Meter allein zu gehen.
Ich fühle mich langsam wirklich unwohl. Aber so, wie die anderen drei mich nun behandeln, müsste ich ständig vor einer Entführung stehen. Fast glaube ich, ich habe von allen am wenigsten das Gefühl, als könne mir etwas geschehen. Aber ich will ihre Angst nicht unnötig schüren und füge mich ihren Anweisungen.
Da ich nachmittags frei habe, würde ich gerne mal wieder etwas mit den Mädels unternehmen, wie wir es am Anfang immer taten. Aber Ellen lässt sich nicht erweichen.
„Wir gehen sofort nach Hause!“, knurrt sie aufgebracht, dass ich überhaupt diesen Vorschlag zu machen wage. Aber dann kommt mir eine rettende Idee. Als wir nach der Schule aus dem Gebäude treten, wende ich mich an meine Mitschülerinnen. „Wer hat Lust mit zu mir zu kommen? Ihr habt noch gar nicht meine neue Wohnung gesehen.“
Andrea und Sabine sind begeistert. Nur Michaela schlägt aus. Sie hält sich immer öfter an die anderen in unserer Klasse und ich weiß, es liegt an mir und Erik. Das tut mir leid, aber ich kann ihr nicht helfen.
Ellen sagt dazu nur, dass sie selbst schuld ist, weil sie sich ihm an den Hals geschmissen hat und er sich genötigt sah, sie mit in sein Bett zu nehmen.
Jaja.
Ich denke lieber gar nicht darüber nach, was Erik in den sechs Jahren, die er älter als ich ist, für Mädchen durchgebracht hat. In einem Moment, als ich mich in einem Anflug von Selbstzerstörungsdrang mit diesem Thema auseinandersetzte, hatte ich eine kleine Rechnung aufgestellt. Bei nur einem One-Night-Stand im Monat, was wirklich tief gerechnet ist, mal zwölf Monate und sechs Jahre, kommen allein über siebzig Mädchen auf seine Kappe. Ich hatte die Gedanken daran sofort bis auf weiteres verdrängt. Zu sehr schockte mich die Zahl. Und noch mehr irritierte mich daran, dass es angeblich niemals eine gegeben hat, die ihn in seinem Herzen berühren konnte. Das war dann der Moment gewesen, wo die Zahl an Bedeutung verlor und mir klar wurde, dass mit uns etwas Besonderes entstanden war. Etwas, was ihm alle anderen Mädchen nicht sein konnten.
Zusammen fahren wir bis zum Hasetor und laufen bis zu meiner Wohnung.
Weder der BMW noch der Mustang stehen vor der Tür und ich bin froh darüber.
Als wir die Treppe hinaufgehen, erklärt Ellen: „Da wohnt Daniel, und ich bin auch die meiste Zeit dort.“
In meiner Wohnung angekommen, mache ich Musik an und hole für alle Orangensaft und finde im Küchenschrank auch noch eine Wodkaflasche, die ich dort mal gebunkert hatte.
Wir machen es uns im Wohnzimmer bequem, lassen Musikvideos über den großen Fernseher laufen und ich kann zum ersten Mal seit langem alles vergessen, was sich immer wieder bedrückend an die Oberfläche kämpft.
Ellen geht es nicht anders und nach dem dritten ziemlich schnell heruntergekippten Wodka-Orangensaft legt sie den Arm um mich und ruft in die kleine Runde: „Leute, wir müssen wieder mehr losziehen. Das ist so kein Leben! Und Carolin ist jetzt endlich auch hier in Osnabrück und man muss die Feste feiern wie sie fallen.“
Wir nehmen uns alle vor, am Freitag die Stadt auf unsere alte Weise unsicher zu machen.
Ich stoße mit Ellen an und flüstere ihr zu: „Das Leben ist zu kurz, um es sich von Maasmännchen und Brüdern versauen zu lassen.“
Sie lacht laut auf. „Maasmännchen? Das ist gut!“
Die Musik dröhnt durch die Wohnung, als ich mit Ellen, und Sabine mit Andrea, wild tanzend durch das Wohnzimmer springen. Wir lachen und ich bin sogar richtig betrunken. Ellen scheint es nicht besser zu gehen und sie greift nach mir und fällt mir um den Hals.
Als mein Blick zur Flurtür abdriftet, steht Erik im Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick verheißt nichts Gutes.
„Hoppla!“, sagt Sabine und hält Andrea fest, die gerade über die Lehne des Sofas zu stürzen droht.
Ellen wird auch auf ihn aufmerksam und säuselt lallend: „Erik! Schon da? Wir machen eine Freiheits … party!“
Ich sehe Ellen entsetzt an. Das kann kaum das richtige Wort für das sein, was wir hier feiern und an Eriks Gesicht sehe ich das auch. „Eine Einweihungsfeier, keine Freiheitsfeier“, rufe ich gegen die laute Musik an und wanke zu ihm.
Doch sein Blick bleibt unverändert. Er traut den Worten seiner Schwester wohl mehr als meinen.
Es klingelt und Erik dreht sich um und macht die Tür auf, mit flacher Hand den Weg weisend. „Hier ist deine Ellen! Party machend! Mitten in der Woche! Carolin ist schon vollkommen betrunken.“
Daniel grinst breit und geht direkt zu Ellen und küsst sie. Sie schlingt ihre Arme um ihn und beginnt mit ihm zu tanzen.
Ich sehe Andrea an, die ihre Tasche greift und auf Sabine wartet, die noch ihre Schuhe anziehen muss. Sie kichert und wird dann mit einem Blick auf Erik wieder ernst.
„Wollt ihr schon gehen?“, frage ich entrüstet.
„Ja, wir müssen los!“, sagt Andrea und zieht Sabine an Erik vorbei in den Flur, greift die beiden Jacken und schiebt die schon wieder grinsende Sabine zur Wohnungstür.
Die säuselt: „Manoman! Du kannst aber böse gucken!“, und fuchtelt Erik mit dem Zeigefinger vor der Nase herum, bevor Andrea sie ganz zur Tür bugsieren kann.
Ich lache und wünsche ihnen ein gutes Heimkommen, mich kurz an der Tür festhaltend. Auf der Treppe winken die beiden mir noch mal zu und Sabine ruft: „Freitag machen wir weiter!“
„Hundertprozentig!“, rufe ich ihr hinterher, drehe mich ein bisschen zu schnell um und stolpere in die Wohnung zurück. Die Tür fällt laut ins Schloss und Erik sieht mir kopfschüttelnd entgegen.
Ellen tanzt mit Daniel, der Erik eine beschwichtigende Handgeste zuwirft. Aber ich habe es gesehen und reiße mich zusammen. Irgendwie schaffe ich es bis vor seine Füße, ohne zu stolpern.
„Ich musste den Mädels doch noch die Wohnung zeigen“, erkläre ich und schiebe mich vorsichtig ganz dicht an ihn heran, bis wir uns fast berühren.
Er packt mit beiden Händen den Kragen meiner Bluse und zieht mich ganz an sich. „Wie kann man sich nur mitten am Nachmittag besaufen?“, brummt er. Aber sein Blick ist alles andere als wütend. Nicht so wie bei Andrea und Sabine eben, was die beiden fluchtartig die Wohnung verlassen ließ.
„Einsamkeit, Vernachlässigung und weil du mir so gefehlt hast, hat mich zu tief ins Glas schauen lassen“, flüstere ich theatralisch und sein ungläubiger Blick zeigt mir, dass er nicht fassen kann, dass ich ihm jetzt auf dieser Schiene komme.
„Soso!“, brummt er. „Ich bin also schuld?“
Ich nicke und schenke ihm einen gekonnten Augenaufschlag.
Seine Augen verengen sich augenblicklich zu Schlitzen, was das Braun aufblitzen lässt und er versucht ernst zu bleiben. „Böse Kinder legt man übers Knie“, murrt er. „Und ich denke, bei dir wird es mal höchste Zeit durchzugreifen.“
„Auja!“, freue ich mich und Erik ist kurz verwirrt. Doch dann zieht er mich am Kragen meiner Bluse langsam hinter sich her durch das Wohnzimmer, wo Daniel und Ellen uns etwas beunruhigt nachschauen.
„Macht die Tür hinter euch zu, wenn ihr geht“, raunt Erik ihnen zu und zieht mich ins Schlafzimmer. Die Tür lässt er hinter uns laut ins Schloss krachen.
Mir ist das peinlich, weil Ellen und Daniel noch da sind und es offensichtlich erscheint, was Erik bezweckt. Aber der kennt kein Pardon. Er knöpft die ersten zwei Knöpfe meiner Bluse auf und die nächsten zwei fliegen durch den Raum.
„Hey!“, beschwere ich mich.
„Sei still!“, brummt er, zieht mir die Bluse aus und lässt meinen BH gleich mitfallen.
Ich schiebe meine Hände unter sein T-Shirt und lasse sie über seine Haut gleiten. Doch mit einem Griff zieht er sie von seiner Brust, dreht mich um und hält meine Hände vor meiner Brust verschränkt fest.
Die