Gerhard Gemke

Die Kammer hinter dem Spiegel


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Wohnzimmertisch. Wie ein böses Omen, eine dunkle Anklage.

      Hinrich zog die Tür zu. Diese hässliche Sicherheitstür, von der Frau Regenbrecht steif und fest behauptete, sie habe sie abgeschlossen. Selbstverständlich! Zweimal! Sein Blick streifte den Türgriff. Einen Löwenkopf. Der sollte IHNEN Angst einjagen, hatte Frau Regenbrecht gewispert. IHNEN?, hatte Hinrich gefragt. Und sie hatte nur stumm genickt.

      Hinrich verließ das Haus.

      Löwenstein.

      Er ging die Schulstraße entlang. Bis zu Favretti, der besten Eisdiele weit und breit, waren es nur ein paar Schritte. Dort hatte er sein Fahrrad geparkt. Auf halbem Weg kamen ihm zwei merkwürdige Gestalten entgegen. Der eine mindestens einsneunzig und ein Bär von einem Kerl. Er nahm fast die komplette Bürgersteigbreite ein. Daneben versuchte ein kleines schmächtiges Männlein mit ihm Schritt zu halten.

      „So warte doch“, hörte Hinrich ihn flehen, aber der Bär kümmerte sich nicht um das mückenbeindürre Anhängsel. Wäre es umgekehrt gewesen, also der Große dünn und der Kleine dick und rund, hätte Hinrich möglicherweise genauer hingesehen. Hätte sie vielleicht sogar erkannt. So aber wich der Kriminalassistent in den Rinnstein aus und ließ das abenteuerliche Gespann vorbeitrudeln.

      Als Hinrich sein Fahrrad aufschloss, war er in Gedanken längst wieder bei dem Job, den ihm der Kommissar aufgebrummt hatte.

      Löwenstein.

      „Nicht so schnell“, bettelte Carlo und versuchte Ede am Hemdzipfel festzuhalten.

      „Halt den Mund“, knurrte der Bär und wischte ärgerlich Carlos Hand beiseite. „Wir sind gleich da.“

      Dem kleinen Dünnen mit dem viel zu großen Kopf, der gefährlich kippelig auf dem dürren Hals balancierte, lief der Schweiß in Strömen herab.

      „Hätten wir nicht woanders anfangen können?“, maulte er.

      „Zum Beispiel?“ Der Große drehte sich nicht mal nach ihm um.

      „In … in …“

      „Ja?“

      „Egal.“ Der Kleine stolperte, fing sich wieder. „In Paderborn.“

      „Auch nicht besser“, raunzte der Große. „Jetzt reiß dich mal zusammen. Da vorne ist es schon.“

      Sie stiefelten quer über den Marktplatz auf Sankt Urban zu. Ritter Kunibald auf seinem eisernen Zossen blickte streng vom Brunnen auf Carlo herab, dass ihm heiß und kalt wurde. Gleichzeitig. Dann die Stufen zum Portal des Doms hinauf (Ede immer drei auf einmal, Carlo zwei Schritte pro Stufe) und rein in die dunkle Kirche. Ein neues Leben anfangen, nächster Versuch. Diesmal begonnen mit einer Beichte am Ort ihrer größten Missetat: Dem bis heute unaufgeklärten Überfall auf die Breselner Sparkasse vor zwei Jahren. Als Ede noch lang und klapperdürr gewesen war, und Carlo eine Kugel auf zwei Beinen. Heute bekam Ede seine ausladenden Formen kaum in eine Sitzreihe gezwängt, während für Carlo das Fußbänkchen gereicht hätte.

      Sie mussten sich noch gedulden. Gerade verabschiedete Pastor Himmelmeyer einen hutzeligen Alten mit Triefnase und bat eine der beiden älteren Damen in den Beichtstuhl, die noch vor Ede dran waren. Die Dame kicherte, wickelte sich noch fester in ihren Kamelhaarmantel, rückte den grauen Dutt zurecht und schickte der anderen Dame einen triumphierenden Blick in die Bankreihe.

      Erster!

      Die andere, deutlich korpulentere Dame mit lila Locken (die Ede unglaublich und Carlo hinreißend fand) sah eisern an dem Kamelhaarmantel vorbei zum Altarkreuz. Sie hatte es ja wohl nicht nötig, auf so etwas zu reagieren.

      Pastor Himmelmeyer nahm im Beichtstuhl auf der einen Seite eines Holzgitters Platz, Elfriede auf der anderen.

      „Nun, Frau Sievers“, begann er in behäbigem Pastorenton, „die Beichte ist dazu da, alles was das Herz beschwert loszuwerden. Also meine Liebe, wo drückt der Schuh?“

      „Hachja.“ Elfriede drückte ihre Kopfzierde in Form. „Nun ja.“

      „Bitte, meine Liebe.“ Pastor Himmelmeyers Ton wurde noch eine Spur väterlicher. „Wir haben nicht ewig Zeit. Dort warten noch andere mit ihren Sorgen.“

      „Ja“, sagte Elfriede, „das ist es ja gerade. Ich habe mich vorgedrängelt. Eigentlich wäre die Emma dran. Die kennen Sie sicher. Die Köchin von Burg Knittelstein. Aber, tja, also, ich habe die Abkürzung durch die achte Bankreihe genommen, da wo's ein bisschen breiter ist, nicht wahr, und schwupps!“

      „Und schwupps?“

      „War ich Erster.“

      „Tja“, machte Pastor Himmelmeyer.

      „Wissen Sie, weil ich noch einkaufen muss und der Dalli-Markt am Sonntag nur eine einzige Stunde geöffnet hat. Sehen Sie, seit ihr Mann, der Karl, den Kletterunfall hatte, und was müssen diese Kerls auch immer versuchen, an der Teufelsnase vorbei durch die Westwand, wissen Sie wie gefährlich das ist? Also mein Oskar selig sagte immer, wenn schon den Breselberg rauf, dann durch den Wald. Aber der Archibald, also der auch im Alpenverein ist, wie der Karl, also die ließen sich ja nicht reinreden, ließen die sich nicht, da musste der Karl erst abstürzen und sich ein Bein brechen. Na, und jetzt? Die arme Frau Dall schafft das ja nicht mehr. In ihrem Alter. Den ganzen Laden alleine schmeißen, wissen Sie, und das macht oft einsam, und wer kann das besser verstehen, als ich, wo ich doch auch oft so bin. So einsam. Hachja.“

      „Ja“, sagte Pastor Himmelmeyer so verständnisvoll er konnte.

      Emma saß in der Bank und rutschte, so unauffällig es ihr möglich war, zur äußersten Kante. Da konnte sie Elfriedes Beichte am besten verfolgen. Außerdem vergrößerte sich so der Abstand zu dem gewaltigen Kerl mit seinem spiddeligen Freund. Die zudem gar nicht so besonders gut rochen. Mehr so wie abgestandene Milch, dachte Emma, die Köchin.

      „… wo ich doch auch oft so bin. So einsam. Hachja“, drang aus dem Beichtstuhl

      Nun, dachte Emma, in deinem Alter, du klapprige Schachtel, sollte man auch nicht so allein wohnen. Was schnabbelte Elfriede da noch?

      „… der Kommissar in seinem Wagen, so ein attraktiver Kerl, wissen Sie?“

      „Nicht so laut“, flüsterte Pastor Himmelmeyer.

      Elfriede nickte und wisperte: „Ach, Herr Pastor, und da wurde mir plötzlich so anders.“

      „Mmh“.

      „So wie in jungen Jahren, wenn Sie verstehen.“

      Pastor Himmelmeyer räusperte sich umständlich.

      „Aber weiter war nichts“, zwitscherte Elfriede, „ehrlich. Und der Herr Kommissar musste ja auch seiner Arbeit nachgehen. Mitten in der Nacht. Gestern, in einem dieser Häuser.“

      „In einem welcher Häuser?“, fragte der Pastor, offensichtlich froh, das Thema wechseln zu können.

      Elfriede schaute ihn mit großen Augen an. „Aber Herr Pastor, das wissen Sie nicht? Gerade Sie? Von diesen Häusern, die sie gestohlen haben. Damals im Krieg.“

      „Jaja, natürlich, ich weiß“, ging Pastor Himmelmeyer hastig dazwischen.

      „Und ich weiß, dass Sie das wissen“, beharrte Elfriede schlitzohrig. „Sie wohnen ja selbst in so einem …“ Das mühsame Keuchen des betagten Priesters ließ Elfriede abbrechen.

      „Ich hab mein Leben lang dafür gebüßt“, presste Himmelmeyer hervor. „Deshalb bin ich Priester geworden.“

      Elfriede schwieg und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Pastor Himmelmeyer sich den Schweiß von der Stirn wischte. Jetzt hatte sie ihn genau da, wo sie ihn haben wollte.

      „Finden Sie es nicht sogar richtig, was dieser Einbrecher tut?“

      Das ganze Gerede zuvor war nur der Anlauf gewesen. Trotzdem war Elfriede von der Heftigkeit überrascht, mit der es aus Pastor Himmelmeyer herausbrach.

      „Sie