Gerhard Gemke

Die Kammer hinter dem Spiegel


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Velde nickte müde, unterdrückte ein Gähnen und wandte sich an Gerlinde Haustenbeck. Freddies Mutter hatte sich in einen Sessel fallen lassen und betrachtete fassungslos die Pappfigur, die immer noch hinter dem Wohnzimmertisch saß. Freddie stand mit dunkel geränderten Augen neben ihr.

      „Was …“, setzte Gerlinde Haustenbeck an. „Was soll das?“

      Van der Velde zuckte mit den Schultern. „Wenn wir das bloß wüssten“, brummte er schließlich und ergänzte: „Bereits der dritte Fall dieser Sorte.“

      „Der dritte?“

      Kommissar van der Velde nickte wieder und umrundete langsam den Tisch. Er beugte sich zu der Pappe hinab, um besser lesen zu können.

      „Löwenstein“, murmelte er. „Im März war es Bublanski, im November … ist mir grad entfallen. Und nun Löwenstein.“

      „Wer … ist Löwenstein?“ Frau Haustenbeck sah ihn entsetzt an.

      Kommissar van der Velde gab keine Antwort. Stattdessen gähnte er wieder und legte seine rechte Hand schwer auf Freddies Schulter. „Nun zu dir.“

      Freddie schluckte. Auf einmal kam er sich wieder richtig klein vor. Die nächste Frage brauchte der Kommissar gar nicht zu stellen.

      „Die Tür war offen“, flüsterte Freddie und wünschte, der Kommissar nähme seine Hand wieder fort.

      „Offen?“

      „N-nein“, stotterte Freddie, „ich hab halt so probiert, und dann …“

      „Und dann?“

      „War sie offen.“

      „Und du bist rein.“

      Freddie nickte. Als er merkte, dass van der Velde ihn weiterhin erwartungsvoll anschaute, ergänzte er. „Weil sie doch da so saß. So wie … tot.“

      „Freddie …“, murmelte Gerlinde Haustenbeck.

      „Und da hab ich Licht gemacht und …“

      „Da war sie das gar nicht.“

      Freddie schüttelte den Kopf. „Da hat sie mir den Stock auf den Kopf gehauen.“

      „Ach, nee“, grinste van der Velde. „Aber sonst hast du hier nichts angefasst?“

      Freddie verneinte wieder, und seine Mutter beeilte sich zu sagen: „Nein, nichts, Herr Kommissar.“

      „Gut“, sagte van der Velde und kämpfte mit dem nächsten Gähnen. Und verlor. „Das werden wir ja anhand der Fingerabdrücke feststellen. Danke soweit.“

      Er machte eine Handbewegung zur Tür. Frau Haustenbeck und Freddie folgten ihm aus der Wohnung. Draußen schloss van der Velde sorgfältig ab und klebte ein amtliches Siegel auf die Ritze zwischen Rahmen und Tür.

      „Morgen früh kommt die Spurensicherung“, erklärte er, und dass er eventuell noch einige Fragen an Freddie habe. „Aber jetzt“, van der Velde schüttelte sich, „Gute Nacht.“

      „Gute Nacht“, wünschte auch Gerlinde Haustenbeck und schob Freddie die Treppe hinauf.

      „Hab ich nicht gesagt, du sollst spätestens um zwölf zuhause sein?“, hörte van der Velde noch, als er das Haus verließ. Er stieg in sein Auto.

      „Kraans“, murmelte er, als ihm der Name wieder einfiel. Vergangenes Jahr, am neunten November, stand auf der ersten Pappfigur der Name Kraans. Dann im März beim zweiten Einbruch dieser seltsamen Sorte Bublanski. Und jetzt Löwenstein. Und bei keinem dieser nächtlichen Besuche war etwas gestohlen worden. Nicht ein Staubkorn. Und noch viel merkwürdiger war, dass es eigentlich gar keine Einbrüche waren. Zumindest waren weder ein Fenster, noch eine Tür aufgebrochen worden. Neu war jetzt nur, dass die Wohnungstür unabgeschlossen war. Jedenfalls nach dem, was Freddie Haustenbeck behauptete. Bei den beiden vorherigen war auch die fest verschlossen gewesen.

      Van der Velde riss seine Kiefern weit auseinander. Elfriede Sievers, die gerade wie ein Geist vorbei wackelte, schüttelte missbilligend den Kopf. Van der Velde zog eine Grimasse und startete den Motor.

      Beichte

      Sonntag, 27. Juni.

      Die Leute von der Spurensicherung fluchten, wie nicht anders zu erwarten war. Van der Velde tat kräftig mit. Was Besseres fiel ihm auch nicht ein, um sich am Sonntagmorgen bei Laune zu halten. Sie hatten sich um neun in der Regenbrechtschen Wohnung getroffen. Hinrich kam zehn Minuten zu spät und war zu allem Überfluss ausgeschlafen und glänzend aufgelegt, was ihm der Kommissar wochenlang nicht verzeihen würde, das nahm er sich fest vor.

      Erst recht nicht, als Hinrich gegen elf verkündete, dass die Sanitäter Frau Regenbrecht in ihre Wohnung zurückbrächten. Jetzt gleich. Und noch ehe van der Velde das wutentbrannt verhindern konnte, standen sie auch schon in der Tür.

      Die alte Dame war anscheinend mit allen Mittelchen der ärztlichen Kunst aufgepäppelt worden und stürzte wie eine Furie in ihre Wohnung. Zum Glück hatten die Experten von der Spurensicherung ihre Arbeit bereits abgeschlossen. In letzter Sekunde konnten sie ihre Instrumente zur Seite schaffen. Dann machte sich Frau Regenbrecht über ihre Schränke her.

      Sämtliche Schubladen wurden herausgezogen und unzählige Deckelchen geöffnet. Exakt um 11 Uhr 14, wie Kommissar van der Velde mit einem schnellen Blick zur Armbanduhr festhielt, verkündete Traudl Regenbrecht das Verschwinden einer Kette. Dreiundfünfzig wertvolle Amethyst-Perlen.

      „Ganz bestimmt!“, ergänzte sie, als sie den Blick des Kommissars bemerkte. Die Kette habe ihr Frau Blume geschenkt. Vor Jahren. Also Mia Blume, nicht Änne Blume, wenn der Herr Kommissar verstehen würde. Der Herr Kommissar verstand nur Bahnhof, notierte aber pflichtschuldig Mia Blume. Aber dass die Kette sehr wertvoll sei und obendrein verschwunden, das könne sie mit Sicherheit sagen. Und dass der Kerl genau neben dieser Schublade gestanden habe.

      Neben welcher Schublade genau?

      Na, wo die drin war, die Kette.

      Und … der Kommissar war so baff, dass er kaum zu fragen in der Lage war … welchen Kerl meine sie denn bitte? Doch nicht …

      „Doch, doch!“ Frau Regenbrecht nickte eifrig, und im Verlauf des folgenden Wortschwalls lernte Franz van der Velde so einiges über die Jugend von heute. Und dass das damals nun wirklich anders gewesen sei.

      „Damals?“, hakte van der Velde nach.

      Irritiert hielt Frau Regenbrecht inne und sah van der Velde in die Augen. Plötzlich wurde ihr Blick starr.

      „Oder ob SIE es waren?“ Und bevor der Kommissar irgendetwas antworten konnte, kreischte sie: „Was stand auf der Pappe?“

      Frau Regenbrecht packte den Leiter der Spurensicherung, der sich auf eben jenen Stuhl gesetzt hatte, wo kurz vorher noch der Pappkamerad gesessen hatte. Frau Regenbrecht schüttelte ihn. Die Jungs im Krankenhaus hatten sie vielleicht ein wenig zu sehr aufgepäppelt, fand van der Velde. Genauso unvermittelt, wie Traudl den panisch nach Hilfe Ausschau haltenden Mann gepackt hatte, ließ sie ihn auch wieder los und sackte wie ein Sack Mehl auf den Stuhl, den ihr van der Velde in letzter Sekunde unter den Hintern schob.

      „Was stand da drauf?“, flüsterte sie.

      Van der Velde legte seine Hand auf ihre Schulter, eine Angewohnheit, die er für beruhigend hielt. Traudl Regenbrecht war blass wie eines ihrer Bettlaken. Und zitterte.

      „Stand da Löwenstein?“

      Der Kommissar antwortete nicht. Traudl Regenbrecht schrie, lange und schrill.

      Zehn Minuten später hielt der Krankenwagen wieder vor der Haustür und brachte Frau Regenbrecht zu einer zweiten Nacht ins Vincenzkrankenhaus. Van der Velde schickte die Kriminaltechniker nach Hause und beauftragte Hinrich, alles über eine Person oder Familie namens Löwenstein herauszufinden.

      „Ja, alles. Und bevor du nachfragst: Ja, bis morgen!“