja nichts. Die schweren Flügel unter dem Knittelsteiner Torbogen ließen sich nur noch von außen aufschieben. Morgen früh würde er dieser Türenfirma Dampf machen, schwor sich Eduard. Seit Wochen vertrösteten die ihn schon. Viel zu tun, hieß es wieder und wieder. Was man so kennt.

      Unten im Tal schlug die Turmuhr von Sankt Urban Mitternacht. Schüchtern bimmelten die Glöckchen der Knittelsteiner Burgkapelle hinterher. Auf dem Burghof tuckerte im silbernen Mondlicht der Volvomotor. Freddie, Jan und Strothkötter junior quetschten sich auf die Rückbank, vom Beifahrersitz versuchte der langhaarige Ulli die Hupe zu erreichen. Klassenkameraden und sonstige Bekannte von Eduards Tochter Jo, die das Ende des siebten Schuljahres und Lisas dreizehnten Geburtstag gefeiert hatten. Obwohl die Ferien erst in einer Woche begannen, und Lisa Favrettis Jahrestag bereits einen Monat zurücklag, wenn Baron Eduard seine Tochter richtig verstanden hatte. Dreizehnjährige drücken sich manchmal etwas merkwürdig aus. Jedenfalls für gestresste Väter.

      Doch jetzt war wieder Frieden eingekehrt und die Mauern der Burg standen nicht schräger als am Tag zuvor. Trotz Schnürs Enkel, oder wie auch immer diese Musikgruppe hieß. Der langhaarige Bengel gehörte zum Beispiel dazu. Er hatte eine elektrische Gitarre bearbeitet, und der andere (der irgendwas mit Stroh hieß) hatte in ein Saxophon getrötet. Freddie spielte dazu ein Klavier mit Strom und ein Mädchen namens Jenny hatte getrommelt. Der Bassist hieß Robin, hatte ein Gesicht blasser als der Mond über der Burgturmspitze und trug selbst im Auto einen schwarzen, breitkrempigen Hut. Naja.

      Eduard wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Die Tageshitze hatte kaum nachgelassen. Erst allmählich machte sich ein kühler Wind von Westen wohltuend bemerkbar. Natürlich hatte nicht einer von Jos Bekannten daran gedacht, dass sich um diese Zeit kein Bus mehr die Serpentinen der Breselbergstraße hinaufquälte, um vor der Knittelsteiner Zugbrücke auf Fahrgäste zu warten. Mit was für einer Selbstverständlichkeit die Jugend von heute seine Fahrdienste in Anspruch nahm. Und im Auto sitzen blieb, während er das Tor aufwuchtete!

      Baron Eduard unterdrückte sein übliches Ächzen, als er seine Leibesfülle hinter das Lenkrad platzierte. Elvira sagte immer, er sei wie ein Baum, der Jahresringe ansetze. Nicht sehr schmeichelhaft, fand er.

      Genauso wenig wie das besorgte „Geht's denn?“ dieses langhaarigen Schnösels neben ihm. Baron Eduard brummte irgendwas, das wie Anschnallen klang, was der Schnösel auch augenblicklich befolgte. Immerhin.

      Sie rumpelten über die Zugbrücke. Mit schlafwandlerischer Sicherheit kurvte Baron Eduard um die Schlaglöcher der Breselbergstraße. Unterwegs vernahm er verwundert, dass die vier Bengel ausgiebig Emmas Bewirtung würdigten. Auch wenn sie die Schnittchen und Frikadellen als cooles Catering bezeichneten, und die leicht angekokelten Würstchen mit dieser traurigen Nachricht entschuldigten. Die Knittelsteiner Köchin hatte nämlich während des Abends erfahren, dass ihre Mittelmeerkreuzfahrt ins Wasser gefallen war. Und zwar wörtlich. Das Schiff, mit dem sie zu Wochenbeginn von Ancona aus starten wollte, war gesunken. Was waren dagegen schon ein paar verkohlte Würstchen?

      Die Breselbergstraße mündete in die Ulmer Allee in Höhe der Schrebergärten. Im Vereinshaus der Rosenzüchter brannte noch Licht, und beim Kaufhaus Rausch war es Eduard, als winkten ihm die Schaufensterpuppen zu, so lebensecht hatte sie Fridolin Rausch dekoriert. Oder so übermüdet war Eduards Fantasie.

      Kurz hinter dem Ulmer Tor stiegen Strothkötter und der langhaarige Ulli aus. Nicht ohne die nächste Geburtstagsparty anzukündigen.

      „Donnerstag“, sagte Ulli. „Am achten.“

      Baron Eduard nahm an, dass der 8. Juli gemeint war. Hauptsache nicht wieder in der Burg.

      „Nee, bei mir“, beruhigte ihn der haarige Gitarrenspieler.

      Der Volvo folgte dem Breselbergring um die halbe Innenstadt und bog am Augsburger Tor in die Breselner Landstraße ein. An der Schulstraße bat Freddie den Baron anzuhalten. Hier könne er Jan und ihn rauslassen und am günstigsten wenden. Außerdem bedankte sich Freddie so formvollendet für den Chauffeurdienst, dass Baron Eduard nachher Stein und Bein schwor, es bestehe doch noch Hoffnung bei der Jugend von heute.

      „Mensch Freddie“, lästerte Jan, als sich die Volvorücklichter Richtung Augsburger Tor entfernten, „das klang ja wie 'ne Empfehlung als Schwiegersohn.“

      Jan war gerade schnell genug, um Freddies Boxhieben zu entkommen. Er rannte lachend die Breselberger Landstraße stadtauswärts. Die Nummer 153 war nicht weit.

      „Blödmann!“, und Schlimmeres knurrte Freddie, als er in die Schulstraße einbog. Von hier konnte er bereits die Eingangsstufen des Hauses sehen, in dem Familie Haustenbeck im dritten Stock zur Miete wohnte. Und den Schatten, der sich aus dem Türrahmen löste!

      Freddie blieb augenblicklich stehen. Das Mondlicht reichte, um eine gebückte Gestalt zu erkennen, die offensichtlich Mühe hatte, die Stufen hinunter zu klettern. Als sie ohne Unfall die Gehwegplatten erreichte, meinte Freddie ein Kichern zu hören. Gleichzeitig schlang die Gestalt einen vermutlich hellbraunen Kamelhaarmantel um die klapprigen Glieder. Und das tennisballgroße Ding an ihrem Hinterkopf war so ein Haarknoten, den alte Leute Dutt nennen.

      Das Gespenst hörte auf den Namen Elfriede Sievers. Eindeutig.

      Freddie entspannte sich und schlenderte der tüdeligen Schachtel entgegen. Anscheinend hatte sie sich auf den Stufen eine Verschnaufpause gegönnt. Alte Leute können oft nicht schlafen und geistern durch die Nacht. Besonders bei Vollmond.

      „Guten Abend, Oma Sievers“, sagte Freddie.

      „Hachja“, kicherte Elfriede Sievers und wackelte