Gabriela Beyeler

Grüwig das Buch


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in diesem Moment absolut nichts, was wir hätten fragen sollen. Dieter sagte nur, er wolle nach Hause. Wir fuhren dann nicht zu uns nach Hause, sondern zu den Fischer`s. Es muss um die Mittagszeit gewesen sein, denn es waren alle oben in der Wohnung und hatten schon fertig gegessen. Vater Fischer fragte, wo wir den Kleinen hätten und Dieter sagte ihnen, dass er tot sei. Man sah den Schmerz in Vaters Augen und wie er fast anfing zu weinen. Danach gingen wir zu meiner Mutter und auch ihr erzählten wir, was passiert war. Mich wundert, dass ich mich nicht genau daran erinnere. Bestürzung von allen Seiten. Wir fuhren nach St.Gallen, um Cyrill`s Tod zu melden. Am Schalter bediente uns unser damaliger Standesbeamte, der uns noch kein Jahr zuvor traute. Natürlich mochte er sich nicht mehr an uns erinnern, wäre ja auch zu viel verlangt. Ich empfand es als zusätzlichen Schmerz. Wir bereiteten die Beerdigung vor mit einem Pfarrer, den wir nicht kannten, denn wir entschieden uns, Cyrill in St.Gallen Bruggen beerdigen zu lassen. Dort, wo meine Oma und mein Opa lange Zeit lebten, dort, wo meine Mutter aufgewachsen ist. Jetzt, wo ich das so schreibe, fühle ich mich ganz eigenartig. Die Beweggründe kannte ich damals nicht, doch heute sehe ich einen Grund. Wir wollten unser Kind vor der Beerdigung nochmals sehen und mussten zuerst fragen, wo er sich befindet. In Herisau war er nicht mehr und es hiess, er sei nach St.Gallen überführt worden, wegen Untersuchungen. Ich wurde angerufen und gefragt, ob sie ihn genauer untersuchen dürften um mehr Informationen zu bekommen. In erster Linie wurde die Todesursache abgeklärt. Sie wollten meine Einwilligung für spezielle Untersuchungen, zu Forschungszwecken über den Krippentod. Ich willigte ein, denn ich wollte verstehen, warum er tot war und wenn diese Untersuchung half das mysteriöse Sterben der vielen anderen Kinder aufzuklären, so war ich einverstanden. Ich sagte mir, es wäre ja nur seine Hülle, seinen Körper. Im Leichenraum beim Friedhof Bruggen konnten wir Cyrill ein letztes Mal sehen und Abschied nehmen. Als ich ihn da liegen sah, in diesem kalten klinischen Raum, aufgebahrt und ganz in Weiss, hätte ich mich keinesfalls getraut ihn zu berühren. Er sah so schön aus, wie ein kleiner Prinz. Aber irgendwie nicht echt, eher wie eine Puppe aus Porzellan, denn so schimmerte seine perfekte Gesichtshaut. Er hatte ein weisses, fein, gesticktes Käppchen an. Wir blieben nicht lange in diesem Raum. Am nächsten Tag fand die Beerdigung statt. Sara und Bettina fragten mich, ob es mir was ausmachen würde, wenn sie nicht in Schwarz kommen, weil beide hochschwanger waren und es schwierig war, sich in Schwarz zu kleiden. Natürlich war uns das egal, denn auf einer Beerdigung eines Kleinkindes finde ich es sogar passender in Farbe zu kommen oder sogar in Weiss. Am Tag der Beerdigung sah ich schon vom Friedhofstor aus den aufgebahrten, kleinen weissen Sarg. Es waren schon einige Leute anwesend. Meine Grossmutter Emma schaute sich den kleinen Cyrill ein letztes Mal durch ein Glasfenster im Sarg an, das kurz darauf durch einen Holzschieber geschlossen wurde. Der winzige Sarg wurde zum offenen Grab getragen und wir begleiteten ihn. Der Pfarrer sprach einige Worte und der Sarg wurde „hinab gelassen“. Ich sah Dieter das erste Mal weinen und unter Tränen schritten wir zur Kirche. Die Zeremonie war ganz in Ordnung, doch der Pfarrer sprach den Namen unseres Kindes immer wieder falsch aus und das ärgerte mich. Das Orgelspiel war fantastisch, sehr passend für ein so kleines Wesen. Die Melodie verspielt, so fröhlich, es hätte ihm ganz bestimmt gefallen.

      Ich ging wieder arbeiten, denn zu Hause war es unerträglich. In den ersten Tagen und Nächten heulte ich und rief innerlich immer wieder den Namen meines Babys. Es tat so unvorstellbar weh. Es war ein Gefühl, als ob ein Teil von mir ebenfalls gestorben wäre. Hinzu kam noch das Gefühl etwas falsch gemacht zu haben. Schuld, am Tod des eigenen Kindes zu sein. Dieter hat mir nie einen Vorwurf, auch keinerlei Andeutungen dieser Hinsicht gemacht und das rechne ich ihm gross an, sehr gross! Am liebsten hätte ich allen Menschen denen ich begegnete, sei es auf dem Bahnhof, im Zug, auf dem Trottoir, einfach allen erzählt, dass ich einmal Mutter von einem süssen kleinen Jungen war. Und in diesem Sinn hätte ich mir am liebsten ein Schild mit einem Foto von Cyrill umgehängt. In meiner Vorstellung wäre es eher möglich gewesen das Cyrill Waisenkind werden könnte, aber niemals umgekehrt, das wir zu Waiseneltern werden könnten! Als Cyrill noch lebte, wagten wieder einmal einen Abend zu zweit, dass heisst zu viert zu verbringen. An diesem Abend machte ich mir Gedanken darüber, was mit Cyrill geschehen würde, wenn wir nun verunglücken würden.

      Wie „ein Blitz aus heiterem Himmel“ kam uns in den Sinn, dass wir ja bald umziehen mussten, nach Zihlschlacht im Kanton Thurgau. Wir wollten das gar nicht mehr. Wir waren ja keine Familie mehr und warum sollten wir jetzt in eine solche Wohnung ziehen. Wir versuchten durch ein Schreiben, den schon unterschriebenen Vertrag rückgängig zu machen, doch es half nichts und eigentlich war das ganz gut so. Denn ich mochte nicht mehr länger in dieser Wohnung in Winkeln sein, mit all den Erinnerungen. Ich hatte Angst das Zimmer von Cyrill zu betreten. Es verstrichen viele Tage, wenn nicht gar Wochen, bis ich mich überwand und den Mut fasste in sein Zimmer zu gehen. An den Ort des Geschehens, des Grauens, des unheimlichen und unerklärlichen Todes. Ich tat es und ich litt, heulte und roch an seinen immer noch daliegenden Kleidchen, die immer noch nach ihm schmeckten. Wenn ich sie nun wusch, war dieser Geruch für immer weg. Ich musste sie waschen, ja das musste ich und räumte alles weg. Mein Vater schrieb mir einen Brief, in dem er sich entschuldigte und begründete, warum er nicht zur Beerdigung kam. Er meinte, er hätte ja doch nur geheult, wie ein kleiner Junge. Als er mich daraufhin anrief, sagte ich ihm, dass ich eigentlich keine sonderlichen Erwartungen an ihn gehabt hätte, wenn er gekommen wäre, denn auch wir hätten nur geweint. Er war sehr nett am Telefon und sagte zu mir, dass es beim nächsten Kind ganz bestimmt gut werden wird, dass „wisse“ er einfach. Ich muss zugeben, dass dieser Satz mir Mut gab. Irgendwann hielt ich ein Telefonat mit der Sekretärin von der Uhrmacherschule, die „Tozzi“ hiess. Sie ermunterte mich die Lehre nun zu beenden. Doch ich wollte nicht, ich wollte lieber wieder ein Baby haben, wieder eine Familie sein!

      zweiter teil

      Umzug nach Zihlschlacht

      Die Wohnungsreinigung für die Abgabe stand bevor. Dieter war im WK und so lag es an mir, nebst meinem Job, abends noch die Wohnung zu putzen. Mir wurde nach der Wohnungskündigung mitgeteilt, dass es eine neue Küche geben würde, so reinigte ich sie, jedoch nicht übertrieben. Dieter kam im Verlauf des Samstagmorgens nach Hause. Am Nachmittag kam dann eine Frau von der Vermietungsfirma in Begleitung der neuen Mieterin. Die zukünftige Mieterin war mehr als nur mollig und allein ihre Ausstrahlung war mir absolut unsympathisch. Sie schaute sich alles gut an und fuhr mit ihrem Finger über die Holzleiste der vorstehenden Vorhangschienen. Immer wieder beanstandete sie etwas und machte mich regelrecht fertig. Als sie dann noch sagte, dass der Filzteppich im Wohnzimmer nicht sauber und gewiss nicht shampooniert wäre, flippte ich aus und sagte zu ihr: “Sie müsse sich halt hinknien und am Teppich riechen, um festzustellen, dass dieser sehr wohl nach Shampooniermittel dufte.“ Ich war so wütend und die Frau von der Vermittlung wies die Frau zurecht. In der Küche, betonte sie sogar mehrmals, dass die Küche ersetzt werde und es darum unerheblich sei, dass sie nicht perfekt sauber sei. Ich verliess die Wohnung, indem ich die Tür laut zuschlagen liess, voller Wut und Frustration, weil Dieter mir keineswegs zur Seite stand. Ich lief einfach ins Freie. Irgendwann landete ich am Bahnhof und setzte mich dort auf ein Bänkchen. Nur wenige Minuten später kam Dieter angefahren und ich fuhr mit ihm nach Zihlschlacht. Ich weiss nicht mehr, ob ich ihm meine Enttäuschung über sein Verhalten mir gegenüber kundtat, wahrscheinlich nicht.

      Nicht lange eingezogen, machten wir ein Feuer im Cheminée und freuten uns der Wärme, die das brennende und knisternde Holz abgab. Ich genoss die leichte Arbeit der Wohnungsreinigung, denn ausser in den Schlafzimmern, waren überall Fliessen verlegt. Im Wohnzimmer hatten wir eine ganze Fensterfront, die von der Decke bis zum Boden reichte und viel Licht einliess. Es war eine moderne, helle und schöne Wohnung.

      Wir lebten immer noch im tiefen Schmerz über den Verlust unseres Sohnes und gleichzeitig dem Wunsch wieder eine Familie zu sein. Kurz vor Cyrills Tod, bestand ich die Theorieprüfung für die künftigen Autofahrstunden. Nun ergriff ich die Situation und machte mich schnellstens an die praktischen Fahrstunden. Ich engagierte einen Fahrlehrer von Gossau. Sein Name war „Oberholzer“, doch ich kann mich beim besten Willen nicht mehr an meine erste Fahrstunde erinnern. Während einer Fahrstunde, als ich in der Stadt St.Gallen in Richtung Trogen einspurte, schimpfte mein Fahrlehrer mit mir, weil sich ein Velofahrer, rechts neben unserem Auto vorbeizwängte. Ich war empört, denn ich fuhr sehr wohl nahe am Strassenrand und protestierte heftig! „Ich kann doch nichts