Gerhard Gemke

Die Kammer hinter dem Spiegel


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am Tatort gewesen war. Deshalb hatte er Freddie Haustenbeck für 16 Uhr ins Kommissariat bestellt.

      Hinrich kam herein. Ohne Anzuklopfen. Van der Velde betrachtete ihn prüfend. Waren die struwweligen blonden Strähnen über Hinrichs Stirn ein Zeichen von Selbstbewusstsein? Oder von Aufmüpfigkeit. Hinrich schien den Blick gar nicht zu bemerken. Er kam ohne Umschweife zur Sache.

      „Die Pappe, Herr Kommissar.“

      Ein dunkelbrauner altersfleckiger Fetzen Wellpappe mit einem LKW drauf, dessen Motorhaube breit grinste, landete auf dem Breselner Volksblatt.

      „Stammt von Umzugskartons einer Augsburger Transportfirma. Die Firma gibt es seit dreißig Jahren nicht mehr.“

      „Aha“, sagte der Kommissar. „Würdest du bitte die Tür schließen?“

      Hinrich schaute sich irritiert um. Während er mit dem Fuß die Tür zudrückte, fuhr er fort: „Der Inhaber dieser Firma ist bereits über neunzig. Er glaubt aber, sich erinnern zu können, dass diese Kisten mit dem lustigen Auto drauf bis etwa 1960 hergestellt wurden.“

      „Lustig“, brummte van der Velde.

      „Jedenfalls lässt sich nicht mehr nachvollziehen, bei wem solche Kisten gelandet sind. Einen Kaffee, Herr Kommissar?“

      Van der Velde sah Hinrich in die Augen. „Schwarz.“ Er suchte irgendetwas in seiner Hosentasche. „Und ich möchte, dass du beim nächsten Mal anklopfst.“

      Jetzt war es Hinrich, der den Kommissar prüfend ansah. „In Ordnung, Herr Kommissar“, sagte er steif. Zumindest ein Dankeschön hätte er erwartet. Hinrich öffnete die Bürotür.

      „Noch was.“ Dem Chef war irgendwas über die Leber gelaufen, das war nicht zu überhören. „Vergiss nicht die Zellentür.“

      „Nein“, sagte Hinrich.

      „Und Hinrich.“

      Was kam denn jetzt noch?

      „Danke.“

      Als die Tür zu war, hatte van der Velde das Kaugummi gefunden und zog es aus der Hosentasche. Vielleicht half es ja gegen das Magendrücken, das ihm seit gestern wieder zu schaffen machte. Der Kommissar betrachtete die Liste neben dem Volksblatt und den Papprest, während er den Kaugummistreifen entblätterte. Wenn sie doch nur den winzigsten Hinweis auf den Täter hätten. Einen greifbaren Punkt, an dem die Ermittlungen ansetzen konnten. Das Auto auf der Pappe grinste ihn an. Wütend drehte van der Velde den Fetzen um. Umzug-Transp stand auf der Rückseite.

      Van der Velde schob müde das hosenwarme Kaugummi in den Mundwinkel und rollte aus dem Papier eine Kugel. Ein Fahndungserfolg wäre ja mal was. Nach all den Jahren, in denn er sich mit Verkehrssündern und Nachbarschaftsstreitereien hatte herumschlagen müssen. Und einem bis heute unaufgeklärten Banküberfall. Vor zwei Jahren. Wahrlich kein Ruhmesblatt. Hauptsache Hinrich sorgte dafür, dass die Tür der einzigen Breselner Gefängniszelle endlich repariert wurde. Unten im Keller. Da würde er dann sitzen, der seltsame Einbrecher, umgeben von seinen Pappfiguren. Und erzählen. Warum! Warum er um alles in der Welt so etwas tat.

      Van der Velde starrte wieder auf die Liste. Dort stand:

      Montag, 9. 11.

      Einbruch bei Eysbein

      Alte Goldschmiede

      Spuren: keine

      Fenster und Türen: unbeschädigt

      Vermisst: nichts

      Pappfigur-Aufschrift: Kraans

      Foto: Frau Kraans?

      Freitag, 5. 3.

      Einbruch bei Fux

      Breselbergring 55

      Spuren: keine

      Fenster und Türen: unbeschädigt

      Vermisst: nichts

      Pappfigur-Aufschrift: Bublanski

      Foto: Gert (Gerrit?) Bublanski?

      Samstag, 26. 6.

      Einbruch bei Regenbrecht

      Schulstraße 23

      Spuren: keine

      Fenster und Türen: unbeschädigt – Tür offen

      Vermisst: Perlenkette

      Pappfigur-Aufschrift: Löwenstein

      Foto: Löwenstein (laut T. Regenbrecht)

      Das jüngste Foto zeigte höchstwahrscheinlich einen gewissen Herrn Löwenstein, wie Hinrich heute Morgen bei einem Besuch im Vincenzkrankenhaus von einer mühsam atmenden Frau Regenbrecht erfahren hatte. Es handele sich um den früheren Besitzer, der das Haus in der Schulstraße 23 vor etwa siebzig Jahren an sie und ihren Mann verkauft habe und nun zurückgekommen sei, um … an dieser Stelle hatte der zuständige Arzt die Befragung abgebrochen und Frau Regenbrecht ein Beruhigungsmittel verabreicht. Für die zwei anderen Fotos hatte sich noch niemand gemeldet, der sie eindeutig identifizieren konnte. Die einzigen Hinweise waren die Schriften auf den Pappfiguren und ein Anruf Ende März von einer jungen Frau, die eventuell ihren Großonkel Gert oder Gerrit Bublanski erkannt haben wollte.

      Franz van der Velde starrte auf die Fotos, während er die Papierkugel zwischen Mittelfingernagel und Daumen klemmte „Kraans, Bublanski, Löwenstein.“ Wo blieb eigentlich Hinrich mit dem Kaffee?

      Zing! Die Papierkugel traf die ungeputzte Glasscheibe der Bürotür. Beinahe gleichzeitig öffnete sich die Tür. Unverhohlenes Misstrauen sah van der Velde in Hinrichs Augen. Der Kriminalassistent stellte eine Tasse mit tiefschwarzem, dampfendem Kaffee auf das Blatt mit der Liste.

      „Bitte.“

      Bevor der Kommissar den braunen Ring, den der Pott auf dem Papier hinterließ, beanstanden konnte, war Hinrich wieder draußen. Van der Velde atmete tief durch. Irgendwie musste er sein Magengrummeln heute noch in den Griff kriegen. Er sah auf die Uhr. Wenigstens ansatzweise musste er das, bevor Freddie Haustenbeck zum Verhör kam. In etwa einer Stunde.

      Selbst das Kaugummi schmeckte fade.

      Blume

      FERIENJOB stand in fetten roten Buchstaben auf dem Plakat. Aushilfen gesucht ab Montag, 5. 7., Brötchen austragen, Werbung verteilen, Partys beliefern, gute Bezahlung, ideal für Schüler.

      Frau Blume riss einen weiteren Klebestreifen von der Rolle und pappte ihn über eine Plakatecke. Jetzt war der Aufruf im Schaufenster der Bäckerei Blume weithin zu sehen. Und zeigte auch gleich Wirkung. Die Zeigefinger zweier Breselner Bengel hinterließen deutliche Fettflecken auf der Scheibe. Frau Änne Blume schluckte ihren Ärger herunter. Bäckereischaufenster waren nun mal die mit den meisten Fingerabdrücken.

      „Gute Bezahlung hört sich brauchbar an“, meinte Freddie.

      „Partys auch.“ Jan zog seinen Finger über sie Scheibe. „Aber Brötchen austragen klingt verdammt früh.“

      „Egal“, brummte Freddie. „Ich brauche das Geld.“

      „Ich weiß nicht“, sagte Jan während sie zum Kunibald-Brunnen schlenderten. „Ich will doch nicht die ganzen Ferien um sechs aufstehen.“

      „So früh?“ Freddie war ehrlich erstaunt.

      „Was denkst du denn. Um sieben wollen die Leute frühstücken.“

      Ritter Kunibald reckte seine Lanze in den wolkenlosen Himmel. Der erste wirklich heiße Tag in diesem Sommer. Die berühmte goldene Schlange wand sich um den Schaft und streckte angriffslustig die gespaltene Zunge in die Juniluft.

      „Eine Woche“, schlug Freddie vor. „Höchstens zwei. Das hält man doch aus.“

      Jan verzog die Mundwinkel. „Ich überleg's mir noch bis morgen.“

      Sie hatten sich auf den