Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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was dir etwas antun könnte. Ich hoffe nur, er hat auch genug Herz und Köpfchen“, murrt er und ich weiß, er ist verletzt, weil ich mit jemand anderen zusammen bin und dem ganz offensichtlich all das entgegenbringe, was ich ihm nicht mehr entgegenbringen will.

      „Das hat er“, antworte ich nur. „Er wird auf mich achtgeben und wenn er mal nicht kann, dann habe ich ja noch meinen Freund, der auch immer für mich da ist und der mir einer der liebsten Menschen auf der Welt ist“, sage ich, weil ich das Gefühl habe, ihn aufbauen zu müssen.

      „Ach echt! So einen dummen Volltrottel gibt es in deinem Leben auch noch, der trotz allem immer noch für dich da ist?“, raunt Marcel und lacht leise auf.

      „Das hoffe ich zumindest!“

      Es ist erneut still in der Leitung und ich warte auf seine Antwort, die letztendlich ergeben an mein Ohr dringt: „Ja, den hast du wohl“, raunt er leise und ernst. „Und dieser Volltrottel muss jetzt Schluss machen. Die Jungs warten. Wir wollen noch Fußball schauen.“

      „Okay, Marcel! Und Danke!“

      „Für dich doch immer.“

      Dr. Bremer kann mir ein Erscheinen vor Gericht nicht ersparen. Aber Erik begleitet mich bis vor das Gebäude. Dort nimmt mich Marcel in Empfang, mit klarer Order von Erik, ihn anzurufen, wenn ich es irgendwie nicht schaffe. Er bleibt auf Abruf in der Nähe, soll aber möglichst nicht in Erscheinung treten, damit keiner weiß, wo und bei wem ich hinterher untertauche.

      Da ich immer noch nicht in Osnabrück gemeldet bin, sondern bei meinen Eltern, wird es nicht leicht sein mich ausfindig zu machen.

      Meine Mutter ist vollkommen außer sich, als sie von unseren Vorsichtsmaßnahmen erfährt. Sie wollte unbedingt den Neuen an meiner Seite kennenlernen und kann nicht verstehen, warum wir ihren Julian so verteufeln.

      Zu meinem Erstaunen erscheint Dr. Bremer vor dem Gerichtssaal. Erik hatte ihn wohl gebeten, mich im Auge zu behalten.

      In dem großen Saal sehe ich Julian dann das erste Mal wieder. Seine Haare sind ungeschnitten und glänzen in weichen Wellen in dem Licht der Neonröhren, und seine braunen Augen leuchten auf, als er mich sieht. Ich kann keine Wut oder Bösartigkeit in ihnen ausmachen. Er wirkt eher traurig und betroffen.

      Als ich die Fragen zu meinem Namen und meiner Anschrift beantworte, kann ich fast nur flüstern. Der Richter ist nachsichtig mit mir, weil er von Dr. Bremer, der mit ihm auch Golf spielt, wie ich kurz vorher erfuhr, über meinen Zustand unterrichtet wurde. Als ich gefragt werde, ob ich mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert bin, murmele ich zu Julian sehend: „Er ist mein Bruder.“

      Julian schließt einen Moment die Augen, als würde ich ihn schlagen.

      „Möchten Sie hier vor Gericht eine Aussage zum Tathergang machen?“

      „Nein, ich möchte das Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch nehmen“, antworte ich und spüre schon wieder diesen Kloß in meinem Hals, der mir die Luft abschnürt.

      Mein Blick fällt auf den Anwalt, der neben Julian sitzt und unverschämt grinst. Er ist ein dunkler Typ, mit schwarzen Haaren und dunklen Augen und einem unglaublich arroganten Gesichtsausdruck. Ihm würde ich die Worte auf Eriks und meinem Bild zutrauen.

      Ich werde entlassen und Dr. Bremer, der mich von der Tür des Gerichtssaals aus nicht aus den Augen ließ, legt seinen Arm um mich und begleitet mich hinaus. Alle anderen Zeugen können nach ihrer Aussage auch im Gerichtssaal Platz nehmen.

      Marcel ist der nächste, der aufgerufen wird und mich daher nur schnell in den Arm nehmen kann.

      „Bitte ändere deine Aussage nicht. Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert“, flüstere ich ihm ins Ohr, als ich diesen kurzen Moment noch einmal meine Arme um seine Taille schlingen kann und ihn festhalten darf. „Wir haben den Kampf sowieso verloren.“

      Er nickt und geht, von dem Gerichtsdiener begleitet. Hinter mir taucht Tim auf und ich sehe ihn verunsichert an.

      Aber er dreht sich weg und wirft sich auf einen der Stühle.

      Ich will zu ihm gehen, aber Dr. Bremer nimmt mich an den Schultern und schiebt mich aus dem Wartebereich.

      Tim sieht mir hinterher und seine dunklen Augen drücken eine seltsame Ruhe aus, die ich bei ihm schon mal gesehen habe. Da war er sich sicher, dass nichts uns wirklich je trennen kann.

      Ich fühle wieder meine Kräfte schwinden und der Griff von Dr. Bremer wird fester, als wir oben auf der Treppe an die frische Luft treten. Ich bin froh, dem riesigen Gebäude den Rücken kehren zu können und Erik ist mit ein paar Schritten bei mir und nimmt mich mit sorgenvollem Blick in sein Gewahrsam.

      „Sie hat das gut gemacht! Ganz tapfer, deine Kleine!“, sagt der Doktor und Erik bedankt sich bei ihm. Aber sie machen aus, dass er mich nach Hause bringt und Dr. Bremer mir dort noch einmal eine Beruhigungsspritze gibt, weil ich schon wieder zu zittern beginne.

      Vor meinem geistigen Auge sehe ich Julian vor mir und seinen Blick aus seinen braunen Augen. Er ist immer noch mein Bruder. Aber der Gedanke an ihn macht mich unruhig und schnürt mir die Luft ab. Meine Liebeskummerpython regt sich in meinen Eingeweiden und ich versuche sie niederzukämpfen. Scheinbar erwacht sie neuerdings auch bei psychischem Stress zum Leben.

      Erik bringt mich zu Daniels BMW, den er am Gericht parkte, obwohl wir nicht weit zu laufen gehabt hätten. Er wollte auf keinen Fall, dass wir zu Fuß wieder zurückgehen müssen und er wollte nicht mit seinem auffälligen Auto vorfahren.

      Manchmal hat er einen Weitblick, der mir wirklich vor Augen führt, dass er sechs Jahre älter ist als ich.

      Bei uns zu Hause erwarten uns Ellen und Daniel. Sie kommen uns schon an der Haustür entgegen und Ellen umarmt mich mit sorgenvollem Blick. „Komm! Endlich hast du es überstanden“, raunt sie und Erik und Daniel halten wieder ihr stummes Zwiegespräch. Wir haben noch nicht mal in meiner Wohnung die Tür hinter uns geschlossen, als es an der Tür klingelt und Dr. Bremer zu uns stößt.

      „So, Carolin! Ich möchte Ihnen noch einmal eine Beruhigungsspritze geben, damit Sie das Ganze besser verkraften. Erik wird dafür sorgen, dass Sie gleich ins Bett gehen. Morgen sieht die Welt dann wieder besser aus. Heute müssen Sie sich noch schonen.“

      Ich setze mich aufs Sofa, weil ich nicht weiß, ob ich schon beim Anblick der Spritze umkippe. Ich sehe nicht hin, als die Nadel sich in meine Haut bohrt.

      Dr. Bremer wünscht mir alles Gute. Da mein EKG gestern in Ordnung war, denkt er, dass ich mich nur genug schonen und alle weitere Aufregung vermeiden muss, um mich wieder in den Griff zu bekommen.

      Er lächelt über Erik, Ellen und Daniel, die sich um mich scharen, wie Glucken um ihr Küken und ich sehe, wie er Erik mit einem Blick zunickt, der mehr als nur dem eines netten Doktors entspricht. Aber wenn er Erik schon ewig kennt, wird ihm vielleicht nicht entgangen sein, wie er mich behütet. Und wer Erik kennt, weiß, dass das kein Wesenszug ist, der ihm schon immer lag.

      Ich fühle das Mittel wirken und versuche mich dagegen zu wehren. Ich möchte nicht schlafen. Noch weiß ich nicht, wie die Verhandlung ausgegangen ist und sofort packt mich die Unruhe, die das Mittel nur schwer niederdrücken kann. Aber es dauert nicht lange und auch der Gedanke an die Verhandlung ist nur noch ein Nebelschwaden in meinem Kopf. Ich lehne mich an Ellen, die neben mir sitzt und einfach nur meine Hand hält, während Erik und Daniel sich leise unterhaltend ans Küchenfenster stellen und eine Zigarette rauchen. Ich wüsste gerne, was die beiden besprechen. Aber mein Kopf würde es gar nicht mehr wahrnehmen, wenn sie es mir sagen würden.

      Ellen legt den Arm um mich und ich falle an ihre Schulter und drifte in einen dunklen Schlaf, der sogar meine Gedanken frisst. Tröstlich.

      Ich wache in meinem Bett auf und höre von irgendwoher Musik und Stimmen, die sich unterhalten. Langsam schiebe ich mich aus dem Bett, noch völlig benommen. Aber der Drang zur Toilette ist stärker als die Müdigkeit.

      Durch das Wohnzimmer strebe ich dem Badezimmer entgegen und da die Stimmen nicht aufhören zu raunen, wähne ich mich unentdeckt.

      Als