Gerhard Gemke

Die Kammer hinter dem Spiegel


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der Bus so scharf, dass Jans Nase eine Spur über die Scheibe zog und an der Fenstereinfassung hängen blieb.

      „Autsch!“

      Drei Bankreihen dahinter pressten sich zwei Mädels die Hände vor den Mund. Augsburger Tor, sie mussten raus. Freddie zeigte den Mädels noch seine Zunge in voller Länge, bevor er auf den Bürgersteig sprang. Jan stolperte mit zwei Fingern in der Nase hinterher. Zwei Mädels zogen bedauernde Gesichter und winkten.

      „Alle naselang stößt sich der arme Kerl“, meinte Lisa.

      „Na so was.“

      Jan starrte in den grauen Himmel und presste ein Papiertaschentuch vor sein Gesicht. Freddie reichte ihm ein frisches. So arbeiteten sie sich Taschentuch für Taschentuch bis zum Marktplatz. Das Sonderangebot der Imbissbude vor dem Rathaus war heute Nasi Goreng. Freddie brüllte vor Lachen. Jan blieb der Grund für den Heiterkeitsausbruch völlig schleierhaft, was vielleicht auch besser so war. Für Freddie.

      Als sie die Bäckerei Blume erreichten, ließ Jans Nasenbluten allmählich nach. Das Plakat hing immer noch im Schaufenster. Jan stopfte eine Handvoll rotgetupfter Papiertücher in den Mülleimer am Eingang und folgte Freddie in den nach frischen Brötchen duftenden Verkaufsraum. Zumindest sagte Freddie, dass es hier duftete. Jan konnte nur vermuten, dass es so war. Unter der Ladentür legte er noch einmal den Kopf in den Nacken und schniefte. Nur deshalb fiel ihm die Rose auf, die in den Querstein über der Tür gemeißelt war.

      Klar, dachte Jan. Bäckerei Blume.

      „Mit euch hab ich schon gerechnet.“ Die dicke Frau in der Bäckerschürze musste Änne Blume sein. „Ihr habt gestern so interessiert eure Fettflecken auf dem Schaufenster hinterlassen.“

      Achje, dachte Jan, das beginnt ja herzlich. Vielleicht sollten wir lieber … Aber Freddie schien Ännes strafenden Unterton nicht zu stören.

      „Wann können wir anfangen?“

      „Nun mal langsam.“ Änne Blume kam hinter dem Tresen hervor. „Bartholomäus!“, schrie sie durch eine halb geöffnete Tür, hinter sich offensichtlich die Backstube befand. „Kannst du mal für'n Moment?“

      Irgendwas knallte in der Backstube. Vielleicht ein Blech mit Brötchen. Irgendwer brummte ungehalten. Dann kam Bäckermeister Bartholomäus Blume in den Verkaufsraum gestapft. Mit einer riesigen Bäckermütze und einem mehlweißen Kittel.

      „Ich geh mal eben mit den Burschen nach hinten“, erklärte Änne und schob Jan und Freddie rechts an der Ladentheke vorbei. „Den Flur entlang“, befahl sie.

      Der Flur machte einen Knick und endete vor einer Tür mit einer Bleiglas-Margerite. Wie passend. Dahinter befand sich die Privatwohnung der Blumes, logisch. Änne Blume bugsierte die Jungs ins Wohnzimmer.

      „Setzt euch an den Tisch!“ Sie war es wohl gewohnt, dass man ihr gehorchte. Änne selbst verschwand in einem Nebenraum. Jan und Freddie hörten sie Schubladen aufziehen und wieder zuknallen. Offenbar fand sie nicht, was sie suchte. So hatten die Jungs ein paar Minuten, um sich die Einrichtung anzusehen.

      „Fünfziger-Jahre-Scheiß“, sagte Freddie, als verstünde er was davon.

      Jan schniefte. Ein ähnlich abgeschabtes Cordsofa und so eine kackbraune Eichenfunier-Kommode hatten seine eigenen Vorfahren vor nicht allzu ferner Zeit aussortiert. Zum Glück! Das einzig Beeindruckende an dem Sortiment war die Wand rechts neben der Wohnzimmertür. Besser gesagt der riesige goldschnörkelgerahmte Spiegel, der diese Wand beinahe komplett ausfüllte und den Raum auf doppelte Größe auszudehnen schien.

      „Wao!“, machte Freddie.

      „Ja“, plärrte Änne, die jetzt mit zwei Zetteln und einem Kulli bewaffnet das Zimmer betrat. „Den hat mein Schwiegervater gebaut. Bartold Blume.“

      Freddie war aufgestanden und fuhr mit dem Zeigefinger über den üppig verzierten Holzrahmen.

      „Nicht anfassen!“, schimpfte Frau Blume. Und bevor Freddie nach dem Namen fragen konnte, der unten rechts in den Rahmen geschnitzt war und so gar nicht nach Bartold Blume aussah, machte Änne schon lauthals weiter.

      „Hier unterschreiben!“ In einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

      „Warum müssen wir denn was unterschreiben?“, traute sich Jan. Als er Ännes Blick sah, bereute er schon die Frage.

      „Damit ihr pünktlich seid! Und …“, Frau Blume hob beide Zeigefinger gleichzeitig – wahrscheinlich hatte ihr noch nie jemand gesagt, wie albern das aussah, „… und damit ihr zuverlässig jeden Morgen antanzt!“ Sie hatte deutliche rote Flecken im Gesicht. „Außerdem unterschreibe ich ebenfalls. Dann seid ihr sicher, dass ihr euren Lohn bekommt.“

      Freddie schielte auf den Wisch. Er hatte noch nicht viel Erfahrung mit Verträgen, aber die Geldsumme darauf schien ihm okay. Für's Brötchenaustragen.

      „Nächsten Montag also“, sagte Änne Blume zum dritten Mal, als sie die Jungs durch den Bäckerladen zur Tür schob. „Pünktlich um Sechs!“

      Freddie und Jan nickten.

      „Verdammt früh“, maulte Jan, als die zum Kunibald-Brunnen schlenderten. In ihrem Rücken entfernte Änne Blume schon das Plakat aus dem Schaufenster.

      „Hauptsache die Kohle stimmt“, sagte Freddie so cool er konnte.

      Die Wolkendecke war aufgerissen und gönnte der Mittagssonne ein Schlupfloch. Die Schlange um Kunibalds Speer glitzerte golden. Der eiserne Helm glänzte, dass man sich darin spiegeln konnte.

      „So ein Riesending hab ich noch nie gesehen.“ Freddie war auf den Brunnenrand geklettert und ordnete seine Haare vor Kunibalds Kopfbedeckung. „Den Spiegel“, ergänzte er für den Fall, dass Jan ihm nicht folgen konnte.

      „Wer baut bloß so ein Monsterteil.“

      Freddie setzte sich neben Jan. „Hans Klein.“

      Jan sah Freddie erstaunt an. Schmierte sein Kumpel eigentlich in letzter Zeit Gel in die blonden Locken?

      „Nicht Ännes Schwiegervater hat den gebaut. Stand unten auf dem Rahmen.“

      Und förderte Gel in den Haaren die Verwirrung des Geistes? „Was stand da?“

      Freddie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, obwohl kein Mädchen weit und breit zu sehen war, das er damit beeindrucken konnte.

      „Hans Klein“, sagte er und blickte starr geradeaus. Jan folgte seinem Blick. Bingo! Links neben der Rathaustreppe spazierte Sally. Aus der Parallelklasse. „Hans Klein hat den Spiegel gebaut.“

      Sally winkte. Freddie nickte nur leicht mit dem Kopf. Zum Glück zogen jetzt wieder Wolken vor die Sonne. Freddie ließ sich vom Brunnenrand auf das Marktpflaster fallen.

      „Soll heute noch Regen geben“, sagte er, bevor Jan auf die Idee kam, dumme Fragen zu stellen.

      „Jaja, das schmiert dann immer so.“ Jan blickte seinen Freund übertrieben sorgenvoll an.

      „Was?“

      „Na, wenn der Regen das Gel aus den Haaren spült und so im Gesicht runter in die Augen und dann …“

      Jan rannte, als ginge es um sein Leben. Beim Rathaus lang, an den coolen Gelfrisuren in Friseur Fernandels Schaufenster vorbei, bis zum Augsburger Tor. Und wäre Elfriede Sievers nicht mit ihrem Spazierstock dazwischen gegangen …

      „Nein, nein, Oma Sievers“, beruhigte Freddie sie, „ich bring ihn nicht um. Nur ein bisschen.“

      Auf halbem Weg die Breselner Landstraße raus hatten sich die Wolken schon wieder verzogen. Sowohl Jans Leben als auch Freddies Gelfrisur waren außer Gefahr. Aus Solidarität duckte sich Jan genau wie Freddie unter dem Fenster des Kommissariats durch.

      „Sonst will der noch Speichelproben für einen DNA-Test“, knurrte Freddie.

      Das mit den Fingerabdrücken wusste