Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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Mutter antwortet nicht und ich bin fast schon überzeugt, dass die Leitung unterbrochen wurde, als ich sie seufzen höre. „Weißt du, Julian ist wieder zu Hause. Er war heute auch schon los. Er beginnt ein Studium an der Universität in Osnabrück. Ich wusste gar nicht, dass er sich da einschreiben lassen hat.“ Sie klingt verunsichert und etwas traurig, weil sie wieder einmal nichts über ihr eigenes Kind weiß. „Aber er hat nach dir gefragt und ich möchte eigentlich, dass du wieder zu uns zurückkommst und wir wieder eine Familie sein können.“

      Ich schaue das Handy an, als würden ihm Hörner wachsen. Dann besinne ich mich darauf, dass ich wohl antworten muss. „Ich weiß, dass Julian wieder zu Hause ist. Wir haben eben telefoniert. Er kann mein Zimmer haben. Ich komme nämlich auf keinen Fall zurück!“, brumme ich barsch.

      „Aber Schatz! Du musst nicht bei diesem Erik wohnen. Julian könnte dich von hier aus immer mit nach Osnabrück nehmen und du hättest wegen dem Fahren gar keine Unannehmlichkeiten mehr.“

      Ich sehe Erik an und schüttele ungläubig den Kopf. „Mama, ich wohne nicht bei ihm. Das ist meine Wohnung und er kommt zu mir und ich werde hier wohnen bleiben, bis meine Schule fertig ist. Und ob ich mit Julian überhaupt jemals wieder irgendwohin fahre, weiß ich noch nicht. Vielleicht ist dir das ja entfallen! Aber er saß nicht umsonst in Untersuchungshaft.“

      Erik sieht mich ernst an. Er weiß, dass ich wütend bin, wenn meine Stimme so umschlägt und legt mir beruhigend die Hand auf den Arm.

      „Dass du immer so aufbraust! Da muss man sich nicht wundern …“, weiter kommt meine Mutter nicht.

      „Mama! Lasst mich einfach in Ruhe. Macht euren Familienscheiß allein und vergesst, dass es mich überhaupt gibt. Tschüss.“ Ich lege auf und mache das Handy ganz aus. Eine Träne rollt über meine Wange und ich putze sie wütend weg.

      „Weine doch nicht“, raunt Erik betroffen und schiebt sich, seinen Arm um mich legend, dicht an mich heran. „Du brauchst die nicht.“

      „Ich weiß! Aber ich hasse es, wenn meine Mutter immer so tut, als wäre ich die Schlimme in der Familie, die selber daran schuld ist, wenn da einer ausrastet und mir ein Messer in den Hals rammt.“ Die Tränen lassen sich nicht mehr aufhalten und ich bin einfach nur froh, dass ich diese Familie nicht mehr ertragen muss.

      „Ich weiß, wie sich das anfühlt“, flüstert Erik traurig und ich lege haltsuchend meine Arme um ihn. Er zieht mich noch dichter an sich heran. „Aber wir brauchen die alle nicht“, raunt er leise in mein Ohr.

      In dieser Nacht schlafe ich schlecht. Erst Julian und dann meine Mutter am Handy gehabt zu haben, wühlt mich dermaßen auf, dass ich die Gedanken daran gar nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Selbst Eriks Liebe und Fürsorge konnte das nicht überdecken. Aber ich bin unendlich froh, ihn bei mir zu haben. Keiner kann mich so verstehen wie er. Vielleicht hat Ellen recht und wir mussten aufeinandertreffen, weil wir uns ergänzen und dasselbe fühlen. Vielleicht sind wir wirklich füreinander bestimmt. Seelenverwandte!

      Auch am Morgen bin ich früh wach und beobachte durch das Schlafzimmerfenster die weißen Wolken am aufgehenden blauen Himmel. Es ist Samstag und wir können noch weiterschlafen. Gerade als ich wieder wegdämmere, rückt Erik dicht an mich heran. „Hey, mein kleiner Morgenstern. Du bist ja schon wach!“

      Morgenstern?

      Ich drehe mich zu ihm um und sehe ihn lächelnd an. „Ja, mein großer Wirbelsturm.“

      Etwas Dümmeres fällt mir als Erwiderung nicht ein.

      „So, Wirbelsturm? Ich komme gleich über dich wie ein Hurrikan.“ Erik lacht leise und ich grinse anrüchig. „Au ja! Mach das!“

      Aber wir kommen nicht weit. Es klingelt an der Tür und wir sehen uns verdattert an.

      Es klingelt erneut, in einer bestimmten Abfolge und Erik wird ruhiger.

      „Das ist Daniel“, raunt er nur und steigt aus dem Bett. „Er möchte sich heute den Mustang ausleihen.“

      Verwirrt sehe ich ihm zu, wie er in seine Boxershort steigt und das Schlafzimmer verlässt. Kurz darauf kommt er wieder und hält eine Tüte Brötchen in der Hand.

      „Zeit zum Frühstücken!“

      Beim Frühstücken erfahre ich dann auch, warum Daniel den Mustang mitgenommen hat. Erik spricht sowieso die ganze Zeit nur von Daniel und ich erfahre zum ersten Mal, dass der gar nicht aus Osnabrück kommt. Er ist eigentlich aus Dortmund und dort auch bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr aufgewachsen. Dann hat seine Mutter sich scheiden lassen und ist zu einem Kerl nach Osnabrück gezogen und weil Daniels Vater ein Säufer ist, ging Daniel lieber mit ihr mit.

      Diesem neuen Typ seiner Mutter gehörte die Wohnung in diesem Haus. Aber schon zwei Jahre, nachdem sie hierhergezogen waren, starb der dann an Krebs und Daniels Mutter erbte diese Wohnung, da es keine Verwandten gab.

      Ein weiteres Jahr später traf Daniels Mutter wieder einen anderen Typen und zog bei dem in sein Haus in Bad Lear ein. Weil Daniel sich mit dem aber gar nicht verstand, wollte die Mutter ihn nicht mitnehmen und überließ ihm die Wohnung. Seitdem lebt Daniel allein hier und der Einzige, der ihn unterstützte, war Eriks Onkel Clemens. Eriks Augen leuchten, wenn er von seinem Onkel spricht. Er hat das noch nicht oft getan. Aber wenn er ihn erwähnt, merke ich, dass er ihm wirklich eine tiefe Zuneigung entgegengebracht hatte und ich finde es besonders bedrückend, dass Erik zu allem Überfluss auch noch ihn verlieren musste. Vielleicht wäre vieles anders gelaufen, wenn dieser Clemens diesen Unfall nicht gehabt hätte.

      „Daniels Mutter hat diesen Typ dann auch noch geheiratet und der bezahlt Daniel das Studium. Dafür darf er sich bei denen nie sehen lassen und die tun so, als gäbe es ihn gar nicht. Kranke Welt, oder?“, brummt Erik missmutig.

      „Dass die Mutter das zulässt? Ich kann das alles nicht verstehen“, kann ich dazu nur sagen und trinke den Rest von meinem Tee aus. „Wirklich eine kranke Welt.“

      „Und heute ist er mit Ellen und dem Mustang nach Dortmund aufgebrochen, um dort an einem Klassentreffen teilzunehmen. Und der Mustang ist dafür gedacht, richtig einen raushängen zu lassen.“

      Ich lache darüber und finde es von Erik total lieb, dass er sein Schätzchen das Wochenende über an Daniel abgibt. Aber mir ist klar, dass Daniel ihm sogar mehr bedeutet als Ellen und nicht weniger als ich. Und ich bin immer wieder froh, dass er Daniel zum Freund hat und dass Ellen ihm endlich eine Schwester sein will und kann, wie er es die ganzen Jahre schon gebraucht hätte. Er hat es so verdient!

      Nach dem Frühstücken gehen Erik und ich bummeln. Er möchte neue Turnschuhe kaufen und ein paar neue T-Shirts und ich habe auch noch einige Wünsche für meine Wohnung offen, die ich mir eventuell erfüllen will, wenn ich etwas Passendes finde. So vergeht der Tag wie im Flug und als wir am späten Nachmittag die Tüten und Tasche in der Wohnung abstellen, bin ich müde und erschöpft und Erik verdonnert mich zu einem Schongang auf das Sofa. Nicht mal die Tüten darf ich auspacken helfen. Das macht er alles allein und ich darf ihm nur zuschauen.

      Zum Essen bestellt er Pizza und Rotwein und ich beginne meine Hausaufgaben nachzuholen, die ich noch in den Ferien erledigen wollte. Nun sind die schon fast um.

      Wieder wird mir schnell klar, dass Erik ein Musterschüler ist, dem alles zufällt. Egal ob in Englisch, Mathe oder Physik, er weiß alles und kann alles. Nur Biologie liegt ihm nicht.

      Abends schauen wir uns DVDs an, die er am Nachmittag gekauft hatte. Was ich haben wollte, kaufte er mir und er wirkte an diesem Nachmittag wirklich zufrieden und glücklich, solange ich nicht murrte, wenn er mir etwas kaufen wollte. Und so haben wir nun einen Packen DVDs, der endloses Filmeanschauen garantiert.

      Aber ich schlafe bei dem ersten Film schon in Eriks Armen ein und er trägt mich irgendwann ins Bett. Ich lasse mich von ihm ausziehen, kuschele mich in seinen Arm und schlafe erschöpft weiter.

      Ich bleibe das ganze Wochenende von meiner Familie verschont. Marcel meldet sich am Sonntagabend als Einziger bei uns. Erik lässt mich sogar, ohne zu murren, mit ihm telefonieren - allerdings bei angeschaltetem Lautsprecher.

      Marcel