Gerhard Gemke

Die Kammer hinter dem Spiegel


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      Jetzt musste Freddie beweisen, was er im Hundert-Meter-Sprint drauf hatte. Seine Rettung war die Schulstraße, in die er mit rutschenden Turnschuhen einbog. Jan rannte einfach weiter die Breselner Landstraße hinaus.

      „Rache!“, schrie er, dass es zwischen den Häuserwänden hallte und eine Damendoppelkopfrunde, die nach einem Sektfrühstück im Grünen wieder stadteinwärts radelte, entrüstet die Köpfe schüttelte.

      Diese Jugend. Wir damals!

      Nur Ludmilla Reisch dachte: Wir waren viel schlimmer!

      Bella Napoli

      Das war knapp. Lisa hatte die schwere Matratze die Dachbodentreppe hinuntergeworfen und die Vase nur um Haaresbreite verfehlt. Nicht dass diese ein Prachtstück war. Im Gegenteil. Lisa fand sie abscheulich. Irgendein Sonnenuntergang im Hafen von Bella Napoli zierte den dicken Bauch. Aber Mama hing an dem Stück. Mama war in Neapel geboren. Vor fünfundzwanzig Jahren hatte sie sich mit Giacomo in den Norden aufgemacht. Sie waren in Bresel gestrandet und hatten eine Eisdiele eröffnet. Favretti, die beste, die es in Bresel gab. Und weit darüber hinaus.

      Vorsichtig schob Lisa die Matratze am Hafen von Bella Napoli vorbei in ihr Zimmer. Jetzt konnte Jo kommen. Heute Abend. Und Baron Eduard konnte beruhigt mit seiner Frau Elvira zehn Tage Urlaub machen. In Österreich. Bevor die Touristensaison begann und sie auf Knittelstein alle Hände voll zu tun hatten. Nur Köchin Emma hütete die Festung, und Jo war froh, dass sie in dieser Zeit bei Lisa unterkommen konnte.

      Lisa warf noch ein Kopfkissen und ein Bettlaken auf die Matratze. Fertig. Jetzt runter, schnell noch Papa bei den letzten Gästen der Eisdiele helfen, dann um kurz vor sechs zum Dalli-Markt. Sie hatte es Frau Dall versprochen. Außerdem brauchte sie etwas Feriengeld. Was heißt etwas?

      Lisa sah sie gleich. Sie saß am Tisch neben der Eingangstür, den Kragen des braunen Kamelhaarmantels trotz der sommerlichen Temperaturen hochgeschlagen. Ein langstieliger Löffel, vermutlich beladen mit Süßem aus dem Fruchtbecher, den Oma Sievers regelmäßig bestellte, schwebte auf halbem Weg zwischen Becher und Mund und tropfte friedlich. Elfriede starrte regungslos auf die Zeitung vor ihr auf dem runden Marmortisch. Die Zeitung von gestern, wie Lisa feststellte, als sie näher kam.

      „Frau Sievers?“

      Keine Reaktion.

      „Frau …“

      „Kind, was hast du mich erschreckt!“

      „Ihr Löffel.“

      Elfriede betrachtet interessiert den Löffel mit der Erdbeere darauf, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Dann steckte sie ihn zurück in den Fruchtbecher. Lisa wunderte sich bei der tüdeligen Oma über gar nichts mehr. Auch nicht, als sie auf drei Fotos in der Zeitung tippte und „Die kenne ich“ nuschelte.

      Lisa genügte ein flüchtiger Blick. Sie hatte den dazugehörigen Artikel aufmerksam gelesen. Über den Einbruch Samstagnacht. Zum Glück war Freddie darin nicht erwähnt worden. Dass Freddie dabei gewesen war, wusste Lisa von Frau Haustenbeck, die es am Sonntag brühwarm ihrer Mama erzählt hatte. Von Freddie selbst dazu kein Wort. Vielleicht hatte er es wenigstens Jan erzählt, aber der hielt natürlich dicht. Manchmal vermisste Lisa den alten Zusammenhalt ihrer Viererbande.

      Oma Sievers fischte wieder die Erdbeere aus dem Becher und balancierte sie über der Zeitung. Mit entsprechenden Spuren auf den Fotos.

      „Der da“, sagte sie, „der mit dem Klecks auf der Nase, ist Gert Bublanski.“ Elfriede nickte und schob endlich die Erdbeere zwischen die dritten Zähne. „Die Frau links daneben heißt Leonie Kraans, und der rechts … ach, wie hieß der noch gleich?“

      „Löwenstein“, half Lisa. Den Namen hatte Frau Haustenbeck am Sonntag erwähnt. „Der hat früher in der Schulstraße gewohnt. Nummer 23.“

      Elfriede sah sie erstaunt an. „Jajaja, Severin Löwenstein. Weißt du, die haben alle früher dort gewohnt.“

      Lisa gähnte, innerlich. Es war nicht immer leicht, alte Damen zu bedienen. Oberster Grundsatz: Geduld!

      „Haben Sie noch einen Wunsch, Frau Sievers?“

      „Bis sie ihre Häuser verkaufen mussten und dann verschwanden.“

      „Frau Sievers, ich …“

      „Das war eine ziemliche Sauerei, mein Kind.“ Elfriede war einer der schwierigeren Fälle. „Damals.“

      Lisa sah einen Herrn am Nachbartisch winken und nickte ihm zu. „Kann ich jetzt ihren Becher …“

      „Erpresst haben die sie, bis sie verkauften.“ Elfriede starrte auf die Fotos. Oder durch die Fotos in eine lange vergangene Zeit. „Alle fünf.“

      Lisa griff nach dem fast leeren Fruchtbecher. Elfriede packte ihre Hand und sah sie in einer Mischung aus Schlitzohrigkeit und Misstrauen an.

      „Du denkst, ich bin eine schwierige alte Schachtel, nicht wahr?“

      „Nein, nein“, beeilte sich Lisa, „aber vielleicht sollten sie das alles lieber der Polizei …“

      „Ach Mädchen, weißt du wie lange das her ist? 1938 fing es an. Die letzten 43. Kein Polizist kräht heute mehr danach.“ Elfriede löste ihren Griff und Lisa zog ihre Hand weg.

      „Ich meine doch, was Sie über die Fotos wissen. Die Namen“, sagte Lisa. „In dem Artikel steht, dass man sich melden soll, wenn man die kennt.“ In ihren Augenwinkeln sah sie wieder den Herrn winken. Diesmal schon ungeduldiger.

      „Das kommt der schlaue Kommissar schon von selbst drauf“, erklärte Elfriede und ein kleines Leuchten huschte durch ihre Augen. „Im Übrigen kann das jeder nachlesen. Im Stadtarchiv.“ Sie stellte ihren Becher auf Lisas Tablett und erhob sich ächzend. „Den kannst du jetzt mitnehmen. Ich finde allein hinaus.“ Zielstrebig wackelte sie zur Tür. Lisa sah ihr nach.

      „Fräulein!“ Der winkende Herr war jetzt leicht rot im Gesicht. Lisa strich das Geld, das Oma Sievers auf den Tisch gelegt hatte, in ihr Portemonnaie. Nahm den Bestellblock und ging zu ihm hinüber.

      „Sie wünschen?“

      „Na endlich!“

      Pappnase! Das dachte Lisa natürlich nur. Mit einem äußerst zuvorkommenden Lächeln.

      Elfriede kicherte leise und schüttelte den Dutt.

      Mit solchen alten Schrauben wie mir, hat man's nicht immer leicht. Aber warum sollte man auch?

      Langsam setzte Elfriede Fuß vor Fuß. In ihrem Alter brauchte sie nichts mehr zu überstürzen. Die schnellen Jahre waren vorbei. Ja, damals nach dem Krieg, 1945. In jenem Sommer war sie sieben geworden, am 29. September, und musste noch eine Weile die Schulbank drücken. Später als sie siebzehn war, bekam sie eine Stelle im Vincenzkrankenhaus, als Wäscherin. Dann Oskar kennengelernt. Oskar Sievers, den Studenten aus Berlin, der sich im Historischen Museum Bresel beworben hatte. Oskar geheiratet am 24. 9. 1959, das würde sie nie vergessen. Mit ihm auf Wolken geschwebt, dann die Wohnung in der Vincentinerstraße bezogen und über die Jahre abbezahlt.

      Und Oskar nichts erzählt. Kein Sterbenswort. Von ihrem kleinen Geheimnis. Nein, es war kein kleines, es war ein schreckliches Geheimnis. Aber erzählt hatte sie nichts! Weil … Elfriede mochte an dieser Stelle nicht weiterdenken. Und als sie es ihm endlich erzählen wollte, da war es zu spät. Da starb Oskar. Vor zwei Jahren.

      Elfriede blickte erschrocken auf. Hier war es schon. Die Nummer 23, Schulstraße. Löwensteins hatten hier gewohnt. Bis zum 26. 6. 1943. Dann hatten sie verkauft, verkaufen müssen, und waren nach Amerika verschwunden, wie Oskar rausgefunden hatte. Severin Löwenstein und … wie hieß noch seine Frau? Elfriede schaute an der Fassade hoch. Richtig, Rebecca hieß sie.

      Ein Bulli fuhr an ihr vorbei Richtung Breselner Landstraße. Schwarz, mit einer dunkelroten Aufschrift: SICHERistSICHER. Drinnen saß ein Bär am Steuer. Daneben ein Kleiner. Elfriede winkte. Leise summte sie eine