Sabine von der Wellen

Das Vermächtnis aus der Vergangenheit


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nicht, was los ist. Warum ist er so besorgt und reagiert so schnell auf mein Wachwerden? Hatte ich schlimm geträumt? Ich kann mich an nichts dergleichen erinnern.

      Die Decke wegschiebend, will ich aus dem Bett steigen, um mir etwas zum Trinken zu holen. Aber mir ist schwindelig und es fällt mir schwer, meinen Körper Befehle ausführen zu lassen.

      „Halt! Was machst du? Wo willst du hin?“, höre ich Erik rufen und spüre ihn neben mir aufspringen, während ich mich seufzend ins Kissen zurücksinken lasse.

      „Ich wollte mir etwas zu trinken holen“, raune ich mit belegter Stimme.

      „Ich gehe! Du bleibst im Bett. Verstanden?“ Erik deckt mich wieder zu und ich höre ihn das Zimmer verlassen. Als er wieder an das Bett kommt, öffne ich erneut die Augen und sehe seinen beunruhigten Blick. Langsam setze ich mich auf und wundere mich, warum ich mich so elend fühle.

      „Wie geht es dir denn jetzt? Du hast uns alle echt erschreckt! Jetzt ist erst mal Schluss mit allem. Und wenn ich dich hier einsperren muss“, brummt Erik aufgebracht und reicht mir ein Glas Orangensaft.

      „Was?“, hauche ich, während sich in meinem Kopf die Erinnerungen hochschieben.

      Marcel … der Parkplatz und Ellens Schrei nach Erik.

      „Oh Mann! Tut mir leid“, kann ich nur stammeln und weiß, das muss für Erik, und auch für alle anderen, schlimm gewesen sein.

      Ich trinke mit zittrigen Händen das Glas leer und Erik nimmt es mir ab, bevor es mir wegfallen kann.

      Schnell lege ich mich wieder zurück, weil mein ganzer Körper zittrig und unruhig wirkt. Ein schreckliches Gefühl.

      Eriks Hand streicht mir die Haare aus dem Gesicht. „Dr. Bremer hat gesagt, das war ein Nervenzusammenbruch und du musst dich jetzt schonen und darfst dich nicht mehr aufregen. Ich werde dafür sorgen. Und wenn ich dich dafür ans Bett binden muss“, brummt er und ich sehe in seinen Augen die unbeschreibliche Angst und Verwirrung, die seine harten Worte Lügen strafen. Mein armer Erik. So groß und stark und so schnell überfordert.

      „Es geht mir wieder gut“, sage ich und lasse mich von ihm in die Arme ziehen.

      „Das glaube ich erst, wenn Dr. Bremer das auch sagt. Und jetzt schlaf wieder. Es ist schon spät. Morgen früh sehen wir weiter.“ Seine Lippen legen sich kurz auf meine und ich lasse mich wieder in den Schlaf sinken, die aufkeimenden Gedanken ignorierend, die sich in mir aufbauen wollen. Nur der eine Satz will sich nicht ignorieren lassen: Hilf deinem Bruder und er wird seiner Schwester klarmachen, bei wem ihr Platz ist.

      Als ich das nächste Mal wach werde, liege ich allein im Bett und aus dem Wohnzimmer höre ich Stimmen.

      Ich sehe auf den Wecker. Es ist viertel nach Acht am Morgen.

      Gut, dass ich nicht zur Schule muss.

      Langsam stehe ich auf und halte mich kurz am Bett fest, weil mir schwindelig wird. Aber dann hört das Zimmer auf, sich zu drehen und ich sehe an mir herunter. Ich trage meinen Rüschenpyjama und frage mich, ob ich ihn mir selbst angezogen hatte. Erinnern kann ich mich daran nicht.

      Im Wohnzimmer ist niemand und ich gehe weiter zur Küche, aus der mir Kaffeegeruch entgegenweht und aus der ich die Stimmen höre. Als ich im Türrahmen erscheine, sehe ich Erik aufspringen. „Schatz, du sollst doch nicht aufstehen!“

      Am Tisch sitzt ein älterer Mann mit grauen Haaren und einer Brille mit Goldrand, die seine blauen Augen, in dem schon etwas faltigen Gesicht, vergrößert.

      „Ah, unsere Patientin!“, sagt er lächelnd und stellt seine Kaffeetasse auf den Tisch zurück, um mir die Hand zu geben. „Ich bin Dr. Bremer. Ich bin der Hausarzt der Zeiss-Clarkson und kenne Erik und Ellen schon seit klein auf. Wie geht es Ihnen? Erik war so nett, mir ein wenig von den Umständen zu berichten, die gestern wohl ihren Tribut forderten. Fräulein Maddisheim, setzen Sie sich zu uns. Ich denke, wir müssen uns mal unterhalten.“

      Erik zieht mich am Arm zu einem der Stühle und ich setze mich. Ich bin über den Umstand verwirrt, dass ein Arzt in meiner Küche sitzt und mich behandeln will. Mein Blick läuft beunruhigt in Eriks Gesicht. Doch der nickt nur mit ernstem Gesicht und bleibt neben mir stehen, eine Hand schwer auf meiner Schulter gestützt, als müsse er mich fixieren.

      „Soll ich rausgehen?“, fragt er den Arzt, der fragend auf mich verweist. Ich schüttele den Kopf und Erik lässt mich los und setzt sich.

      „Möchtest du einen Tee?“, fragt er und ich schüttele erneut den Kopf. Ich will das hier schnell hinter mich bringen.

      „Darf ich Carolin zu Ihnen sagen?“, fragt Dr. Bremer und lächelt freundlich.

      „Sicher!“, raune ich leise.

      „Ich weiß nicht, wie weit Sie sich an gestern erinnern. Sie hatten so etwas wie einen Nervenzusammenbruch. Erik sagt, Sie waren sogar kurz ohnmächtig, was schon einiges heißen soll. Ihr Körper ist akut in den Streik getreten. Ich habe Ihnen eine Beruhigungsspritze gegeben, um Sie etwas zur Ruhe kommen zu lassen.

      Der menschliche Körper reagiert mit so einem Nervenzusammenbruch auf Stress und psychische Belastung, mit der er nicht mehr fertig wird. Er kann sich sogar komplett ausschalten. Mehr oder weniger war das gestern der Fall. Ich möchte, dass Sie in den nächsten Tagen noch zu einem EKG zu mir kommen und wir noch einige Tests machen. Bis dahin verordne ich Ihnen Ruhe und keinerlei Stress.“ Der Doktor sieht Erik an, als müsse er ihm das extra noch mal einbläuen.

      „Okay, wir haben Ferien“, sage ich nachdenklich und frage zögernd: „Aber was ist mit meinem Job?“

      „Sie sollten diese Woche gar nichts machen. Ich werde Ihnen eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellen. Aber mit Ihrem Gerichtstermin ist das etwas anderes. Sie sind als Opfer und Zeuge vorgeladen und Ihr Bruder ist der Angeklagte. Dass dies auch ein Aspekt ist, der Sie dahin brachte, wo Sie gesundheitlich jetzt sind, sollte jedem einleuchten. Aber ich denke, um ihre Aussage kommen Sie nicht herum.“

      Erik braust auf: „Das geht nicht! Das steht sie in ihrem Zustand gar nicht durch!“

      „Leider ist das Gericht schwer zu überzeugen, dass jemand nicht vernehmungsfähig ist. Aber ich werde sehen, was sich machen lässt. Wollen Sie denn gegen ihren Bruder aussagen oder werden Sie ihr Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch nehmen?“

      Das ist das, worüber Marcel mich mal aufgeklärt hatte und ich weiß, dass ich gegen Tim, und Julian mit seinem neuen Anwalt, keine Chance habe. Ich nicke nur unsicher und bei dem bloßen Gedanken an die Verhandlung bricht mir schon der Schweiß aus.

      „Wissen Sie, ich werde mir Ihren Fall einmal anschauen. Ich kenne ein paar Leute bei Gericht und als ihr Arzt wird man mir auch Auskunft geben. Auf alle Fälle sollten Sie nicht der ganzen Gerichtsverhandlung beiwohnen und auch nicht stundenlang auf Ihre Aussage warten müssen. Haben Sie die Vorladung hier?“

      Erik steht auf und drückt seine Hand auf meine Schulter, damit ich ja nicht auf den Gedanken komme aufzustehen. „Wo liegt sie? Ich hole sie dir. Unser Dr. Bremer ist gewöhnt sich in allen Belangen um uns zu kümmern“, erklärt er etwas widerstrebend.

      „Meine Papiere liegen alle in der untersten Schublade im Sideboard. Da müsste das auch bei sein.“

      Erik geht und ich sehe den Doktor unsicher an. Dann beuge ich mich dicht zu ihm herüber und frage leise, aber eindringlich: „Was muss ich tun, damit es schnell wieder besser wird?“

      Er lächelt wieder. „Sich vor allem keinen Stress machen. Treten sie mal ein wenig kürzer. Besteht denn Hoffnung, dass Sie nach der Verhandlung wieder ein normales Verhältnis zu ihrer Familie aufbauen können? Sie sind zu jung, um sich allein durchs Leben zu schlagen.“

      „Das braucht sie auch nicht! Sie ist nicht allein. Sie hat Ellen und mich!“, höre ich Erik energisch ausrufen, als er mit einem Zettel in der Hand wieder in die Küche kommt. Er gibt ihn an den Doktor weiter, der einen Blick darauf wirft.

      „Alles klar. Ich dachte mir das schon. Das Gericht hier in Osnabrück ist