verwundert auf den kleinen Punkt im Nichts: »Und wie kam sie dann so hoch in den Norden, wenn ich mal fragen darf ?«
»Über die Seidenstraße«, zeichnete ich mit dem Finger die Strecke nach. »Bis hier, Samarkand! Dort ließ sich Temudschin Badma mit seiner Frau Ojuna und Familie nieder. Vorher zogen sie mit ihrer Jurte durch die Steppe Asiens. Sie waren Abkömmlinge eines alten, glorreichen Reitervolkes, den Skythen. Jedenfalls ließen sie sich mit ihren kleinen, mongolischen Pferden und den hässlichen zweihöckrigen Kamelen in der Nähe der alten Oasenstadt nieder, weil dein Urgroßvater zu der Erkenntnis kam, vor Ort einen besseren Preis für seine Tiere und ihre Erzeugnisse zu erzielen, anstatt sich den Kaufpreis durch Zwischenhändler schmälern zu lassen. Er trieb Handel mit kleinen Pferden, Kamelen und deren Wolle.«
»Und wie kam deine Mutter so hoch in den Norden?«, bohrte Agnir wieder nach.
»Eigentlich durch eine Tragödie. Wie vieles im Leben, muss erst einmal etwas Altes vergehen, damit etwas Neues daraus erwachsen kann. Nun, mir scheint, ich sollte das Pferd nicht von hinten aufzäumen, sondern am Kopf beginnen. Komm, Agnir, gehen wir zum kleinen See, dort ist es wesentlich angenehmer. Denn alles begann unter dem Nachthimmel...«
Mein Vater Skryrmir Thoraldson war der Stammesfürst des sagenhaften Geschlechts der Haraldinger. Sagenhaft insofern, weil Urahn Harald des Nachts den Sternenhimmel beobachtete und etwas Ungewöhnliches wahrnahm, welches sein ganzes weiteres Leben verändern sollte. Denn bevor ich mit meinem Vater beginne, sollte ich zuerst von Harald und dem Entstehen unseres Geschlechts erzählen. Besagter Harald folgte einem Stern, der auf die Erde stürzte und die Umgebung mit Lärm, Feuer und einem Erdbeben bedeckte. Er wollte diesen gefallenen Stern unbedingt in seinen Besitz bringen, weil ihm in der Nacht zuvor Odin im Traum erschienen war. So wie wir, verfügte unser Stammesvater zeitweise über das zweite Gesicht. Gottvater Odin sagte ihm in dieser Vision voraus, er hätte ein Geschenk für Harald. Er solle diese göttliche Gabe an sich nehmen, denn sie würde fremdartiges Metall enthalten. Daraus solle sich Harald ein mächtiges Schwert schmieden. Diese Klinge würde ihn unbesiegbar machen und zu Ruhm und Erfolg führen. Seltene Metalle waren von jeher heiß begehrt. Nicht nur bei den Menschen, sondern genauso bei Kreaturen, die den wahren Wert edlen Metalls schon mit einem Blick erkennen. Unter anderem gab es da einen roten Drachen, der es ebenfalls auf den gefallenen Stern abgesehen hatte. Doch Harald wollte Odins Geschenk nicht mit einem Schätze hortenden Drachen teilen, geschweige denn, es sich von ihm streitig machen lassen. Und schon gar nicht von diesem gierigen Røddreki, so der Name des Drachen. Und es kam, wie es kommen musste. Harald und Røddreki trafen zur gleichen Zeit beim Krater des Meteoriten ein. Obwohl Harald in Deckung ging und sich vor dem Drachen verbarg, erschnüffelte dieser ihn in der kalten Nachtluft: »Ah! Ich rieche Menschenfleisch! Wo bist du kleines Menschlein? Ich werde deine dünnen Knochen als Zahnstocher benutzen...«
»...Moment mal!«, warf Agnir ein. »Der Drache konnte sprechen?«
»Natürlich! Oder glaubst du, das wären die Meriten von diesem Tolkien? Schließlich ist deine Tante Cassandra ebenfalls des Sprechens mächtig. Drachen sind genauso wie wir, vernunftbegabte Wesen. Unterbrich mich nicht ständig, sonst komme ich ja nie zu Potte!«
»… Hier bin ich!«, rief Harald.
Und irgendwie war das mal wieder typisch für Odin. Zwar sagte er Harald mit dem fallenden Stern einen sagenhaften Schatz voraus, jedoch nicht den auf ihn lauernden Drachen. Da Harald eher als bedächtiger Mann galt, ging er zum Glück niemals ohne Schild und Speer aus dem Haus. Unterwegs hätte ihm schließlich ein Elch begegnen können, ein nicht zu verachtender Snack. Im Norden ist es sehr kalt, und dementsprechend muss man für ausreichende Energie in Form von Nahrung sorgen.
»Zeig dich!«, knurrte Røddreki. »Meine Augen sind nicht mehr die besten. Ich will sehen, mit wem ich mir nachher die Zähne reinige.«
»Nichts da! Ich bin doch nicht blöd!«, brachte Harald zu Gehör und schlich um den mächtigen Felsblock, hinter dem er sich versteckte. Der Drache dachte wohl, er könne Harald überlisten, indem er von ihm ein Lebenszeichen verlangte, um zu erfahren, wo sich dieser verbarg. Als der Drache hinter den Felsen spähte, war Harald längst auf der anderen Seite.
»Hey, ich will dir nichts zuleide tun, Drache. Mein Begehr ist einzig und allein, dieser gefallene Stern!«, sprach Harald. »Wenn du ihn mir überlässt, gehe ich wieder fort und störe dich nicht weiter, edler Drache!«
»Harrr, harrr, harrr!«, lachte der Drache heiser. »Als wärst du in der Position, mir einen Handel vorzuschlagen! Du hast rein gar nichts, das du mir als Gegenleistung anbieten könntest!«
»Nicht Harrr, harrr, harrr, sondern Harald, merk dir das! Und ob! Ich lasse dir dein Leben und obendrein darfst du deinen Schatz behalten! Na, wenn das keine Gegenleistung ist, weiß ich auch nicht weiter«, entgegnete der blonde Hüne mutig und bewarf den lauernden Drachen mit einem Schneeball. Er traf Røddreki direkt zwischen die Augen, was diesen fürchterlich gegen den dreisten Menschen aufbrachte.
Selbst wenn der Drache ein vernunftbegabtes Wesen sein sollte, hieß das noch lange nicht, dass er zugleich vernünftig handelte. Immerhin hätte er sich Haralds Angebot mal ordentlich durch den Kopf gehen lassen sollen. Stattdessen reagierte er aggressiv und arrogant: »Du willst mich töten? Womit denn? Etwa mit einem lächerlichen Klumpen Eis?«, fauchte Røddreki, stampfte dabei auf und spie eine gewaltige Fontäne seines höllisch heißen Drachenfeuers. Damit verwandelte er die ihm zugewandte Seite des Felsens in eine rotglühende, zähflüssige Masse - die wie ein Käse in der Sonne - träge dahinschmolz. Der Schnee zischte und verdampfte. Zurück blieb das nackte, verbrannte Erdreich.
Das kam meinem Ahnen gerade zupass, denn damit vernichtete der Drache Haralds Fußspuren im Schnee, die ihn ansonsten glatt verraten hätten. Zudem beabsichtigte er, den Drachen so häufig wie möglich zum Feuerspucken zu nötigen. Und zwar so lange, bis sein Drachenfeuer völlig erschöpft war. Diese Riesenreptilien besitzen nämlich auch nur ein begrenztes Maß an Feuer, das ihnen zeitweise zur Verfügung steht. Wohlgemerkt, das war an und für sich ein guter Plan. Überdies entging Urvater Harald, dass der Drache zwei Flügel sein Eigen nannte. Da er diesen aufdringlichen Menschen nicht sehen konnte, erhob sich Røddreki in die Lüfte, um ihm endgültig den Garaus zu machen. Als Harald einen heißen Windhauch fühlte, riss er sofort den Schild in die Höhe, der ihn vor dem Schlimmsten bewahrte. Trotzdem musste er sich von seinem Schild schleunigst trennen, da dieser lichterloh brannte und sein überhitzter Griff Haralds Handfläche mit Brandblasen übersäte. Geistesgegenwärtig stürzte sich der kühne Krieger kopfüber in eine hohe Schneeverwehung, die ihm genügend Deckung bot, um sich vor den Augen des Drachen im Verborgenen zu halten.
Das schmeckte Røddreki überhaupt nicht. »Ach so, Menschlein, du willst also mit mir Verstecken spielen? Gut, spielen wir Verstecken. Ich habe im Moment sowieso nichts anderes zu tun!«, knirschte der Drache und spie erneut sein heißes Feuer. Er rechnete fest damit, Harald aufgespürt zu haben, stattdessen ertönte: »Suchst du was?« hinter dem Drachen, der sich sogleich verwundert und zum Angriff bereit, herumdrehte. Siegessicher riss das Untier den Rachen auf, um dabei allerdings spontan festzustellen, dass dieser kleine Mensch, namens Harald, ihm den Speer genau dort hineingestoßen hatte. Als er sich seines Dilemmas bewusst wurde, rüttelte und schüttelte er sich wie von Sinnen, doch machte er es damit nur noch viel schlimmer. Er versuchte meinen Ahn gegen den Felsen zu schleudern, blieb aber selbst mit dem Speer dran hängen und bohrte die Waffe sogleich viel tiefer in seinen Schlund. Und Harald beabsichtigte nicht, den Spieß umzudrehen, oder auch nur ein Quäntchen nachzugeben. Nun hieß es: Er oder ich.
Das gesamte Umsichschlagen des Drachen nützte nichts. Harald ließ sich nicht einschüchtern und wirbelte stattdessen am Ende des Speers mit jeder Bewegung des Drachens herum, weil er nicht loslassen wollte. Einen Moment der Unachtsamkeit hätte sein eigenes Ende bedeutet. Das Blut des Drachen löschte dessen innerliche Flamme und hinderte dieses riesige Wesen daran, weiterhin Feuer zu spucken. Gurgelnd musste Røddreki sein eigenes Blut schlucken, bis er daran zu Grunde ging.
Ramponiert und völlig außer Atem – der Drache hatte Harald mit seinen messerscharfen Klauen eine üble Wunde am Oberarm beigebracht - ließ sich der Drachentöter wider Willen, in den blutgetränkten, dampfenden Schnee fallen. Als das Drachenblut