Gabriela Beyeler

Grüwig das Buch


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Er gehörte zu den internen Schülern. Das bedeutete, dass er immer in Solothurn war. Es gab und gibt eine interne und eine externe Ausbildungsmöglichkeit, die man so wie ich in einer Bijouterie, einem Uhrengeschäft oder in einer Uhrenfabrik praktiziert. Darum wohnten zwei Mädchen, die eine Interne Lehre machten immer in diesem Handarbeitsinternat. Die eine war Italienerin und die andere hatte am selben Tag Geburtstag wie ich, war jedoch ein Jahr älter. Sie lud mich ein mit ihr auszugehen, ohne Marion. Die Uhrmacher trafen sich meistens im Solothurner Städtchen im „Tea Rom“. Wir gingen also dort hin und die Jungs spielten Billard. Etwas später fragte sie mich, ob wir etwas spazieren gehen wollten: “Ja, warum nicht“,sagte ich. Wir waren plötzlich zu viert und gingen am Fluss spazieren. Meine Kollegin und der eine Junge verschwanden irgendwo im Gebüsch oder so, ich und der Grieche wandelten allein am Fluss entlang, in einer sternenklaren und lauen Sommernacht. Wir redeten und redeten und ich erwähnte ihm gegenüber bestimmt mehr als dreimal, dass ich einen Freund hätte und ich mit ihm in die Ferien, nach Spanien fahren würde. Ich denke, dies hat ihn nicht beeindruckt, denn er flirtete weiter. Es war spät geworden und die beiden wollten uns unbedingt bis zu unserer Unterkunft begleiten. Er nahm meine Hand und so spazierten wir Hand in Hand der Strasse entlang durch Solothurn. Irgendwie fand ich es reizvoll und spannend und doch plagten mich Gewissensbisse. Immer wenn wir uns im Schulhaus sahen, machte er sich bemerkbar, doch ich wich ihm aus und zeigte kein Interesse. Schliesslich war ich ja ein anständiges und braves Mädchen. Einige Wochen später ging ich mit demselben Mädchen an eine Party unter Uhrmachern, doch weil ich nicht gesprächig war, machten sie Bemerkung über mich wie: „Die Allensbach ist gleich stumm wie der Hauser.“ Ich hatte an diesem Abend keinen Spass, aber wo hatte ich schon meinen Spass, denn ich hasste es unter vielen Menschen zu sein. Mehr als drei Personen überforderten mich und ich hörte viel lieber zu, als das ich sprach.

      Unser Lehrer für Mathe und Fachrechnen hiess Herr Stalder. Herr Nutt war für die Elektronik und die Materialkunde zuständig. Der Lehrer für das Deutsch und die Staatskunde mochte mich nicht und umgekehrt, darum weiss ich auch seinen Namen nicht mehr. Ab und zu sprang der Rektor, Herr Straumann ein, der mich sehr faszinierte. Er war eine Respektsperson und machte sich auch gut als Lehrer. Er erzählte uns gerne von seinen Russlandreisen. Herr Stalder trug meistens braune Kordhosen und Flanellhemden, einfach scheusslich! Eines Tages präsentierte er uns stolz sein brandneues hellbeige Hemd, das keine Knöpfe hatte, sondern einen Reissverschluss, igitt! Ich habe erst kürzlich erfahren, dass er nun seit einigen Jahren der neue Rektor der Uhrmacherschule ist, wer hätte das gedacht. Einmal im Jahr gab es zwei Praktikumswochen. Im dritten Lehrjahr konnte ich nicht teilnehmen, weil ich mir mein Handgelenk gebrochen hatte. Das Unglück passierte während der Mittagspause in Gossau. Louisa, eine der Lehrlingsverkäuferinnen wollte, dass ich sie zum Mittagessen in die Migros begleite und weil es zu Fuss zu weit weg war, wollten wir mit ihrem Mofa dorthin fahren. Sie wagte nicht zu fahren, also fuhr ich und sie sass hinten auf. Auf dem Rückweg ulkte ich herum und machte absichtliche enge Schwenker bis wir stürzten. Ich blutete aus meinem Kinn. Ich achtete darauf, dass ich meine Wildlederjacke nicht beschmutze. Es ging nicht lange, bis ein älterer Mann gelaufen kam, der da wohnte und bat uns zu sich herein. Louisa hatte sich zum dritten Mal ihr Knie aufgeschlagen und hinkte ins Haus. Ich lag auf einem fremden Sofa und der Mann benachrichtigte unseren Chef. Der kam sofort und begutachtete uns. Von einer Minute auf die andere schwoll mein Handgelenk an und schmerzte immer mehr. Ich weiss nicht mehr wie ich nach Herisau ins Spital kam und wer mich von dort nach Hause fuhr. Im Spital sogen sie mir die angesammelte Flüssigkeit aus dem Handgelenk. Sie stachen mit einer dicken Nadel mitten ins Gelenk und zogen an der Spritze. Das fühlte sich an, als würden sie mir die Knochen durch die Nadel hinaussaugen. Danach bekam ich an die Finger, lustig aussehende Hütchen gesteckt und mein Arm wurde im rechten Winkel, an den Fingern aufgehängt. Ich konnte meine Knochen in einem Fernsehbildschirm ansehen, gleich wie ein Röntgenbild. Sie hängten mir so viele Gewichte wie nötig an meinen Oberarm, bis die Knochen so lagen, wie sie sollten und fingen an zu gipsen. Wieder zu Hause, realisierte ich so langsam was passiert war. Ich sass in meinem Zimmer und heulte, weil mein Arm nicht mehr ganz war. Auch wenn er jemals wieder geheilt sein sollte, nie wird er je wieder so unversehrt sein wie früher. Ich hatte wohl einen Anflug von Selbstmitleid. Dieter war schon anwesend als ich nach Hause kam. Er war sauer auf mich und ich verstand nicht, warum. Ich erfuhr von Sascha, dass er die Geschichte vom Unfall so verstanden habe, dass ich jemandem hinten auf ein Motorrad gestiegen sei und mit diesem den Unfall hatte. Sascha erzählte mir, dass er dann gesagt haben soll: „Hoffentlich hat sie sich auch wehgetan“. Dieter konnte mich an diesem Nachmittag zum Sex überreden. Ich habe mich einfach gefügt, denn Lust hatte ich nicht. Tage oder Wochen später, stritten wir uns auf einem Spaziergang durchs Dorf, wegen seiner damaligen Aussage. Ich hatte das Thema, wieder aufgegriffen und ihm vorgeworfen, wie mies ich das fände, dass er sich wünschte, dass ich mir wehgetan hätte und das aus einem Gefühl der Eifersucht. Er wurde wütend, verwarf seine Hände und wir gingen getrennte Wege. Ich ging nach Hause und als ich dort ankam, sah ich durch das Fenster, dass er schon da war und auf mich wartete. Ich versteckte mich weiter unten bei der Metzgerei. Ich stellte mich dort unter, weil es zu regnen begann. Nur Minuten später sah ich Hansjörg`s Auto zu uns hochfahren und dann wieder hinunter. Die Luft war rein und ich ging heim. Mutter schimpfte mit mir, warum ich nicht gekommen sei und sie sich gezwungenermassen um ihn kümmern musste. Am nächsten oder übernächsten Tag kam er wieder und wir versöhnten uns. Selten kam es vor, dass ich auf seinem Mofa mitfuhr. Auf solch einer Fahrt, kam ich versehentlich mit meinem Fuss an das Benzinschläuchchen und das Mofa blieb stehen. Ich stieg ab. Er untersuchte, was los war und fing an zu fluchen und zu toben. Mir wurde ganz unbehaglich und ich wollte mich „dünn“ machen und versuchte mich unauffällig zu entfernen. Dieter bemerkte das schnell und schnauzte mich an, ich solle herkommen, was ich widerwillig tat und wir setzten die Mofa-Reise zu ihm nach Hause fort, nachdem er den Fehler gefunden und behoben hatte.

      Monate später fuhren wir zu zweit auf dem 125er Cross-Motorrad in den Süden. Um ein Haar wurden wir von der Polizei angehalten, die eine Kontrolle durchführten. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass Dieter gar keine zugelassene Prüfung hatte. Er fiel durch und wollte es kein weiteres Mal versuchen. In Locarno, im Ferienhaus von seinen Eltern angekommen, glaubte ich im falschen Film zu sein. Kaum eingetreten, sagte Dieter zu mir: “ Mach Kaffee!“ Ich sagte: „Was?“ Und er wiederholte es. Ich stellte klar, dass ich keine Dienerin oder eine seiner Schwestern sei und er mir das schon etwas anständiger sagen könne. Bei ihnen zu Hause gab es klare Rollenteilung. Bei ihm zu Hause lief so manches ab, was mir fremd und ungewohnt war. Ich besuchte ihn äusserst ungern. Meinen ersten offiziellen Besuch als seine Freundin werde ich nie vergessen. Sie behandelten mich wie Luft und es herrschte immerzu eine kühle, überhebliche und abweisende Stimmung. Wenn ich ihn dann doch besuchte, wich ich möglichst den Bewohnern aus. Vor allem seinen Eltern. Von den noch zu Hause wohnenden Geschwistern kannte ich fast alle, ausser seinen älteren Bruder nicht. Weil wir die meiste Zeit in seinem Zimmer verbrachten, kamen auch schon zweideutige Bemerkungen seitens der Eltern. Ich half Eier einschachteln, wenn die Familie gerade am Einschachteln war und das waren sie fast jedes Mal. Seine Mutter besass eine scharfe Schäferhündin namens „Cora“, die auch schon mal zubiss. Diese Hündin entwickelte der Mutter gegenüber einen übertriebenen Beschützerinstinkt und ihr gefiel dies auch noch. Auf dem Hof war eine zweite Hündin. Die wohnte aber nicht im Wohnhaus, sondern unten im Stallgebäude. Sie drehte sich immerzu im Kreis. Nach Dieter`s Erzählung hatte sie sich über ein Huhn hergemacht und dabei ist ihr ein Hühnerknochen im Hals stecken geblieben und darum hält sie ihren Kopf schräg.

      Die Eltern von Dieter besassen in Südspanien zwei Bungalows. Auf dem Hin- oder Rückweg verunfallten die beiden, weil seine Mutter am Steuer einschlief. Der Sportwagen fuhr in einen französischen Graben der Autobahn und überschlug sich. Vater Fischer, der ebenfalls schlief, schleuderte es aus dem Dachfenster. Im Schock und ganz benommen ging er umher und suchte nach seiner Frau. Sie sass noch im Wagen, eingeklemmt hinter dem Steuer. Noch auf der Unfallstelle mussten die Rettungsärzte ihr einen Luftröhrenschnitt machen. Ihre Lungen waren durch die Rippen schwer verletzt, verursacht durch den Aufprall am Steuerrad. Ein Hubschrauber flog sie in ein Spital. Lange Zeit musste sie in Spitälern verbringen, zuerst in Frankreich und dann in Herisau. Vater Fischer war geradezu hilflos ohne seine Frau. Dieter wollte ihn etwas ablenken und lud ihn in ein Restaurant ein, doch er wollte nicht. Martin traf es am heftigsten, was ich nicht mitbekam, aber meine Freundin