Gerhard Gemke

Die Kammer hinter dem Spiegel


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er das kleine Ding zertreten, das dort im Schatten einer Stufe lag. Freddie hob es auf. Es hatte in etwa die Größe und die Form eines MP3-Players. Allerdings ohne Display. Auch eine Kopfhörerbuchse konnte Freddie nirgends entdecken. Dafür ein paar Knöpfe. Freddie drückte auf den größten.

      Er konnte später nicht mehr sagen, ob er das feine Klicken tatsächlich gehört, oder sich nur eingebildet hatte. Gleichzeitig sah er, dass Oma Sievers unter einer Laterne stehen geblieben war. Mit beiden Händen kramte sie in ihren Manteltaschen und blickte sich unruhig um. Freddie war mit wenigen Schritten bei ihr.

      „Suchen Sie das hier?“ Er hielt ihr das längliche Ding hin.

      Hastig griff Elfriede zu. Etwas zu hastig, fand Freddie.

      „Ja, ja“, murmelte die Alte. „Da ist er ja, mein … ähm …“

      Freddie hatte den Eindruck, als wäre Elfriede in Gedanken ganz weit weg. „MP3-Player“, half er der mondsüchtigen Oma.

      „Ja, ja“, kicherte es wieder unter dem Dutt. Der MP3-Player, oder was es war, verschwand in einer Tasche des Kamelhaarmantels, ohne den man sich in ganz Bresel die Oma gar nicht vorstellen konnte.

      „Hachja.“ Drehte sich um und wackelte um die Straßenecke.

      Freddie blieb einen Moment still stehen. Er spürte noch die Kühle des Metalls an den Fingern. So war er sich sicher, dass er keinem Spuk begegnet war. Seit ihr Oskar vor zwei Jahren verstarb, wurde Elfriede Sievers immer wunderlicher. Kein Wunder, eigentlich.

      Jetzt aber zügig. Freddie hatte versprechen müssen, um Mitternacht im Bett zu liegen. Mittlerweile war es fast halb eins.

      Die Haustür war wie üblich unverschlossen. Freddie betrat das Treppenhaus. Direkt gegenüber befand sich die Wohnung der Vermieterin. Frau Traudl Regenbrecht. Vor ein paar Tagen erst hatte sie eine neue Tür einbauen lassen. Dick wie für einen Banktresor und potthässlich, fand Freddie. Aber einbruchsicher, wie Frau Regenbrecht jedem im Haus mit erhobenem Zeigefinger erzählte, auf dass sich auch wirklich jeder angesprochen fühlte.

      Und mit einem Löwenkopf als Türgriff. Das würde SIE wahlweise abschrecken oder besänftigen, je nach dem, ob Traudl Regenbrecht gerade ihre mutigen oder ängstlichen fünf Minuten hatte. Im Haus war es gut bekannt, dass sich Frau Regenbrecht vor IHNEN fürchtete. Wer auch immer das sein mochte. Fünfundachtzig war sie geworden, wenn man ihr glauben konnte. Letzte Woche. Wackelig auf den Beinen und – keine Frage – auch im Hirn.

      Freddie blieb stehen. Was für ein geschmackloser Griff. Freddie strich mit dem Zeigefinger über das Löwenmaul. Vorsichtig umfasste er ihn mit der Hand. Er ließ sich spielend leicht drehen. Die Tür öffnete sich fast von selbst.

      Kaum war der zwölfte Glockenschlag von Sankt Urban verklungen, hatte Traudl Regenbrecht dieses feine Klicken gehört. Ächzend hatte sie sich um den Wohnzimmertisch geschoben. Die neue Tür war abgeschlossen. Ganz sicher. Doppelt! So klar war sie schon noch im Kopf. Da konnte zweifeln, wer wollte.

      Aber da! Waren das nicht Schritte? Draußen im Treppenhaus! Nein, keine Schritte, wie Menschen sie machten. Mehr ein Schlurfen, ein Ziehen. Traudl schlug das Herz bis zum Hals. Langsam bewegte sie sich rückwärts. Ins Schlafzimmer.

      Es war also so weit!

      Traudl schloss die Schlafzimmertür und drehte auch hier den Schlüssel zweimal herum. Dann kroch sie, vollständig bekleidet wie sie war, ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Drunter war es heiß und stickig. In diesen Sommernächten kühlte es erst in den Morgenstunden ab. Traudl lüftete die Decke, bis sie durch den Schlitz die Zimmertür sah. Und den Lichtstreifen in Fußbodenhöhe!

      Jemand befand sich im Wohnzimmer. Deutlich hörte Traudl einen Stuhl rücken. Und – Traudl kroch das Grauen den Rücken hinauf – SIE sangen! Leise, aber in der Stille der Nacht klar und deutlich zu vernehmen. Mit zittriger Gespensterstimme.

      Vor der Kaserne, vor dem großen Tor, stand eine Laterne

      Das Lied, das die Soldaten immer gesungen hatten. Damals. 1943. Als ihr Wilhelm mit ihr in dieses Haus zog …

      Traudl biss in die Bettdecke, um nicht zu schreien. Gleich! Gleich kamen SIE auch zu ihr. Da half auch keine Bettdecke.

      Aber SIE kamen nicht. SIE gingen wieder. Löschten das Licht. Zogen die Tür zu. Und wieder dieses Klicken, wenn Traudl sich das nicht einbildete. Traudl war nass geschwitzt. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Was, wenn sie aufstand und SIE kamen zurück! Traudl lauschte dem Ticken der Wanduhr.

      Zehn Minuten.

      War da schon wieder ein Klicken gewesen?

      Zwanzig Minuten.

      Nein. Alles still.

      Allmählich entspannten sich ihre Glieder. Sie würde das Bett neu beziehen müssen, es war klatschnass. Vorsichtig hob sie die Bettdecke. Ein Blick zur Wanduhr – kurz vor halb eins.

      0 Uhr 28.

      Freddie zog die Tür etwas weiter auf. Wie unvorsichtig von Frau Regenbrecht. Jetzt hatte sie schon eine neue Tür, und dann war sie nicht mal abgeschlossen. Freddie warf einen Blick in den Flur dahinter. Bis ins Wohnzimmer konnte er sehen. Fast hätte er geschrien.

      Regungslos saß sie da. Ohne Licht. Ein dunkler Schatten gegen das fahle Mondlicht. Jeden Augenblick erwartete Freddie das wohlbekannte Zetern. Aber sie rührte sich nicht. Saß einfach nur da und starrte ihn an. Freddie nahm seinen ganzen Mut zusammen.

      „Frau Regenbrecht? Ihre Tür war …“

      Keine Reaktion.

      Etwas lauter: „Frau Regenbrecht! Ihre Tür …“

      Der Schatten bewegte sich keinen Millimeter. Wie Eis durchfuhr Freddie der Gedanke: Vielleicht ist sie ja … um Himmels willen! Freddie tastete nach einem Lichtschalter. Er fand keinen. Mit drei Schritten war der Flur durchquert. Ah, hier. Das Licht blendete ihn für Sekunden. Dann verließ Freddies Kehle eine Art Gurgeln. Hinter dem Wohnzimmertisch saß nicht Frau Regenbrecht. Da saß – eine Pappfigur! Eine Pappfigur mit einem Foto als Gesicht. Und quer über der Brust ein Name.

      Löwenstein

      In diesem Augenblick bekam Freddie einen Schlag auf den Hinterkopf. Nicht sehr stark, aber für eine Beule würde es reichen. Freddie fuhr herum. Frau Regenbrecht stand da, leibhaftig, mit einem Wanderstock in der Hand, und holte erneut aus. Freddie duckte sich, der Schlag sauste über seinen Kopf hinweg. Mit wirren verschwitzten Haaren und weit aufgerissenen Augen starrte die Alte an ihm vorbei.

      „Verschwindet!“, schrie sie. Meinte sie tatsächlich die Pappfigur? „Verschwindet!“

      Freddie reagierte blitzschnell, als sie zusammensackte. Er konnte die schwere bewusstlose Frau nicht halten, aber immerhin verhindern, dass ihr Kopf auf den Boden schlug. Jetzt erst bekam Freddie Panik. Frau Regenbrechts Augen waren so verdreht. Und Freddie wurde das Gefühl nicht los, dass die Pappfigur alles scharf beobachtete.

      Freddie angelte ein Kissen von einem Stuhl und legte Frau Regenbrechts Kopf darauf. Und rannte. Nahm drei Stufen auf einmal bis in den dritten Stock und schellte Sturm.

      Kommissar van der Velde gähnte und rieb sich mit dem rechten Handrücken die Augen. Die linke Hand umfasste das Lenkrad. Als er die schlafverklebten Augen wieder öffnete, stieg er mit aller Kraft auf die Bremse. Die Reifen des Polizeiautos quietschten, ein Pfleger sprang zur Seite. Wenige Zentimeter hinter dem Krankenwagen kam van der Velde zum Stehen.

      Hör auf zu meckern, dachte der Kommissar und würdigte den Pfleger keines weiteren Blickes. Wehe, wenn es hier nichts Wichtiges gab, für das man ihn aus dem Bett geholt hatte! Mitten in der Nacht. Van der Velde dachte an Hinrich, seinen Assistenten. Hinrich schnarchte vermutlich glücklich in seine Kissen. Van der Velde nahm sich vor, dem Rettungsdienst eine andere Telefonnummer zuzustecken. Die von einem gewissen schnarchenden Assistenten …

      Als er die Wohnung von Frau Regenbrecht betrat, schleppten gerade zwei Sanitäter die Frau auf einer Trage nach draußen.